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Rede des Vorsitzenden der SPD Sigmar Gabriel: 2./3.Lesung „Gesetz zur Übernahme von Bürgschaften im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus“

Herr Präsident,
Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Damen und Herren!

Lieber Herr Kollege Schäuble, was sollen wir Ihnen denn nun eigentlich glauben? Sie sagen im März: Es gibt keine Chance zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Am 18. Mai im Deutschlandfunk machen Sie die Einführung noch völlig davon abhängig, dass sie weltweit erfolgt, weil sonst die Gefahr einer Abwanderung in die USA und nach Asien bestehe, und heute erklären Sie nun, Sie seien ‑ ich habe genau zugehört ‑ sogar bereit, es nur im Euro-Raum zu versuchen.

Meine Frage an Sie ist: Wenn dies ein ernsthafter Meinungswandel bei Ihnen ist, warum, Herr Kollege Schäuble, beschließen wir es dann nicht einfach heute hier im Deutschen Bundestag? Warum?

Sie haben vor zwei Wochen hier im Haus der SPD ein Zitat aus der Bergpredigt entgegengehalten: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein.“

Herr Kollege Schäuble, so richtig bekomme ich Ihre 180-Grad-Wendung mit diesem Zitat nicht zur Deckung; das muss ich offen sagen. So ist das, wenn man die Bergpredigt ins Parlament einführt: Irgendwann schlägt sie zurück. Also, Herr Kollege Schäuble, mich würde wirklich interessieren: Was ist denn nun eigentlich die Position der Regierung und der Koalitionsfraktionen, und warum beschließen wir die Steuer heute nicht? Ich kann ja verstehen, dass inzwischen selbst in Ihren eigenen Reihen große Zweifel ‑ übrigens auch an Ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit, Herr Schäuble ‑ existieren.

Ich kann Ihnen die Schlagzeile der SZ von heute nicht ersparen. Da fragt sich Ihr Ministerpräsident Horst Seehofer, warum der Finanzminister Schäuble eigentlich die Finanztransaktionssteuer infrage stellt, obwohl die Koalition sie doch will. Seehofer: „Wenn der Koalitionsausschuss sagt, die Steuer kommt, und der Finanzminister gleichzeitig sagt, sie kommt nicht, dann fühlt sich doch die Bevölkerung verhöhnt. … Ich muss mich schon manchmal sehr zurückhalten, um nicht aus der Haut zu fahren.“

Das geht uns auch so, meine Damen und Herren. Das geht uns ganz genauso.

Ein paar von Ihnen haben eben dazwischengerufen: Die Haltung der SPD zum Euro. Jetzt sage ich Ihnen mal eins: Ein Teil Ihrer eigenen Koalition klagt gegen Ihre Gesetze vor dem Verfassungsgericht und ein anderer erklärt, Sie seien führungsschwach und wüssten nicht, wie das Ganze zusammengehen soll. Sie haben ein Problem in der europäischen Debatte, nicht wir!

Aber so geht das ja nun schon seit Monaten. Vor genau zwei Wochen berieten wir im Deutschen Bundestag nach wochenlangen Dementis von Wolfgang Schäuble, Angela Merkel und vielen anderen Koalitionären über 22,4 Milliarden Euro Garantierahmen für Griechenland ‑ und keinen Cent mehr, so der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Herr Fricke.

Wir haben hier im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit die Frage diskutiert: Kann das eigentlich Folgewirkungen in anderen Ländern haben? Wann kommen die Nächsten? Da haben Sie gesagt: Keinen Cent mehr, und zwar ohne die Einschränkung zu Griechenland. Das ist Ihre Position, die Sie hier eingenommen haben.

Herr Fricke, Sie sollten sich nicht davon distanzieren. Sie sind, jedenfalls nach Ihrer Auffassung, in guter Gesellschaft; denn Herr Brüderle hat am 5. März auf

n-tv bereits verkündet: Wir haben nicht die Absicht, Griechenland einen Cent zu geben. Am gleichen Tag, als wir hier entschieden haben, als Herr Fricke für keinen Cent weitere Zugeständnisse machen wollte, flog Frau Merkel nach Brüssel, um über 123 Milliarden Euro ‑ Herr Fricke, das sind 12,3 Billionen Cent ‑ mehr zu verhandeln.

Jetzt gibt es zwei Rückschlüsse. Entweder die Regierung hat am Freitagmorgen vor 14 Tagen dem Parlament gegenüber nicht die ganze Wahrheit gesagt oder ‑ und das ist vermutlich die weitaus schlimmere Nachricht und Wahrheit ‑ sie hat wirklich nicht gewusst, was auf sie in Brüssel zukommt. Die Kanzlerin der größten Volkswirtschaft Europas, die Regierungschefin eines der wichtigsten Motoren der Europäischen Union, kommt auf einen EU-Gipfel und wird von Frankreich und allen anderen Mitgliedstaaten vor vollendete Tatsachen gestellt. Das ist die Realität, die Sie uns heute hier versuchen, zu erklären.

Vorsicht, wenn Sie das bestreiten! Dann bleibt nur die Alternative, dass Sie es wussten, uns es aber nicht gesagt haben.

Das hatte einen anderen Grund ‑ das muss man einmal aussprechen: Die anderen EU-Staaten hatten die Nase gestrichen voll von Ihrer Taktiererei, Frau Bundeskanzlerin. Die Staats- und Regierungschefs wollten den Euro nicht ein zweites Mal aufs Spiel setzen, nur um Ihren taktischen Winkelzügen in der Innenpolitik folgen zu müssen. Sie hatten es satt. Das ist der Grund, warum sie Sie vor vollendete Tatsachen gestellt haben.

Frau Bundeskanzlerin, seit Konrad Adenauer ist nie ein deutscher Bundeskanzler in Europa so vorgeführt worden. Seit Konrad Adenauer hat noch niemand die deutsch-französische Achse so grundlegend ruiniert, wie Sie das in den letzten Monaten getan haben. Nun kommen Sie in den Deutschen Bundestag und fordern all das, was Sie vor der Blamage in Brüssel hier im Parlament und in der Öffentlichkeit noch vehement abgelehnt haben. Ich frage Sie nur mal eins: Wer soll eigentlich der immer schnelleren Folge Ihrer Regierungserklärungen noch Glauben schenken? Das machen doch offensichtlich, siehe Seehofer, nicht einmal Ihre eigenen Leute. Aber ich will ja von Herrn Schäuble und anderen nicht mehr Überzeugungsfähigkeit erwarten, als ihrer eigenen Kanzlerin zur Verfügung steht. Von daher waren meine Erwartungen an die heutige Debatte nicht allzu groß.

Aber was Sie sich am letzten Sonntag, Frau Bundeskanzlerin, beim DGB-Bundeskongress erlaubt haben, ist schon einmalig. Es war Ihnen offensichtlich nicht einmal peinlich, den DGB-Vorsitzenden bei der Debatte, wie man die Kapitalmärkte endlich zur Kasse bittet, damit die Kosten bezahlt werden, die dort angerichtet wurden, aufzufordern, er möge doch dafür sorgen, dass alle 20 Gewerkschaftsbünde der G-20-Industriestaaten ihre Staats- und Regierungschefs dazu bringen, die Forderung nach einer Finanztransaktionsteuer zu unterstützen. Dann seien auch Sie dafür und würden die Steuer fordern. Frau Dr. Merkel, Sie haben wirklich ein seltsames Rollenverständnis: Sie müssen kämpfen, nicht andere. Sie müssen vorgehen, nicht andere.

Sie sind doch nicht Deutschlands oberste politische Animateurin, die andere auffordert. Sie selber müssen doch führen und handeln. Aber genau hier liegt der Unterschied zwischen Ihnen und anderen Regierungschefs in der Europäischen Union.

Wenn Sie das jetzt kurz nach dem DGB-Kongress wirklich ernst meinen und für die Finanztransaktionsteuer kämpfen wollen, wenn Sie für diese Steuer auf einmal sogar ‑ ich zitiere Sie noch einmal ‑ „Rabatz machen“ wollen, wie Sie vorgestern erklärt haben, dann frage ich Sie: Warum beschließen wir das nicht heute hier im Parlament?

Sie sind ja nicht einmal bereit, dem sehr knapp gefassten Entschließungsantrag der SPD zuzustimmen, der in großen Teilen wörtlich Ihrer Regierungserklärung vom Mittwoch ‑ für den Fall, dass Sie sich daran nicht mehr erinnern ‑ entnommen ist. In ihm wird ohne große Schnörkel gefordert ‑ Herr Schäuble, hören Sie genau zu: Zuerst soll die Bundesregierung bei G 20 für die Beteiligung der Kapitalmärkte kämpfen und, wenn die nicht mitziehen, es in Europa alleine machen. Das hatten Sie doch eben hier versprochen.

Das ist doch das Versprechen der Bundeskanzlerin. Warum wehren Sie sich eigentlich so heftig, dass das deutsche Parlament dieses beschließt und Ihnen damit den Rücken stärkt? Warum sind Sie eigentlich dagegen?

Die Antwort ist einfach: weil Sie in Wahrheit nichts als einen faulen Formelkompromiss mit Ihrem Wunschpartner FDP hinbekommen haben, ohne substanziellen Willen der gesamten Bundesregierung, auch wirklich dafür einzutreten. Herr Westerwelle ist als Außenminister auch bei diesem Kampf für eine angemessene Beteiligung der Kapitalmärkte ein Totalausfall für Deutschland und Europa.

Da lobe ich mir wahrhaft standhafte Konservative wie Jean-Claude Juncker aus Luxemburg. Er sagt öffentlich: Ja, er ist bereit, wenn zum Beispiel die Briten nicht mitmachen, es dann alleine in der Euro-Zone zu machen. Der hat Mumm. Der kuscht nicht vor ein paar Drohungen dieser Nieten in Nadelstreifen, denen immer ein neues Argument einfällt, wenn es darum geht, sich selbst davor zu schützen, dass sie die Kosten tragen, die sie selber zu verantworten haben.

Frau Bundeskanzlerin, ich habe Sie in der Umweltpolitik als mutig erlebt. Glauben Sie wirklich, dass es den Emissionshandel in Europa gäbe, wenn Deutschland dazu nicht Ja gesagt hätte, wenn wir nicht gegen die Lobbyisten im eigenen Land, gegen die Zauderer und Zögerer während unserer EU-Ratspräsidentschaft Druck gemacht und den Emissionshandel verschärft hätten? Ich sage Ihnen: Nichts anderes erwarten wir auch von Ihnen. Wir müssen mutiger sein und in Europa vorangehen. Aber Sie waren wohl nur so lange eine mutige Kanzlerin, solange Sie von Sozialdemokraten bewacht wurden.

In den letzten zwei Regierungserklärungen, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie sich ins Pathos geflüchtet. Aber wie sieht eigentlich die Realität aus? Was haben Sie eigentlich in den letzten sieben, acht Monaten bei der Finanzmarktregulierung getan?

Vor lauter internem Streit und Taktieren vor der Landtagswahl in NRW hat Ihre schwarz-gelbe Wunschkoalition in den sieben, acht Monaten genau drei Vorhaben auf den Weg gebracht, die sich mit dem Thema Finanzmarktregulierung befassen. Alle drei beschränken sich auf die Umsetzung von EU-Recht, und, übrigens, keines dieser Verfahren ist abgeschlossen.

Nur zum Vergleich: Zwischen Ende 2008 und Sommer 2009 hat der sozialdemokratische Finanzminister Peer Steinbrück ‑ übrigens meistens gegen energische Widerstände aus der Union ‑ ein Gesetz zur Regulierung der Vorstandsvergütung, zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung, zur bilanziellen Aufdeckung der Zweckgesellschaften, zur Verschärfung der Haftung der Manager, zur Erhöhung der Transparenz bei Unternehmensbeteiligungen sowie Maßnahmen zur Begrenzung der Vergütung in der Finanzbranche durchgesetzt und dazu zahlreiche Maßnahmen auf EU-Ebene vorangebracht, übrigens immer gegen den erbitterten Widerstand der FDP. Das, Frau Bundeskanzlerin, ist die Bilanz, wenn man wirklich handelt. Was haben Sie in Ihrer Regierungserklärung gesagt? - „Es ist Zeit zum Handeln“. Das finden wir auch. Wir haben es getan. Wann tun Sie das endlich, anstatt immer nur Ankündigungen zu verbreiten?

Wir haben eine Menge geleistet, und jetzt wird nur angekündigt.

Frau Bundeskanzlerin, einen Tag vor der ersten Lesung des Gesetzentwurfs ‑ ein Schelm, wer Böses dabei denkt ‑ erklären Sie, dass die BaFin angewiesen worden sei, die Leerverkäufe zu verbieten. Ich frage Sie genau wie der Kollege Gysi und andere: Warum haben Sie eigentlich Leerverkäufe, deren Verbot Peer Steinbrück schon durchgesetzt hatte, überhaupt erst wieder erlaubt? Offensichtlich brauchen Sie immer öffentlichen Druck und den Druck der Opposition, damit Sie überhaupt irgendetwas machen. Alleine bringt diese Regierung nichts zustande.

Frau Bundeskanzlerin, bis heute haben Sie von sich aus kein Konzept für die Überwindung der Krise vorgelegt. Stattdessen passen Sie sich immer den neuen Stimmungen in der Koalition an, anstatt klar Stellung zu beziehen und verbindliche Vorstellungen über Ihr beabsichtigtes Engagement im Parlament vorzulegen und beschließen zu lassen. So jedenfalls kann man kein Land regieren, und so führt man auch kein Land aus der Krise heraus, sondern immer tiefer hinein. Stattdessen erleben wir Sie und Ihr Kabinett in Zeitlupe. Seit September letzten Jahres führen Sie Tag für Tag neue Koalitionsverhandlungen. Seit Jahresbeginn eilen Sie der Realität an den Märkten hinterher. Sie sind längst zur Getriebenen geworden, zur Getriebenen der Märkte, der europäischen Partner, Ihres liberalen Wunschpartners, inzwischen sogar Ihrer eigenen Fraktion und am Ende notfalls durch die Medien. Sie haben keine Linie, Sie haben kein Ziel, und Sie wissen nicht, wohin mit diesem Land und mit Europa. Das ist die Bilanz Ihrer Regierung nach sieben bis acht Monaten in diesem Land.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vorgestern unzählige Male eine neue Stabilitätskultur in Europa angemahnt, offenbar ein neues Lieblingswort Ihrer Redenschreiber. Wir haben gar nichts gegen eine neue Stabilitätskultur, aber uns würde es schon reichen, wenn Sie diese zunächst in Ihrer eigenen Koalition einführen würden.

Nur am Rande: Sie tun jetzt öffentlich so, als ob das Taktieren, das Abwarten keine Folgen hätte. Sie erklären sogar mokant, Langsamkeit sei eine Tugend. Das liegt natürlich daran, dass Sie die Kosten dieser Langsamkeit nicht zu bezahlen haben. Sie kündigen ja schon ein eisernes Sparprogramm an. Für wie dumm halten Sie die Menschen eigentlich? Erst versprechen Sie monatelang gemeinsam mit der FDP Milliardensteuergeschenke bei gleichzeitiger Entschuldung des Landes, und kaum ist die Landtagswahl in NRW am 9. Mai vorbei, da kassieren Sie alle Steuersenkungsvorhaben und kündigen stattdessen entschiedene Sparprogramme an. Mich würde es übrigens nicht wundern, wenn das Versprechen eines milliardenschweren Steuersenkungsprogramms kurz vor der nächsten Bundestagswahl wieder als Hauptforderung von Union und FDP das Licht der Welt erblickt. Ich sage Ihnen: Zweimal die gleiche Wahllüge, das geht mit Sicherheit schief. Darauf können Sie sich verlassen, Frau Bundeskanzlerin.

Dann versuchen Sie auch noch dreist, die Verantwortung zu verschieben. Auf dem Kirchentag sagten Sie, die Deutschen würden über ihre Verhältnisse leben, man lebe auf Pump. Ich weiß nicht, in welchem Land Sie leben. Meinen Sie mit denen, die laut Ihnen über ihre Verhältnisse leben, die Bevölkerung Ihres Landes? In Deutschland gibt es 5 Millionen Menschen, die für weniger als 8 Euro in der Stunde arbeiten. 1,3 Millionen Menschen gehen nach der Arbeit zum Sozialamt. Wenn Sie über Kredite und Schulden reden, möchte ich Ihnen einmal sagen, wer hier Schulden macht. Das sind zum Beispiel die Studenten, deren Eltern nicht genug Geld haben, die durch Ihre Studiengebühren 20 000 oder 30 000 Euro Schulden machen müssen und nach dem Studium keinen Job bekommen. Das sind die, die in Deutschland auf Pump leben müssen, weil Sie die Politik so gestalten. Das ist der eigentliche Hintergrund dessen, was hier passiert.

Wir in diesem Land sitzen nicht alle in einem Boot. Es gibt einige, denen steht das Wasser bis zum Hals, und ein paar wenige sind mit der Luxusyacht unterwegs. Das ist die Realität, die Sie verdrängen wollen. Hier haben nur ganz wenige über ihre Verhältnisse gelebt. Das sind die, die permanent öffentlich erklären: „Privat vor Staat“, und sich hemmungslos mit Ihrer Hilfe weiter bedienen dürfen. Das sind die, die hier über ihre Verhältnisse gelebt haben.

Wissen Sie, Ihre Forderung, wir müssten den Gürtel enger schnallen, und Ihr Nichtstun gegenüber den Finanzmärkten sind ja nicht nur ungerecht, sondern vor allen Dingen politisch falsch. Denn eine der zentralen Ursachen für die gegenwärtige Krise ist, dass wir die Geburtsfehler der Währungsunion, nämlich das Fehlen einer echten Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, nicht endlich beseitigen.

Man stelle sich einmal vor, die damals existierenden Bundesländer hätten 1948, als in Westdeutschland die Währungsreform durchgeführt wurde, komplett auf eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik verzichtet. So verrückt ist damals niemand gewesen. Jetzt haben wir die Chance, diesen Geburtsfehler zu korrigieren. Aber Sie, Frau Kanzlerin, sind die Erste, die wieder einmal „Madame No“ gespielt hat, als der spanische Ministerpräsident Zapatero zu Beginn seiner EU-Ratspräsidentschaft genau diese Koordinierung gefordert hat.

Dafür, dass Sie das nicht wollen, gibt es einen Grund. Denn wenn man über diese Koordinierung reden würde, würde natürlich auch der deutsche Anteil an der Krise deutlich werden. Darüber müssen wir hier offen reden. Der deutsche Anteil besteht darin, dass wir in Deutschland eben nicht über unsere Verhältnisse leben. Das Gegenteil ist der Fall: Wir leben seit Jahren wirtschaftspolitisch unter unseren Verhältnissen.

Seit Jahren hält die Lohnentwicklung in Deutschland nicht Schritt mit der Produktivitätsentwicklung. 10 Prozent der Bevölkerung besitzen weit mehr als 60 Prozent des Vermögens, und 27 Prozent unserer Bevölkerung besitzt gar kein Vermögen. So hat sich Ludwig Erhard die soziale Marktwirtschaft nicht vorgestellt.

Wer wie CDU/CU und FDP auf Mindestlöhne verzichtet, Leih- und Zeitarbeit zu Armutslöhnen weiter ausbauen möchte und jetzt auch noch bei Bildung, Sozialausgaben und Investitionen sparen will, der, Frau Bundeskanzlerin, bringt einen Treibsatz in diese Entwicklung und übrigens auch einen Sprengsatz in unsere Gesellschaft. Das ist die Wahrheit, die sich hinter Ihrem unsinnigen Satz verbirgt, wir alle müssten sparen, wir lebten auf Pump und über unsere Verhältnisse. Das, was Sie da vorhaben, geht schief.

Das Gegenteil wäre richtig: Wir brauchen endlich wieder eine angemessene Lohnentwicklung orientiert an der Produktivitätsentwicklung unseres Landes. Der Wettbewerb um niedrige Steuern, niedrige Löhne zwingt die anderen Länder geradezu, mitzumachen, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollen. Im Ergebnis versuchen sie dann, sich über Verschuldung den Wohlstand zu kaufen, den wir ihnen nicht ermöglichen, weil wir permanent den Druck auf die Löhne in Europa erhöhen. Das müssen wir ändern. Darum geht es in Wahrheit in der Auseinandersetzung.

Wenn wir über die Finanzmarkttransaktionssteuer streiten, dann streiten wir nicht über ein Instrument, sondern über die Frage, in welche Richtung wir Europa führen möchten. Wir wollen ein gemeinsames und soziales Europa, ein Europa, das mehr ist als der Binnenmarkt. Deshalb brauchen wir mehr und nicht weniger Europa. Wir sind nicht gegen das Rettungspaket, schon deshalb nicht, weil es nicht Ihre Idee ist. Es ist ja gegen Sie durchgesetzt worden. Aber weil der Rest Ihrer Politik nicht verlässlich ist, weil sie unklar ist und aus Ankündigungen besteht, weil Ihre ganze Richtung weiterhin falsch ist, können wir Ihnen heute nicht zustimmen. Deshalb, Herr Kollege Schäuble, geht es bei unserer Nichtzustimmung zu Ihrem Gesetzespaket nicht um Taktik und auch nicht um Verfahrensfehler.

Uns geht es darum, dass wir endlich in der Europapolitik und in der deutschen Wirtschaftspolitik eine andere Richtung einschlagen. Dafür streiten wir. Das ist ein langer Weg. Er ist schwierig. Aber wir sind bereit, ihn zu gehen. Wir wollen jedoch nicht den Weg gehen, der an seinem Ende zu sozialen Kürzungsmaßnahmen quer durchs Land führt, weil Sie sich nicht trauen, die wahrlich Schuldigen in Deutschland endlich zur Kasse zu bitten.

Vielen Dank.