Rede vom 10. Mai 2007 zur Regierungserklärung Gesunde Ernährung und Bewegung - Schlüssel für mehr Lebensqualität sowie zu der Anträgen CDU/CSU, SPD: Förderung gesundheitsrelevanten Verhaltens zur Prävention von Fehl- und Mangelernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel ins besondere bei Kindern und Jugendlichen (Drucksache 16/5258) und B90/GRÜNE: Konkrete Maßnahmen und verbindliche Strukturen für bessere Ernährung und mehr Bewegung umsetzen (Drucksache 16/5271)
97. Sitzung vom 10.05.2007 TOP 3 Regierungserklärung: Gesunde Ernährung und Bewegung
Mechthild Rawert (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die bisherige Debatte hat gezeigt: Wir wissen viel über gesunde Ernährung, nur am Verhalten hapert es. Es hapert letztendlich auch – hier gehe ich als Mitglied einer Regierungspartei weiter –, weil klare Rahmenbedingungen fehlen. Die Bundesregierung hat es gesagt: Prävention ist eine Investition in die Zukunft. Das ist auch im Memorandum, das in Badenweiler verabschiedet wurde, ausgeführt worden. In unserem Antrag steht:
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nix!)
Prävention fängt bei der Eigenverantwortung an, bedarf aber auch der Unterstützung des Staates und der gesellschaftlichen Akteure.
Weiter heißt es:
Das geplante Präventionsgesetz soll die Kooperation und Koordination der Prävention sowie die Qualität der Maßnahmen ... verbessern.
Es geht hier nicht darum, ausschließlich über Ge- und Verbote zu sprechen. Es geht auch um klare Zielsetzungen und klare Rahmenbedingungen. Daher danke ich für den nationalen Aktionsplan. Ich bin als Mitglied zweier Ausschüsse, des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und des Ausschusses für Gesundheit, der Meinung, dass wir ein Präventionsgesetz dringend brauchen. Denn damit schaffen wir die Rahmenbedingungen dafür, dass wir in viele Lebenswelten hineinkommen und der nationale Aktionsplan greifen kann.
(Beifall bei der SPD)
Über Ernährung ist viel gesprochen worden. Einer der Hauptfaktoren zur Entstehung von Übergewicht ist allerdings auch Bewegungsmangel. Es ist schon erwähnt worden: Nicht jede Art der Ernährung an sich ist falsch. Wir haben eine moderne Welt, ein Lebensumfeld für Kinder geschaffen, das in vielen Bereichen mittlerweile ungesund ist, vielleicht auch auf neue Art und Weise krank macht. Wir tragen dafür die Verantwortung und nicht die Kinder. Wir sind diejenigen, die dieses ändern können.
Wir brauchen mehr Spiel- und Bewegungsräume. Daher fordern wir in unserem Antrag, dass bei politischen Entscheidungen, die das Wohn- und Bewegungsumfeld der Kinder betreffen, dem Bewegungsdrang Raum zu verschaffen ist. Ich erhalte Bürgerbriefe von Eltern, die ganz verzweifelt sind, weil sie ihre Kinder nicht mehr auf der Straße spielen lassen können, weil sich die Nachbarn dann über Ruhestörung beschweren. Die Anrainer von Sportplätzen klagen ebenfalls über Ruhestörung. Ich frage mich: Wieso ziehen Menschen, die früher schon dort gewohnt haben und die ihre eigenen Kinder zum Spielen dorthin geschickt haben, jetzt vor Gericht, wenn anderer Leute Kinder dort spielen? Das ist doch ein Unding. Das kann doch wohl nicht sein.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir dürfen unsere Städte nicht zu Bewegungswüsten verkommen lassen. Hier haben Sportvereine eine große Verantwortung. Wir wissen, dass Sportvereine gehalten sind, Mitgliedsbeiträge zu erheben. Dies berührt die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft: Denn nicht jede Familie, die finanziell schwächer gestellt ist, kann sich dies leisten. Wir fordern daher auch hier Unterstützung, damit das Gleichheitsgebot umgesetzt werden kann.
Ich freue mich, dass die Kampagne des Gesundheitsministeriums vorhin schon erwähnt worden ist. Denn die Kampagne unter dem Motto „Deutschland wird fit. Gehen Sie mit.“ ist eines der positiven Zeichen, die zeigen, wie wir versuchen, Bewegung in den Alltag zu integrieren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Eines ist sicher: Wir alle haben mittlerweile einen relativ zeitintensiven Alltag. Das fängt schon bei den kleinen Kindern an, deren Zeitplan sehr viele zusätzliche Angebote umfasst. So haben sie nicht mehr genug Zeit für Sport. Wir müssen versuchen, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Gehen Sie mit bei den vielen Aktionen, die im Rahmen der Kampagne des Gesundheitsministeriums angeboten werden!
(Beifall bei der SPD)
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen durch Ernährungs- und Bewegungskampagnen bislang nicht zufriedenstellend erreicht worden sind. Das heißt, wir machen unsere Angebote nicht zielgruppenorientiert genug,
(Detlef Parr [FDP]: Richtig!)
obgleich die Krankenkassen bereits seit 2000 gehalten sind, ihre Angebote in diesem Bereich zu verbessern. Vielfach kommen sie dieser Aufforderung auch sehr gut und erfolgreich nach. Ich sage das, damit Sie nicht den Eindruck gewinnen, ich würde die Krankenkassen kritisieren wollen. Wir müssen das Angebot nichtsdestotrotz ausbauen und systematisieren. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das in dieser Legislaturperiode dringend umzusetzende Präventionsgesetz.
Der Sozialraumbezug in der Gesundheitsförderung wurde bereits erwähnt. Mein Kollege Volker Blumentritt hat das Programm „Soziale Stadt“ angesprochen. Wir stehen hierüber bereits mit dem Gesundheitsministerium im Gespräch, um innerhalb der einzelnen Altersstrukturen und Lebenswelten zu Verbesserungen zu kommen.
Ich will auf die Verantwortung der Wirtschaft zu sprechen kommen. Die Lebensmittelindustrie, die das Verhalten von Kindern und Familien durch Produktverkauf und Werbung prägt, steht selbstverständlich mit in der Verantwortung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Richtig ist auch, dass Internet und Handy neben der klassischen Fernsehwerbung verstärkt für gezielte Produktwerbung genutzt werden. Es gibt mittlerweile kaum noch eine Verpackung, auf der nicht extra auf Kinderwebsites der Hersteller verwiesen wird. Kinder und Jugendliche sind eine sehr geschickt umworbene Zielgruppe. Hier beginnt der Kreislauf, über den wir sprechen: Wir können doch nicht einerseits über ungesunde Ernährung reden, über Kinder, die, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, vor dem PC oder dem Fernseher sitzen, und andererseits nichts tun, um sie vom Fernseher oder vom PC wegzuholen. Wir brauchen auch Werbeverbote.
(Abg. Miriam Gruß [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir jetzt zustimmen würden, dass die Kollegin Gruß Gelegenheit zu einer Zwischenfrage erhält, nachdem vorhin aus objektiv unvermeidlichen Gründen dazu keine Gelegenheit mehr war.
Mechthild Rawert (SPD): Gerne.
Miriam Gruß (FDP): Vielen Dank. – Die ganze Zeit über ist hier die Rede von Kindern und Jugendlichen, davon, wie wichtig es ist, bei den Kleinsten anzufangen. Ich möchte dem Parlament eine Institution in Erinnerung rufen, die sich schon in den vergangenen Legislaturperioden ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat – in der vergangenen Legislaturperiode unter dem Vorsitz von Frau Noll und in dieser unter dem Vorsitz Ihrer Kollegin Frau Rupprecht –: die Kinderkommission.
Ich möchte Sie fragen, inwiefern die Erkenntnisse der Kinderkommission, die sich bereits seit Jahren – in den letzten Monaten sehr intensiv – mit dem Thema beschäftigt hat, Eingang in Ihre Pläne gefunden haben. Sie sagen immer wieder: Wir müssen Aktionen starten. Die Kinderkommission hat konkrete Forderungen gestellt. Wir haben alle Ministerien und Länder angeschrieben. Heraus kam lediglich eine Auflistung der Projekte. Ich frage Sie: Wie haben Sie die Arbeit der Kinderkommission integriert, oder wie planen Sie, diese Arbeit zu integrieren?
Mechthild Rawert (SPD): Wir erachten die Kinderkommission für so wichtig, dass wir der Kinderkommission selbstverständlich einen sachgerechten Bericht geben wollten. Daher die Auflistung der Projekte. Das Gespräch wird fortgeführt.
(Jörg van Essen [FDP]: Das war ja keine wirkliche Antwort!)
Zurück zu den Werbebotschaften. Ich habe gesagt, dass Kinder und Jugendliche bei den Firmen eine heiß umworbene Zielgruppe sind; denn im Alter von drei bis fünf Jahren wird heute schon das Markenbewusstsein geprägt. Das heißt, die Werbung zielt auf die Neugierde der Kinder, ihre Vorliebe für Buntes und Süßes, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und ihr Freizeitverhalten. Um die Eltern zu überzeugen, das Produkt XY – ich will keines benennen – zu kaufen, wird gesagt: Hier ist zum Beispiel Milch drin. Suggeriert wird: Daher ist diese Süßigkeit gesund. – Das ist zum großen Teil Quatsch; denn häufig ist nur wenig Milch oder gar nur Milchextrakt enthalten. Das, was die Kinder zu sich nehmen, sind viele leere Kalorien und nicht ein gesundes Lebensmittel.
Aus diesem Grunde sind auch wir für die Kennzeichnungspflicht bei Lebensmitteln. Darüber müssen wir uns unterhalten. Immerhin sind wir im Rahmen der Umsetzung einer EU-Verordnung verpflichtet, eine nährwert- und gesundheitsbezogene Lebensmittelkennzeichnung vorzunehmen. Es geht um die Festlegung von Nährwertprofilen. In diesem Zusammenhang wollen wir die von Forschungsinstituten zusammengestellte Positivliste vorantreiben, sodass wir als Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglichkeit haben, sachgerecht abzugleichen: Glauben wir der Werbung, oder glauben wir der Wirklichkeit, dem, was wissenschaftlich geprüft ist, wenn wir unseren Kindern sagen, dass ein Lebensmittel gesund ist? Ich hoffe, wir vertrauen dem Sein und nicht dem Schein.
Ich möchte noch einmal zum Thema Prävention kommen; denn Prävention ist wichtig. Wir brauchen eine Präventionskultur. Prävention muss fest in Erziehung und Bildung verankert werden. Wir brauchen hierfür Strukturen, die Gesundheitsförderung und Prävention in den Bildungskanon aufnehmen. Wir brauchen ein Gegengewicht zu einer nicht in jedem Falle gesunden Umwelt.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die Prävention zu einer eigenständigen Säule der gesundheitlichen Versorgung ausgebaut werden soll. Das ist eigentlich eine logische Konsequenz des Memorandums von Badenweiler und unserer Eckpunkte und Erklärungen. Wir machen jetzt den nationalen Aktionsplan. Ich wiederhole: Ich persönlich bin der Meinung, wir sollten zeitgleich das Präventionsgesetz verabschieden. Denn es ist wahr: Viele kleine Schritte ergeben auch ein Großes; nichtsdestotrotz ist nach vielen kleinen Schritten natürlich auch ein großer gefragt.
Wir wollen auch die Präventionsforschung ausbauen. Denn diese ist für Erkenntnisse über den Zustand und die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung unerlässliche Voraussetzung. Wir müssen herausfinden, warum es so ist, dass wir so viel über Gesundheit und gesundheitsförderndes Verhalten wissen, aber in vielen Bereichen nicht danach handeln.
(Detlef Parr [FDP]: Ein guter Satz!)
Da kann jede und jeder, so wie wir hier im Saale sind, damit beginnen, sich an die eigene Nase zu fassen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)