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Aus 2 mach 1 - Gesamtdeutsche Geschichte um 1989/90

Siebzehn junge Politikerinnen und Politiker der israelischen Young Labour und Young Meretz Yachad, politisch interessierte Palästinenserinnen und Palästinenser sowie deutsche Jusos nahmen vom 27. Juli bis zum 04. August 2006 in Bonn/Berlin am Seminar „Wer war Herbert Frahm? Junge Politikerinnen und Politiker entdecken Wege sich für Frieden einzusetzen“ teil. Im Zentrum des Seminars stand die Auseinandersetzung mit der Biographie Willy Brandts und die Anwendbarkeit seines politischen Erbes auf den Nahostkonflikt. Ziel des Seminars war es, die Kommunikation in der Region zu fördern und aufzuzeigen, dass es politische Alternativen zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen gibt. Zum Programm gehörte u. a. auch ein Gespräch mit Egon Bahr über die „Ostpolitik“.


Die Jusos setzen sich seit über zehn Jahren aktiv für eine Verständigung und eine friedliche Lösung im Nahost- Konflikt ein. Das Willy Brandt Zentrum für Begegnungen und Kommunikation in Jerusalem ist ein Beitrag der Jusos, junge Politikerinnen und Politiker aller Seiten für einen konstruktiven politischen Austausch zu gewinnen und friedenspolitische Alternativen auf beiden Seiten zu stärken. (Weitere Informationen unter www.willybrandtcenter.org)

Am 02. August 2006 waren die jungen Politikerinnen und Politiker Gäste von Mechthild Rawert, MdB, im Reichstag zum Thema „Aus 2 mach 1 - Gesamtdeutsche Geschichte um 1989/90“. Rawert bedankte sich für das gestellte Thema und betonte, dass es in der deutschen Bevölkerung eine quasi eingebrannte kollektive Erinnerung an die Wende gibt, zeitgleich hat aber auch jede und jeder ganz individuelle Erinnerungen an diese Zeit, in der Undenkbares machbar geworden ist. Im Alltag ginge eine solche Erinnerungsarbeit häufig unter. Den Kontakt zur Region Israel/Palästina habe Mechthild Rawert über eine Trainee- Maßnahme für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Palästinensischen Autonomiebehörde in Berliner Senatsverwaltungen bekommen, die sie 1995 im Auftrag der damaligen Arbeitssenatorin Dr. Christine Bergmann zu organisieren hatte. 1996 wurde sie Mitglied der Deutsch- Palästinensischen Gesellschaft und ist mit dieser seitdem zweimal nach Israel und Palästina gefahren. Mit diesen Erfahrungen sei sie nun Mitglied der AG Naher und Mittlerer Osten der SPD- Fraktion, so Rawert.

Sommer 1998

Mechthild Rawert informierte die Gruppe über die Perestroika- und Glasnost- Politik von Michail Gorbatschow ab Mitte der 80er Jahre und schilderte aus dem Blick und emotionalem Erleben einer West- Berlinerin den Sommer 1989. Dabei sprach sie über die friedlichen öffentlichen Forderungen der erstarkenden Bürgerrechtbewegung und über die ab September stattfindenden Montagsdemonstrationen in Leipzig, denen bald auch in anderen Städten Demonstrationen unter dem skandierenden gemeinsamen Ruf „Wir sind das Volk!“ folgten. Sie regte sich über die zur Farce werdenden Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR auf, sprach über den Rücktritt Erich Honeckers am 18. Oktober als Generalsekretär der Einheitspartei SED und als Staatsratsvorsitzender und vom Übergangsvorsitzenden Egon Krenz. Sie wies zudem auf die dramatische Flucht vieler nach Ungarn und auf die Botschaftsflüchtlinge u. a. in Prag hin. Darüber hinaus erwähnte sie die zunehmenden Produktionsausfälle, die durch diese „Abstimmung mit den Füßen“ entstanden und die häufig auch zu Versorgungsengpässen geführten und letztlich zu den geschlossenen Rücktritt des Politbüros am 07. November führten. Mechthild Rawert betonte, dass auch die Westberlinerinnen und Westberliner Angst hatten, dass es zu Schießereien des Staates auf seine Bürgerinnen und Bürger wie auf dem „Himmlischen Platz“ in Peking im Sommer 1989 kommen könnte. „Auch wir waren sehr angespannt“, so Rawert.

Der Fall der Mauer

Zu den lautstarken Forderungen gehörte auch die nach freien Reisemöglichkeiten über die Grenzen der Bundesrepublik einschließlich West- Berlins. Um den Jugendlichen die Bedeutung dieser Forderung deutlich zu machen, zitierte Rawert hierzu aus der am 09. November überraschend stattfindenden internationale Pressekonferenz. Auf dieser verlas Günter Schabowski, SED Pressesprecher und Mitglied des Politikbüros, einen erst wenige Minuten zuvor verfassten aber noch nicht autorisierten Beschluss des Ministerrates:

„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsbeziehungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin (West) erfolgen.“ Auf die Frage eines Journalisten, ab wann denn dieser Beschluss gelte, antwortete Günter Schabowski unbeholfen „Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“. Rawert betonte, dass sicherlich weder Günter Schabowski noch alle anderen zu dieser Sekunde wussten, was dieser Satz daraufhin in Bewegung setzte.

Von nun an begannen sich die Ereignisse zu überschlagen, so Rawert. Die Massen auf beiden Seiten der Mauer strömten zu den Grenzübergängen, wo völlig überforderten Volkspolizisten gar nichts anderes übrig blieb als die Grenzübergänge zu öffnen. Berlin stand Kopf, war ein einziges unbeschreibliches Freudenfest. Sich unbekannte Menschen lagen einander in den Armen, Tränen und Alkohol flossen in Strömen. Millionen Berliner und Berlinerinnen strömen überglücklich von hüben nach drüben. Sie feierten gemeinsam und ausgelassen das Ende der Teilung ihrer Stadt und das Ende des Ost- West- Konflikts, der seit 1945 die Geschicke Berlins bestimmt hatte.

„Ich selber war zu dieser Zeit im Allgäu. Morgens wurden mir zunächst Ungläubigen die Geschehnisse mitgeteilt. Ich erinnere mich wie gestern an mein Gefühl als ich mit dem Zug in Berlin eingefahren bin: Ich wusste, ich habe nur wenige Tage zuvor die eine Stadt verlassen und kehre in ein anderes, unbekanntes, neues Berlin zurück“, sagte Rawert.

Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört

Mechthild Rawert erinnerte daran, dass a m Abend des 10. November 1989 Willy Brandt auf einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus von seiner großen Hoffnung für die Zukunft des geteilten Berlins und der beiden deutschen Staaten sprach. Ein Taumel überwältigender Freude auch auf Westberliner Seite folgte diesen Worten. Willy Brandt, der vor allem durch seine Ostpolitik so viel für die Aussöhnung und Völkerverständigung getan hatte, habe nach Meinung vieler mit der Wiedervereinigung sein Lebenswerk vollendet. Am 20. Dezember 1990 konnte dann Willy Brandt als Alterspräsident im Berliner Reichstagsgebäude die Sitzung des ersten gesamtdeutschen Bundestages eröffnen, so Rawert. Mechthild Rawert betonte, dass sich anschließend 1991 der Bundestag auf Antrag von Brandt mit 338 zu 320 Stimmen für Berlin als neuen Regierungssitz entschied.

Wir sind ein Volk

Mechthild Rawert wies die Gruppe darauf hin, dass vor dem 09. November von den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler Reformen gefordert worden waren – aber eine Wiedervereinigung so unvorstellbar war, dass diese nur von wenigen überhaupt gedacht wurde. Aber sie kam, begleitet von einer Vielfalt von Geschehnissen und Gefühlen: der Sturm der BürgerrechtlerInnen auf die Stasi- Zentrale, Schlangen vor den Geschäften Westberlins, astronomische Geldtauschgeschäfte insbesondere rund um die Bahnhöfe, die Gründung der vielen Runden Tische, das tiefe Gefühl von Hoffnung, von Aufbruch. Am Zentralen Runden Tisch haben sich Vertreterinnen und Vertreter der Regierung, der Bürgerrechtsbewegung, der Kirchen getroffen und verhandelten über die demokratische Umgestaltung der DDR, die Abschaffung der Stasi, den Ausbau eines neuen Parteiensystems und und und, erklärte Rawert.

Rawert schilderte, dass die Bürger und Bürgerinnen der DDR in dieser Zeit nicht mehr „Wir sind das Volk“, sondern „Wir sind ein Volk“ riefen. Die Umsetzung der Einheit und der dazugehörige Zeitplan war auch das entscheidende Thema der Volkskammerwahl am 18. Mai, so Rawert. Darüber hinaus gab es in der gesamtdeutschen Bevölkerung intensive Debatten über die Art des Zusammenkommens der beiden Staaten: Der Artikel 146 des Grundgesetzes sah einen Zusammenschluss mit einer neuen Verfassung und einer vorher einzuholenden Zustimmung des deutschen Volkes vor. Insbesondere die Bürger der DDR votierten aber für die rascher umzusetzenden Möglichkeiten des Artikels 23 des Grundgesetzes, der den Anschluss an die Bundesrepublik mit der Übernahme des Grundgesetzes vorsah, so Rawert.

Währungsunion und Einigungsvertrag folgten im Sommer 1990: So galt ab dem 01. Juli 1990 auf der Basis des Vertrages über die Wirtschafts- , Währungs- und Sozialunion die D- Mark als alleiniges Zahlungsmittel in Ost und West. Der Einigungsvertrag wurde über den Sommer hin ausgehandelt und am 23. August beschloss die Volkskammer den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Dieser Beitritt folgte dann am 03. Oktober 1990 - dem heutigen Tag der Deutschen Einheit, so Rawert.

Ende des Kalten Krieges

Für viele schwer vorstellbar, wies Mechthild Rawert darauf hin, dass zu dieser Zeit Deutschland noch den Bestimmungen des Viermächte- Abkommens unterlag. „Wir hatten in Westberlin/ in Westdeutschland viele alliierte Soldaten aus Amerika, Großbritannien, Frankreich und in der DDR viele Soldaten aus der Sowjetunion“, erklärte Rawert der Gruppe. Sie betonte, dass eine Zustimmung der vier Siegermächte zur Deutschen Einheit notwendig war. Zudem mussten viele Fragen geklärt werden, u. a die Fragen der Bündniszugehörigkeit Deutschlands zur Nato und viele andere außen- und sicherheitspolitische Aufgabenstellungen. Am 12. September 1990 wurde schließlich der Zwei- plus- Vier- Vertrag von den Alliierten sowie Vertretern beider deutscher Staaten unterzeichnet und Deutschland erhielt als wiedervereinigte Nation seine volle Souveränität zurück, so Rawert. Zudem betonte Rawert, dass die Oder- Neiße- Grenze zu Polen nun endgültig anerkannt wurde.

„In diesem Jahr haben sich weltgeschichtlich die Dinge überschlagen. Dabei war es sehr beglückend zu erfahren, wie sich Menschen aus anderen Staaten für uns Deutsche als wiedervereinigte Nation freuten. Mir ist zu keinem Zeitpunkt von niemandem entgegengebracht worden, er oder sie habe Angst vor diesem wiedervereinten Deutschland. Das war und ist ein sehr großer Vertrauensbeweis in die Demokratie und die Anerkennung Deutschlands als Friedensmacht“, sagte Mechthild Rawert.

Vereinigte SPD

Zur Wiedervereinigung der SPD erklärte Rawert, dass es in der DDR nicht möglich war, SozialdemokratIn zu bleiben bzw. zu werden. 1946 wurden fast zwei Drittel der 680.000 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in die SED "überführt“. Auf dem im April 1946 in Berlin stattfindenden "Vereinigungsparteitag" erfolgte die Zwangsvereinigung der KPD und SPD der SBZ (Sowjetischen Besatzungszone) und die Gründung der SED. Viele Sozialdemokraten waren daraufhin in der SBZ und dann in der DDR ohne politische Heimat: Ihnen blieb nur die Flucht nach Westen (was über 100.000 taten) oder sich öffentlich dem Kommunismus anzupassen, also "überzulaufen". Das Schlimmste passierte denen, die weder das eine noch das andere wollten oder konnten, so Rawert. Gegen Tausende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der SBZ/DDR wurden Repressalien angewandt, sie wurden verfolgt, in "Speziallager" und Zuchthäuser geworfen, ergänzte Rawert.

Besonders gefreut habe sich Mechthild Rawert darüber, dass noch unter der SED- Diktatur mutige Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler 1989 die SDP, die Sozialdemokratische Partei in der DDR, als Schwesterpartei der westdeutschen SPD gegründet haben. Bereits vor der deutsch- deutschen Vereinigung verschmolzen beide Parteien und bilden die SPD. Damit auch die ostdeutschen Genossinnen und Genossen von Anfang an angemessen repräsentiert wurden, wurden besonders zu Beginn gesonderte Regelungen geschaffen, erläuterte Rawert der Gruppe. Und so haben wir 1989 in Berlin ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet, welches die Ergebnisse der gesellschaftlichen und innerparteilichen Diskussion zur sozialen und ökologischen Erneuerung der Industriegesellschaft bündelt. Vor dieser Aufgabe stehen wir aktuell wieder, ergänzte Rawert.

Frieden ist machbar

„Frieden ist machbar“, betonte Mechthild Rawert und forderte von den jungen Politikerinnen und Politikern sich dafür einzusetzen. „In meinem Leben hat sich nicht nur politisch sondern auch privat und beruflich vieles durch die Wiedervereinigung geändert und nicht jeder Wandel war ein individuell freiwillig angestrebter. Aber es hat sich gelohnt, es haben sich viele neue Chancen aufgetan“, erklärte Rawert.

Besonders erfreut zeigte sich Mechthild Rawert über die Aussage eines Teilnehmers, dass es schön sei, auch einmal eine PolitikerIn mit Humor kennen gelernt zu haben.

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