Sie waren 3, 4, 7 oder 16 Jahre alt, als ihr Leben in Folge des Angriffs von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion dramatisch verändert wurde. In ihren Dörfern erlebten sie Verfolgung und Hunger, sie wurden zusammen mit ihren Müttern und Großmüttern in Zügen zusammengepfercht und über Estland, Lettland, Finnland nach Deutschland in Arbeitslager gebracht. Ihre Mütter und Großmütter arbeiteten als Zwangsarbeiterinnen unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Rüstungsindustrie und auf Großbaustellen, bei der Eisenbahnbehörde, im Handwerk, der Landwirtschaft oder Privathaushalten. Auch die Jugendlichen wurden zur Fron einbezogen, die Kinder in den Lagern sich selbst überlassen. Die Überlebenden kehrten nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 in die Heimat zurück. Sie alle blieben ihr Leben lang gezeichnet. Die meisten trugen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und schwere Traumata davon.
Die Podiumsdiskussion „Geraubte Kindheit - Russische Jugendliche in deutschen Arbeitslagern“ am 20. Februar mit den Zeitzeugen Nina Rudakova und Michail Sacharow, die in ihrer Kindheit selber den Aufnäher „Ost“ trugen, mit Prof. Wolfgang Wippermann, Historiker, Ruth Keseberg-Alt von den Caritas-Konferenzen Diözesanverband Berlin e.V. und Mechthild Rawert, Mitglied des Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement im Deutschen Bundestag, bewegte mehr als 150 TeilnehmerInnen in den Veranstaltungssaal des Bernhard-Lichtenberg-Hauses. Moderiert wurde die Veranstaltung von Joachim Jauer, ehemaliger ZDF-Korrespondent.
Mit ergreifenden Worten schilderten die ZeitzeugInnen ihre Kindheit und ihre weiteren Lebenswege. Die von Michail Gorbatschow herbeigeführte Politik von Glasnost und Perestroika ermutigte die mittlerweile Altgewordenen, in St. Petersburg die Selbsthilfegruppe „Kindheit mit dem AUFNÄHER OST“ zu gründen und zumeist erstmalig über ihre Kindheitserfahrungen zu reden. Diese Lebenszeugnisse wurden im Jahr 2000 in einem Buch veröffentlicht. Dank dem hohen Einsatz der ehrenamtlich tätigen Frauen und Männern der Caritas-Konferenzen und vieler anderer ist die deutschsprachige Übersetzung gelungen. Ihnen allen gehört mein großer Dank.
Ob die Politik ein solches ehrenamtliches Engagement auch weiterhin fördere, lautete die Frage die Moderators an Mechthild Rawert. Ja, das tue sie vielfach, über Projektförderungen, in Geschichtswerkstätten, etc.. Das Wesentliche ist aber das bürgerschaftliche Engagement vieler. Hinsichtlich der Entschädigungsleistungen der vergangenen Jahrzehnte ist zu konstatieren, dass osteuropäische Opfergruppen wie z.B. die ZwangsarbeiterInnen in den Entschädigungsgesetzen oder auch eingerichteten Stiftungen häufig benachteiligt worden sind. Kinder von Zwangsarbeiterinnen sind eine bis dato unbekannte Opfergruppe. Auch diese Veranstaltung zeigt, dass es von herausragender Bedeutung ist, für ein „Nie wieder Nationalsozialismus!“ einzutreten. Deutliches Zeichen aus der Zivilgesellschaft stellte die erfolgreiche Gegenwehr gegen die Aufmärsche der Nazis in Dresden dar.
Der Band „Geraubte Kindheit - Russische Jugendliche in deutschen Arbeitslagern“, Hrsg. Angelika Westphal und Ruth Keseberg-Alt, 2011, ist erschienen bei zba.Buch und kann auch dort bezogen werden. Infos unter: Tel: 030 / 214 78 317/-19, E-Mail: info@zba-buch.de, www.zba-buch.de. Anhand von Einzelschicksalen aus Russland gibt das Buch Auskunft über das Schicksal von über 13 Millionen „Fremdarbeiter“, Kriegsgefangenen oder KZ-Häftlingen, die nach Deutschland verschleppt wurden. Weitere 7 Millionen wurden von der Wehrmacht in den besetzten Gebieten zur Zwangsarbeit eingesetzt.