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Reichstagsführung am Tag der offenen Gesellschaft

Der 17. Juni ist für Deutschland ein historisch und politisch bedeutungsschwangeres Datum. Am 17. Juni 1953 kam es in der DDR zu den ersten öffentlichen Massenprotesten seit Kriegsende. Etwa eine Millionen Menschen in mehr als 700 Orten legten an diesem Tag ihre Arbeit nieder und gingen für eine bessere Lebenssituation, Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und die deutsche Einheit auf die Straße. Mit Hilfe sowjetischer Panzer und Truppen wurden die Aufstände bereits am Nachmittag blutig niedergeschlagen. Über 50 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt und viele weitere zu oft mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Noch im gleichen Jahr erklärte die Bundesrepublik den 17. Juni zum nationalen Feiertag und zum „Tag der deutschen Einheit“, bis es 1990 zur tatsächlichen deutschen Einheit kommt und der 3. Oktober zu diesem Tag erklärt wird.

Heute ist der 17. Juni zwar kein Feiertag mehr, aber noch immer ein Gedenktag. In diesem Jahr fand der „Tag der offenen Gesellschaft“ erstmals bundesweit an diesem Datum statt. Er steht für ein Miteinander, für Zusammenhalt, für Begegnung und für Gleichberechtigung auf allen Ebenen. Und an diesem Tag lud ich erneut zu einer Kunst- und Architekturführung durch das Reichstagsgebäude des Deutschen Bundestages ein, an der auch zahlreiche Tempelhof-Schöneberger*innen teilnahmen. Denn so offen die Gesellschaft ist, so offen soll auch der Deutsche Bundestag sein.

„Phönix aus der Asche“

Bleiben wir bei der Geschichte: Alfred Dobbert war Abgeordneter der SPD im Reichstag von 1930 bis 1933. Von März bis April 1933 wurde er im Gewerkschaftshaus Meißen eingesperrt und anschließend unter Wohnungshaft gestellt. Ein im Herbst des darauf folgenden Jahres eingeleitetes Untersuchungsverfahren der Staatsanwaltschaft Dresden wurde später eingestellt. Vier Jahre später wurde Dobbert zur Wehrmacht eingezogen. Wilhelm Münzenberg war Schuhfabrikarbeiter und von 1924 bis 1933 als Abgeordneter der KPD im Reichstag. Nach der Machtübernahme Hitlers floh er zunächst in das Saargebiet und anschließend nach Frankreich. Im Herbst 1933 aus dem Deutschen Reich ausgebürgert wurde er nach Kriegsausbruch von den Franzosen in Paris und später in Lyon interniert. Ein Jahr nach Kriegsbeginn wurde das Lager evakuiert. Auf dem anschließenden Marsch in das unbesetzte Frankreich, setzte sich Münzenberg gemeinsam mit anderen Lagergenossen ab. Wenige Monate später wurde er im Wald von Caugnet bei Lyon tot aufgefunden. Die Todesumstände sind bis heute ungeklärt. Auch Karl Olbrysch war Abgeordneter der KPD im Reichstag. Obwohl eine Durchsuchung seiner Wohnung nach illegalem Material ergebnislos blieb, wurde er am 13. Juni 1933 verhaftet, angeklagt und vom Volksgerichtshof wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit versuchter schwerer Urkundenfälschung zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe wurde er 1937 entlassen. Nachdem er zum Schein auf das Angebot einer Zusammenarbeit mit der Gestapo einging, emigrierte er über Prag nach England, wo er nach Kriegsbeginn interniert wurde. Bei der Überfahrt nach Kanada kam er bei der Versenkung der „Andorra-Star“ durch die deutsche Kriegsmarine 1940 ums Leben.

Mit der Beschreibung von Biographien könnte es noch lange weiter gehen. In der sogenannten Abgeordnetenlobby stehen drei zunächst unauffällige Tische, auf denen jeweils ein Buch liegt. In diesen Büchern sind die Schicksale hunderter Reichstagsabgeordneter nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialist*innen niedergeschrieben. Manche von ihnen hatten ein schlimmeres Schicksal als die eben beschriebenen, andere kamen glimpflicher davon. Ebenso beeindruckend, aber um einiges auffälliger ist das große fünfteilige Fotogemälde der Künstlerin Katharina Sieverding, das über diesen Büchern prangt. Darauf ist über einer lodernden Sonnenkorona die Röntgenaufnahme eines Rückgrats zu sehen. Während die Sonnenkorona mit ihren intensiven feurigen Farben an den Reichstagsbrand und die Wiedergeburt der Demokratie in Deutschland erinnert, verkörpert das Rückgrat die Mitglieder des Reichstags, die sich gegen den Terror des Nationalsozialismus stellten. Ein besonders heller Fleck auf der Röntgenaufnahme kennzeichnet einen Tumor, der sinnbildlich für den Nationalsozialismus steht.

Die „Fette Henne“

An einer gläsernen Wand des Plenarsaals im Deutschen Bundestag hängt ein riesiger silberner Adler – das Staatssymbol Deutschlands. Wegen seiner enormen Größe und der rundlichen Form wird er von den Berliner*innen auch scherzhaft als die „Fette Henne“ bezeichnet. Der Architekt Norman Forster, der den Umbau des Reichstags nach der Wiedervereinigung übernahm, wollte auch dem Bundesadler eine neue Gestalt verleihen. Forster entwarf zahlreiche Änderungsvorschläge zur Form des Adlers, den er gerne um einiges schlanker gehabt hätte, doch die Abgeordneten entschieden sich für die vergrößerte Kopie der rundlichen Form, die der Bildhauer Ludwig Gies schon für das Parlament in Bonn gefertigt hatte. Forster übernahm aber die Gestaltung der Rückseite des Adlers, der nun von beiden Seiten zu bewundern ist. Der von Forster entworfene Adler ist etwas größer als der alte und wiegt rund 2,5 Tonnen. Außerdem unterscheidet sich Forsters Adler im Gesichtsausdruck von dem ursprünglichen Adler. Während dieser einen neutralen Gesichtsausdruck zeigt, ist der Mund des neuen Adlers leicht gekräuselt, sodass es scheint als würde er lächeln.

Berlins erstes „Sommermärchen“

Seit November 2015 ist die Dauerausstellung zur Verhüllung des Reichstags vor über 20 Jahren auf der Präsidialebene des Reichstagsgebäudes zu sehen. Dass es überhaupt eine Verhüllung geben konnte, musste durch Christo und seiner Frau Jeanne-Claude hart erkämpft werden. Über mehrere Jahre machte das Künstlerehepaar intensive Werbung für ihr Projekt, sie sprachen mit jedem Abgeordneten des Bundestages und notierten die Positionen der jeweiligen Abgeordneten. Es war das erste und ist immer noch eines der wenigen Kunstprojekte des Bundestages, über das im Voraus abgestimmt werden musste und bis zu Letzt war der Ausgang dieser Abstimmung höchst unklar. Schlussendlich setzten sich die Befürworter*innen jedoch mit 292 zu 223 Stimmen durch. Aber wirklich niemand im Bundestag rechnete mit dem Ausmaß an Andrang in der Hauptstadt im Zuge dieses Projekts. Statt der ursprünglich angenommen 500.000 Besucher*innen innerhalb der 14 Tage der Verhüllung, kamen etwa fünf Millionen. Es sei, sagte Bundestagspräsident Lammert bei Eröffnung der Ausstellung, Berlins erstes „Sommermärchen“ gewesen. Nicht nur das Modell, mit dem die Werbung um das Projekt unterstützt wurde, sondern auch die Skizzen und Fotografien sowie originale Stoff- und Garnstücke können in dieser Ausstellung bestaunt werden. Wer bei der Verhüllung des Reichstags damals nicht anwesend war bekommt einen Einblick in die beeindruckende Atmosphäre des Kunstprojekts und wer dabei war, wird zurückgeführt in die Zeit der Verhüllung, die Ausstellung lässt die Stimmung dieser Zeit wieder aufleben.

Nach dieser Ausstellung ging es dann rauf auf die Fraktionsebene in den Fraktionssaal der SPD-Bundestagsfraktion. Dort fand eine lebhafte Diskussion statt. Hier berichtete ich von meiner Arbeit im Bundestag und in den Ausschüssen, beschrieb wie sich die Aufwandsentschädigung zusammensetzt und erläuterte die noch ausstehenden Gesetzesvorhaben der letzten zwei Sitzungswochen. Besonders am Herzen liegen mir dabei das Pflegeberufegesetz und das Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen. Für Interessierte bestand anschließend noch die Möglichkeit eines Kuppelbesuchs. Auf die nächste Kunst- und Architekturführung am 6. August freue ich mich schon.