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Messsysteme für die Pflege und Betreuung von Demenzpatient*innen

Was kann Medizintechnik bei Menschen mit einer kognitiven Störung/Demenz bzw. für bereits Betroffene als auch Mitmenschen im Umfeld der Erkrankten leisten? Diese Frage ist auch für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von Interesse. Es fördert das Projekt „PYRAMID: Modulare Messsysteme für die individuelle Therapie und Betreuung von Demenzpatienten“ durch die BMBF-Fördermaßnahme „Pflegeinnovationen für Menschen mit Demenz“. Der Technikeinsatz in der Pflege und Betreuung von Menschen mit kognitiven Störungen und Demenz bedarf noch einer gesellschaftspolitischen Debatte. Ebenfalls bedarf es noch einer Abklärung auch mit medizinischen und pflegerischen Einrichtungen sowie der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, wenn die technischen Systeme von der Pflegekasse bezahlt werden sollen.

Ich begrüße es sehr, dass mittlerweile an sehr vielen Stellen über die Alterung unserer Gesellschaft gesprochen wird. Wir müssen unsere Altersbilder revidieren, sowohl um die Lebensqualität der vielen gesunden, sehr lange sehr fitten und leistungsfähigen älteren Menschen zu gewährleisten als auch um die Lebensqualität der beispielsweise an vielfältigen Erscheinungsformen von kognitiven Störungen und an Demenz leidenden Menschen sicherzustellen. Wir müssen uns vorbereiten, müssen vieles neu gestalten, so auch der Demenz-Report.

PYRAMID: Modulare Messsysteme für die individuelle Therapie und Betreuung von Demenzpatienten

Im Projekt PYRAMID soll während der Projektlaufzeit vom 1. April 2016 bis zum 31. März 2019 ein miniaturisiertes, modular erweiterbares Mess- und Beratungssystem entwickelt werden. Dazu werden die notwendigen Gesundheits- und Pflegedaten der Demenzpatient*innen automatisiert mit unauffälligen, kaum wahrnehmbaren Sensoren gemessen. Auf Basis dieser erhobenen Daten sollen für die Patient*innen individualisierte Therapie- und Betreuungsmöglichkeiten umgesetzt werden. Diese Daten werden unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Reglementierungen und ethischer Fragen in ein Dokumentationssystem eingetragen und für alle am Pflegeprozess Beteiligten z. B. per Tablet-PC zugänglich sein. Ziel ist es, Übertragungs- bzw. Übermittlungsfehler in der Versorgungssituation von Demenzpatient*innen zu reduzieren und damit die Patient*innensicherheit zu verbessern. Das System wird in umfangreichen Nutzer*innentests evaluiert, um sowohl bei den an Demenz Erkrankten als auch bei den Pflegekräften und Angehörigen eine hohe Akzeptanz zu erreichen.

Expert*innenworkshop zu „Bedürfnissen und Bedarfen“

Zum Projekt PYRAMID fand am 7. Dezember 2016 ein Expert*innenworkshop im Fraunhofer Institut IZM in Berlin statt. Unter dem Blickwinkel „Bedürfnisse und Bedarf“ wurden aus Sicht von Patient*innen, Angehörigen, medizinischem und pflegerischem Fachpersonal, Hard- und Softwareentwickler*innen, Produkthersteller*innen sowie allen anderen Interessengruppen Denkanstöße für eine intersektorale Zusammenarbeit debattiert. Bekannt ist, dass kognitive Störungen und Demenz eine Erkrankung mit Symptomen und Auswirkungen auf das soziale Verhalten und die Interaktion im Alltag sowie die zwischenmenschliche Kommunikation ist. Konventionell finden dann medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapieformen sowie eine Alltagsbegleitung der Betroffenen statt, wobei versucht wird, die Lebensqualität von Erkrankten und Bezugspersonen im Alltag zu erhalten. Das ist keineswegs einfach. Es stellt sich die Frage nach subsidiären Therapieformen: Können Medizintechnik und technische Unterstützungsmittel hier nützen? Wo sind auch die Grenzen der Technik bei der Unterstützung?

Einige Erkenntnisse aus dem Workshop:

Die Lebenssituation von Menschen mit Demenz gehöre in die gesellschaftliche Mitte, so Prof. Dr. Winfried Teschauer von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Noch liege, wie bei psychischen Erkrankungen häufig, eine Stigmatisierung vor. Leider seien Hausärzte häufig noch nicht ausreichend geschult, um rechtzeitig Diagnostiken vorzunehmen. Er geht von einer hohen Dunkelziffer von an Demenz erkrankten Menschen aus, die geeignete Medikamente nicht frühzeitig genug verordnet bekommen. Ein großes Thema sei auch die Schmerzerfassung bei dementiellen Patient*innen, da diese häufig nur durch Verhaltensauffälligkeiten darauf aufmerksam machen könnten. Gesellschaftlich zu wenig Berücksichtigung finden immer noch Überlastungssyndrome im häuslichen Umfeld.

Auf die geriatrietypische Multimorbidität ging Prof. Dr. Ursula Müller-Werdan ein. Sie ist Lehrstuhlinhaberin mit dem Schwerpunkt Altersmedizin an der Charité - Universitätsmedizin Berlin und Leiterin des Evangelischen Geriatriezentrums Berlin (EGZB), einer Einrichtung der universitären Geriatrie der Charité in Trägerschaft des Evangelischen Johannesstifts. Wichtig sei, sich kognitiv fit zu halten, aktiv zu bleiben. Tanzen sei eine Methode, beides miteinander zu verbinden, also eine Möglichkeit des „dual tasking“. Die auf dem Markt befindlichen und vielen genutzten Möglichkeiten der Fitness-Tracker und Fitness-Armbänder finden in diesem Zusammenhang hingegen weniger Unterstützung.

Prof. Dr. Andreas Simm, Leiter des Interdisziplinären Zentrum für Altern Halle (IZAH) am Universitätsklinikum Halle, verweist darauf, dass es Risikofaktoren für Demenzerkrankungen gibt. Von vielen werde die Genetik über- und der Lebensstil unterschätzt. Die meisten an Demenz Erkrankten hätten auch Probleme mit ihren Gefäßsystemen. Noch gäbe es keine wirklich erfolgreichen Biomarker des Alterns. Im Früherkrankungsstadium träten häufig noch keine Symptome auf, sodass die Diagnostik bei Demenz erst mit dem Auftreten von Symptomen beginne.

Auch Frau Bettina Grundmann-Horst, Leiterin des Ambulanten Betreuungszentrums ABZ Sozialstation, erklärte unter Bezug auf ihre Pflegepraxis, dass sich momentan aus einem diagnostischen Marker noch keine gesicherte Prognose ableiten ließe. Ein einmaliges Screening reiche nicht aus, denn die diagnostischen Verfahren belaufen sich auf mehrmonatige Prozesse.

Was ist ein „normaler“ Altersprozess? Was macht einen neuro-degenerativen Alterungsprozess aus? Natürlich sei es von Interesse, Gesundheit messbar zu machen, festzustellen, ob ein Mensch biologisch älter oder jünger ist. Das Problem sei, dass Kliniker*innen nur die kranken Menschen sehen würden. Von herausragender Bedeutung sei die Prävention. Derzeit gibt es kein Mittel, Demenz zu heilen. Möglich sei es lediglich, das Fortschreiten der Krankheit zu verzögern. Auch das Projekt PYRAMID befinde sich noch in der prädiagnostischen Phase.

Welche Verbesserungen treten durch die Pflegestärkungsgesetze I, II, III für an Demenz Erkrankte, ihren Angehörigen und für die professionell Pflegenden ein?

Der Bitte nach Informationen zu den Pflegestärkungsgesetzen (PSG) bin ich gerne nachgekommen, denn es finden zahlreiche Leistungsverbesserungen statt:

  • Mit den Pflegestärkungsgesetzen haben wir viel für die Pflegeempfänger*innen und deren Angehörigen verbessert, mit der Einführung des Pflegeunterstützungsgeldes bspw., welches durch das PSG I finanziert wird, erleichtern wir den Angehörigen die Vereinbarkeit von Familie, Pflege und beruflicher Tätigkeit.
  • Mit der Einführung des PSG II haben wir erhebliche Verbesserungen, auch für besonders pflegebedürftige Menschen, auf den Weg gebracht. Wir haben erstmals erreicht, dass alle Pflegebedürftigen gleichberechtigten Zugang zur Pflegeversicherung erhalten, unabhängig davon, ob sie sogenannte körperlich bedingte oder psychisch/geistig bedingte Einschränkungen haben. Das betrifft insbesondere Demenzerkrankte Menschen – dies ist ein Meilenstein in der Pflegeversicherung.
  • Neben der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes, des neuen Begutachtungssystems und der damit in Zusammenhang stehenden Einführung der Pflegegrade werden die Leistungen erweitert. Pflegerische Betreuungsmaßnahmen werden zur Bewältigung und Gestaltung des alltäglichen Lebens im häuslichen Umfeld jetzt als Regelleistung der Pflegeversicherung zusätzlich zu körperbezogenen Pflegemaßnahmen und Hilfen bei der Haushaltsführung eingeführt.
  • Das neue Begutachtungssystem berücksichtigt die an Demenz erkrankten Menschen deutlich besser als zuvor. Für diese Gruppe wird ein deutlicher Leistungsgewinn, im Vergleich zur aktuellen Versorgung der Pflegebedürftigen im Rahmen der Eingruppierung in Pflegestufen, zu erwarten sein.
  • Natürlich sind wir damit nicht am Ende unserer Bemühungen. Wenn wir mehr Leistungen wollen, müssen wir natürlich auch über die Finanzierung nachdenken. Aufgrund des demographischen Wandels müssen wir mit einer kontinuierlichen Zunahme von PflegeempfängerInnen rechnen. Dies wiederum bedeutet, dass das System Pflegeversicherung noch mehr Geld in Anspruch nehmen wird. Dementsprechend benötigen wir zukünftig eine bessere Finanzierung der Pflegeversicherung. Sonst kann kein weiterer Leistungsausbau stattfinden. Aufgrund dessen ist es das Anliegen der SPD eine Bürgerversicherung einzuführen, die alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen berücksichtigt. Denn es ist uns ein immenses Anliegen, dass wirklich alle Menschen unserer Gesellschaft gerecht und angemessen versorgt werden können.

Herausforderungen bei der Entwicklung von digitalen und sensorgestützten Hilfsmittel für an Demenz erkrankte Menschen

Mittlerweile existieren eine Vielzahl von sensorgestützten Hilfsmitteln und Ortungssystemen für an Demenz erkrankte Menschen. Diese haben sich zumeist aus dem Ansatz AAL - Ambient Assisted Living (AAL, auf Deutsch Altersgerechte Assistenzsysteme für ein selbstbestimmtes Leben, umgebungsunterstütztes Leben - entwickelt und sind nun als „Smart Home“-Produkte auf dem Markt. Besonders zu erwähnen ist die breite Palette von „Abschaltprodukten“ (Herd, Wasser etc.) zur Lösung von Problemen in den Wohnungen an Demenz erkrankter Menschen. Bei diesem Ansatz steht nicht in erster Linie der Einsatz und die Entwicklung von Produkten ausschließlich und speziell für Demenzerkrankte im Vordergrund, sondern die Entwicklung von digitalen und sensorgestützten Hilfsmitteln für einen „breiten“ Anwendungsbereich: Künftige Pflegeempfänger*innen weisen zunehmend nicht nur ein Krankheitsbild auf, sondern viele, da mit zunehmendem Alter die Anzahl der Erkrankungen steigt (Multimorbidität). Verschiedene Hilfsmittel können auch bei verschiedenen Pflegephänomenen und/oder Krankheitsbildern eingesetzt werden. So können z.B. Sensormatten sowohl zur Prävention von Dekubitus als auch als Instrument im Bereich der Sturzprävention genutzt werden. Erst aus der Pflegeanamnese ergibt sich häufig der konkrete Bedarf.

Ein aktuelles Problem ist, dass derzeit zwar finanzielle Mittel für die Entwicklung solcher Produkte bereitgestellt werden, nicht aber für die Evaluation/Überprüfung der entwickelten Techniklösungen. Die häufig kleinen mittelständischen Unternehmen, die an der Entwicklung beteiligt sind, haben das Kapital auch nicht. Diese Evaluationsprojekte sind aber bei der Anerkennung von Hilfsmitteln von entscheidender Bedeutung. Das zeigt auch das von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft derzeit durchgeführte Projekt VODIMO - Validierung und Optimierung des individuellen Nutzens von Ortungssystemen bei Demenz. Es geht um die Bewertung des praktischen Nutzens von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz in der häuslichen Betreuung. Ziel ist sowohl die Erhaltung der individuellen Freiheit bei gleichzeitigem Schutz der Betroffenen, also auch die Begleitung und Entlastung der pflegenden Angehörigen.

Meine Haltung zur Entwicklung und zum Einsatz digitaler Hilfsmittel

Um den an Demenz erkrankten Pflegeempfänger*innen Sicherheit zu geben, ihnen die Mobilität nicht zu nehmen und ihnen die so wichtigen Gewohnheiten zu ermöglichen, unterstütze ich den Einsatz digitaler Hilfsmittel, wie beispielsweise Ortungsgeräte. Dabei muss gelten: „So viel wie nötig - so wenig wie möglich“. Ich finde, Technik darf keineswegs den Ersatz für menschliche Nähe und Zuwendung sein. Jeglicher Einsatz muss vorrangig der Förderung, dem Erhalt und der Unterstützung der Ressourcen der jeweiligen Pflegeempfänger*innen dienen und darüber hinaus deren Sicherheit unterstützen. Beachtet werden muss immer die ethische Komponente.

Ich sehe große Chancen und ebenso einen Bedarf für solche Hilfsmittel, auch wenn schon eine breite Palette von digitalen Hilfsmitteln auf dem Markt ist – bleibt hierbei z.T. die klinische Prüfung und Evaluation dieser Hilfsmittel abzuwarten.

  • Welche Hilfsmittel explizit und individuell einen tatsächlichen Nutzen für die Betroffenen haben, wissen wir nicht.
  • Und selbstverständlich sind sensorgestützte Hilfsmittel eine sinnvolle Lösung, wie beispielsweise Sensormatten, die vor das Bett gelegt werden können, um festzustellen, ob Pflegeempfänger*innen aus dem Bett gefallen sind oder aber Alarmsysteme, die anzeigen, wenn jemand das Haus verlässt - es gibt eine Vielzahl, aber: es gibt auch Alternativen.
  • Das Wichtigste ist diese Dinge „Teilnehmerorientiert“ einzusetzen – die heutige alte Generation ist mit dieser Technik nicht aufgewachsen – in 30 Jahren sind solche Geräte Teil der Biographie von Menschen.