„Wie muss Politik heute steuern?“ lautete die zentrale Frage auf der vor allem von Betriebs- und PersonalrätInnen, Frauenvertreterinnen und VertreterInnen von Schwerbehindertenvertretungen besuchten Fachveranstaltung „Fachkräftemangel im Gesundheitswesen“ am 26. November im Vivantes Klinikum im Friedrichshain mit Mechthild Rawert, Mitglied des Gesundheitsausschusses, und Ulla Schmidt (MdB), Bundesgesundheitsministerin a.D..
In ihrem Eingangsstatement verwies Mechthild Rawert darauf, dass der Fachkräftemangel in den Gesundheits- und Pflegeberufen zwar in aller Munde sei, aber dennoch zu wenige junge Menschen derzeitig hier ihren „Traumberuf“ finden. Darauf verweise auch eine aktuelle Studie von Price-Waterhouse-Coopers oder die aktuelle Darstellung des Statistischen Bundesamtes vom 22.11. Ohne ausreichendes Fachpersonal in diesen personenorientierten Dienstleistungsberufen sei der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft gefährdet. Zu verbessern seien vor allem die aktuellen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, die Aus- und die Weiterbildungsmöglichkeiten.
Von den ArbeitnehmerInnen-VertreterInnen wurde vor allem gefordert:
- Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist als DAS entscheidende Thema für das Gewinnen und Halten von Fachkräften zu betrachten. Dazu gehören verbesserte Regelungen hinsichtlich der Schichtarbeit.
- Der Professionalisierung von Pflegefachkräften ist verstärkt Rechnung zu tragen und die interdisziplinäre Kooperation „auf Augenhöhe“ auszubauen.
- Programme zur guten und gesunden Arbeit im Gesundheitswesen sind auszubauen, damit Beschäftigte nicht vorzeitig physisch als auch psychisch ausgelaugt sind und vorzeitig aus ihren Berufen aussteigen müssen.
- Angesichts der Rente mit 67 sind politische Antworten dafür zu finden, dass die Verweildauer in einem Beschäftigungsverhältnis überhaupt möglich ist – früher gab es keine aktiven KrankenpflegerInnen, die älter als 58 Jahre gewesen sei.
- Es muss dafür gesorgt werden, dass Pflege- und Gesundheitsfachkräfte eine höhere Wertschätzung und Anerkennung in der Gesellschaft erfahren.
- Das Krankenhausfinanzierungsgesetz ist so durchzusetzen, dass es auch beim Pflegepersonal ankommt und damit dem bestehenden Arbeitsdruck in der Pflege - auch durch zu wenig Personal -entgegenzuwirken;
Die Politik sollte sich viel stärker den immer größer werdenden Problemen „Outsourcing“ und „Leiharbeit“ im Gesundheitswesen zuwenden. Dazu sind neue Lösungen für die Personalbedarfsplanung und die Arbeitsorganisation im Interesse von Stammbelegschaft und LeiharbeiterInnen gefragt.
Ulla Schmidt ordnete den Fachkräftemangel in ihren Ausführungen in die Herausforderungen des demographische Wandels und der damit verbundenen historisch neuen Versorgungsaufgaben im Gesundheits- und Pflegewesen ein. Dank des medizinischen Fortschritts hätten erfreulicherweise die meisten Menschen, auch chronisch Kranke und Behinderte, eine lange Lebensdauer, Aber auch die Zahl der Menschen mit „neuen“ Alterskrankheiten, wie z.B. Alzheimer und Demenz, nehme zu.
Mit dem demographischen Wandel seien vor allem drei große Herausforderungen für das Gesundheitswesen, zeitgleich einer der innovativsten aber leider auch reformresistentesten Politikereiche, zu bewältigen:
1. In unserem Bildungswesen darf kein Talent verloren gehen.
Kein Jugendlicher, keine Jugendliche dürfe die Schule ohne einen Abschluss verlassen. Dafür müsse sowohl die starke Selektion im Schulwesen beendet, als auch die Gesundheitsprävention für Kinder und Jugendliche ausgebaut werden, denn: Gesunde Kinder lernen besser.
2. Berufe im Gesundheitswesen sind auch für jüngere Menschen attraktiver zu gestalten.
Die meisten Gesundheits- und Pflegefachkräfte sind nicht des Geldes wegen in ihren Berufen. Sie wollen und brauchen aber gute und gesunde Arbeitsbedingungen, damit sie ihrer Berufsmotivation folgen können: sie wollen Menschen helfen. Es gelte junge Menschen davon zu überzeugen, dass hier ein zukunftssicheres Berufsfeld existiere. Auch ArbeitgeberInnen im Gesundheitswesen müssten den Wandel der Lebensstile und die Forderungen nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf/Karriere verstärkt berücksichtigen.
3. Älteren Fachkräften muss der längere Verbleib im Gesundheitswesen ermöglicht werden.
Da der Verbleib im Beruf bis zum 65. Lebensjahr psychisch und physisch kaum zu schaffen sei, verlassen viele Fachkräfte spätestens mit 50 Jahren ihr Tätigkeitsfeld, um sich beruflich neu zu orientieren. Später hätten sie dazu kaum noch die Chance. Aus diesem Grunde seien die Tätigkeitsfelder auszubauen, wo die Erfahrung von Pflegefachkräften unverzichtbar ist: z.B. im Dokumentationsbereich, im Medizinischen Dienst, in den Pflegestützpunkten und Beratungsstellen, in der integrierten Versorgung.
Zur Attraktivitätssteigerung für Jüngere und Ältere bedarf es darüber hinaus folgender politischer Maßnahmen, u.a.:
- einen allgemeinen Mindestlohn im Gesundheitswesen
- Tarifeinheit im Betrieb
- einen Ausbau der integrierten Versorgung mit entsprechend neuen Personalbedarfsplanungen und Organisationsstrukturen
- Ausbau der Telemedizin.
Diese Veranstaltung war der Auftakt zu weiteren Dialogen mit den Beschäftigten im Gesundheitswesen, die im Jahr 2011 fortgesetzt werden.