Persönlich habe ich die Neutralität zwischen Staat und Kirche nicht verletzt gefühlt, nur weil Papst Benedikt XVI. im Plenarsaal des Deutschen Bundestages eine Rede hält. Sollte dieses protokollarisch eine Herausforderung (gewesen) sein, freue ich mich auf Rednerinnen und Redner anderer Religionsgemeinschaften am gleichen Orte. Schließlich suche auch ich Kirchen, Moscheen und Synagogen auf und das nicht nur als Privatperson sondern auch als gewählte Volksvertreterin, als Parlamentarierin.
In Deutschland herrscht das Recht auf freie Meinungsäußerung - für Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Plenarsaal als auch außerhalb, für Anhängerinnen und Anhänger der katholischen Kirche ebenso wie für deren Kritikerinnen und Kritiker. Das ist in einer Demokratie selbstverständlich. Die inhaltliche Kritik derjenigen, die auf dem Potsdamer Platz zeitgleich zur Rede an einer Gegendemonstration teilgenommen haben, stimmt ja. Gerade dem christlichen Glauben verbundene Menschen wissen um die Notwendigkeit, dass sich die Katholische Kirche zur Welt hin öffnen muss - nicht nur in Deutschland: Die von der Katholischen Kirche verkündeten Männer- und Frauenrollen entsprechen nicht den Kriterien von Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit. Viele Frauen wollen auch in der Katholischen Kirche nicht nur als Laiinnen tätig sein, sondern wollen mehr Mitbestimmung. Einige wünschen sich den Zugang bis hin zum Priesteramt. Die fehlende Achtung der individuellen sexuellen Identität und die mangelnde Anerkennung von homosexuellen Menschen ist diskriminierend. Die Sexualmoral der Katholischen Kirche, das Verbot von Verhütungsmitteln ist für Deutschland gelinde gesagt antiquiert; für ganze Regionen der Welt ist es sogar lebensgefährlich und daher abzulehnen.
Papst Benedikt XVI. und/oder der Gelehrte Josef Ratzinger?
Vor der Frage „Wegbleiben oder Teilnehmen“ habe ich im Vorfeld des 22. September nicht gestanden. Ich war gespannt auf die Rede von Papst Benedikt XVI. - als Parlamentarierin und Christin. Als Parlamentarierin stimme ich dieser gehaltenen Rede vollauf zu, als Christin bin ich ein wenig verloren zurückgelassen. Habe ich zu viel erwartet?
Ja, wir Politikerinnen und Politiker sollten uns wie König Salomon ein „hörendes Herz“ wünschen und damit „die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden“. Wie andere Verantwortungs- und EntscheidungsträgerInnen auch dürfen wir nicht nur auf Erfolg oder materiellen Gewinn aus sein. Ein wenig offen blieb die Aussage meiner Meinung aber schon, denn damit gemeint sein kann ja nicht in erster Linie der jeweilige Wille zur politischen Gestaltung. Ich finde es richtig, daran erinnert zu werden, dass es auch in einer Demokratie - zu deren Wesen es gehört mit Mehrheitsvoten zu entscheiden - Grenzen gibt, die außerhalb dieser Entscheidungsmechanismen sind. So kann nicht über Menschenwürde, kann nicht über Menschenrechte abgestimmt werden, da diese einen eigenen unveräußerlichen Wert haben.
Gerade als Sozialdemokratin, die durch Politik die Werte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ausgestalten möchte, stimme ich den Aussagen: „Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet“, „Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen“ oder „Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers“ zu.
Intellektuell anregend waren auch die Ausführungen zu Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen. Zeitweise habe ich mich allerdings wie in einem Hörsaal gefühlt bzw. wie in einer normalen Plenarsitzung, nur dass es keine Zwischenrufe oder eine Aussprache gab.
Am Gesagten ist nichts auszusetzen. Das Nichtgesagte ist es, was mir zu denken und zu fühlen gibt. Im Nachhinein habe ich gemerkt: Als Christin habe ich mir mehr erhofft, habe ich auf mehr - nicht nur innerkirchlichen - Klartext gewartet: Auf ein Bekenntnis zu mehr Ökumene. Auf ein Versprechen an Menschen anderer Religionen zu einem achtungsvollen und friedlichen Zusammenleben. Auf ein Anprangern der weltweit ungerechten Armuts- und Reichtumsentwicklung. Auf klärende Worte zu einem anderen Umgang mit sich wiederverheiratenden Geschiedenen. Auf eine Entschuldigung bei den Opfern von sexuellem Missbrauch, denn ich glaube nicht, dass ohne die Rigidität der katholischen Sexuallehre weltweit so viele Übergriffe in katholischen Institutionen möglich gewesen wären, dass auch so viele Priester schuldig wurden. Gewartet habe ich auf mehr Antworten auch auf die Fragen und Kritiken der Demonstrierenden.
Noch ungeklärt
Seine viertägige Reise nach Deutschland hat Papst Benedikt XVI. mit einem Rätsel beendet: Er hat eine Neuausrichtung der katholischen Kirche gefordert und dabei die Zusammenarbeit mit dem Staat in Frage gestellt. Was meint er damit?