Am 16. Mai fand das „AOK-Forum-live“ statt, welches sich an EntscheidungsträgerInnen aus Politik, Interessenvertretungen, LeistungserbringerInnen, Gewerkschaften etc. richtete. Die Intention dieser von der AOK-Nordost organisierten Veranstaltungsreihe ist eine offene und intensive Diskussion aktueller Gesundheitsthemen. Das Thema dieses Forums lautete "Baustelle Pflegversicherung - Gerechte Leistungen und Nachhaltigkeit der Finanzierung". Podiumsgäste waren Michael Büge, Staatssekretär für Soziales in Berlin, Klaus-Dieter Voß, ehemaliger Vorstand des GKV-Spitzenverbandes, der sich derzeit zusammen mit dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung, Wolfgang Zöller, den Vorsitz des „Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs" teilt, und ich.
Finanzierung der Pflegeversicherung
Bereits im Impulsreferat habe ich deutlich gemacht, dass das sich in der parlamentarischen Beratung befindliche PNG nicht den Anforderungen an eine nachhaltige Pflegereform genügt - weder qualitativ noch monetär.
Der Gesetzentwurf löst mit der ab dem 01.01.2013 vorgesehenen Beitragserhöhung von 0,1 Prozent die Finanzierungsprobleme nur bis 2014/2015 bei nachwievor unzureichenden Leistungsangeboten. Eingeführt werden soll auch der von mir strikt abgelehnte „Pflege-Bahr“. Viele GeringverdienerInnen werden sich eine zusätzliche private Absicherung des Pflegerisikos schlichtweg nicht leisten können. Der „Pflege-Bahr“ ist unsolidarisch.
Die so generierten 1,1 Milliarden stehen einem tatsächlichen finanziellen Bedarf von mindestens 4 Milliarden Euro für bessere Pflegeleistungen für die wachsende Zahl Demenzkranker gegenüber. Laut SPD-Bundestagsfraktion brauchen wir auch noch eine Milliarde Euro für ein neues "Pflegegeld" für Personen, die ihre Berufstätigkeit zur Pflege eines Angehörigen vorübergehend einschränken oder aufgeben müssen. Diese sollen für längstens sechs Monate einen Verdienstausfall in Höhe von 67 Prozent erhalten. Benötigt werden weitere 500 Millionen Euro für den Ausbau kommunaler Pflegeberatungsstellen, 400 Millionen Euro als Lohnersatzleistung für die Angehörigen, die in akuten Fällen Kurzzeitpflege leisten, 100 Millionen Euro als Zuschüsse für den behindertengerechten Umbau von Wohnraum. Außerdem sind Präventions- und Reha-Maßnahmen zu stärken.
Eine nachhaltige Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung wird es nur mit der solidarischen Bürgerversicherung geben, wie sie die derzeitigen Oppositionsparteien und die Gewerkschaften sowie viele WissenschaftlerInnen präferieren.
Keine pauschalen Diskreditierungen!
Energisch habe ich mich auch gegen die von Michael Büge vorgenommenen Diffamierungen der ambulanten Pflegedienste positioniert. Alle rund 560 ambulanten Pflegedienste in Berlin zu schwarzen Schafen zu erklären und ihnen kontinuierlichen Abrechnungsbetrug zu unterstellen, halte ich für eine Frechheit. Mit Äußerungen dieser Art wird das Arbeitsfeld Pflege nur unattraktiver für junge Menschen und in der Pflege Tätige fühlen sich wenig wertgeschätzt in ihrer Arbeit.
Im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion standen folgende Fragestellungen:
1. Im Jahr eins nach dem Jahr der Pflege liegt nun eine Reform der Pflegeversicherung auf dem Tisch - zum 1. Januar 2013 soll sie in Kraft treten. Welche Probleme in der Pflege löst das Gesetz denn Ihrer Meinung nach nicht?
Ich halte das „Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (PNG)“ für mutlos, da es weder die aktuellen Pflegeherausforderungen noch die einer Gesellschaft des längeren Lebens energisch angeht. Auch das Hauptversprechen, das ambulante Leistungsangebot für Demenzkranke umfassend zu verbessern, wird nicht in Erfüllung gehen. Es gibt zwar finanzielle Erhöhungen für die Pflegestufen 0 bis II, pflegebedürftige Demenzkranke in der Pflegestufe III erhalten aber keine Aufstockung. Nichts ist vorgesehen für Demenzerkrankte in stationären Einrichtungen. ÄrztInnen erhalten Zuschüsse, damit diese Hausbesuche in Heimen machen. Ich glaube hier nicht an einen durchschlagenden Erfolg, vielmehr präferiere ich die Festanstellung von ÄrztInnen in den Heimen selbst nach dem „Berliner Modell“. Grundsätzlich ist zu kritisieren, dass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in dieser Legislaturperiode nicht umgesetzt werden wird. Mit dem damit verbundenen neuen Begutachtungsverfahren sollte eine Ablösung von der Minutentaktpflege erfolgen, Pflegebedürftigkeit sollte sich nicht lediglich an körperlichen, sondern auch an kognitiven oder psychischen Einschränkungen orientieren. Im Mittelpunkt steht der Grad der Hilfebedürftigkeit bei den täglichen Verrichtungen.
2. Ohne das Engagement pflegender Angehöriger würde das System der häuslichen Pflege zusammenbrechen. Was ist Ihrer Meinung nach zu tun, um pflegende Angehörige weiter zu entlasten?
Zwei Drittel der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause gepflegt, die meisten ausschließlich von Angehörigen. Angehörige und Ehrenamtliche leisten einen unentbehrlichen Beitrag in der Pflege. Ohne dieses Engagement der Angehörigen und auch ohne das ehrenamtliche Engagement von z.B. Nachbarschaftshilfen oder in stationären Einrichtungen kann Pflege nicht auskommen. Die Unterstützung einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege und die Förderung des ehrenamtlichen Engagements sind bei der Bewältigung der zukünftigen Pflegeaufgaben unerlässlich.
Die erst 1995 eingerichtete Pflegeversicherung ist als Teilkaskoversicherung konzipiert, ehrenamtliche Pflegetätigkeit war von vorneherein einkalkuliert. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion müssen unter anderem
- die Pflegeberatung ausgebaut werden: Prävention und Gesundheitsförderung, Wohnberatung und Beratung von Wohnanpassungsmaßnahmen bis zur Information über technische Assistenzsysteme sind anbieten. Pflegeberatung muss auch Menschen mit Migrationshintergrund erreichen und barrierefrei und aufsuchend sein. Stärker zu fördern sind neue Wohnformen mit vielfältigen Betreuungsangeboten insbesondere im Hinblick auf Angebote für dementiell Erkrankte
- eine Förderung assistenzgestützter Systeme erfolgen: Entscheidend wird sein, dass Assistenzsysteme bei den Pflegebedürftigen und Angehörigen auf Akzeptanz stoßen und leicht anwendbar sind. Die Finanzierung sinnvoller und anerkannter Assistenzsysteme sollte als Pflichtleistung in das SGB XI aufgenommen werden
- alternative Wohn- und Lebensformen gefördert werden: Stärker gefördert werden müssen neue Wohnformen wie ambulant betreute Wohngemeinschaften und Mehrgenerationenwohnen mit vielfältigen Betreuungsangeboten. Die Pflegekassen sollten alternative Versorgungs- und Wohnkonzepte mit neuen Leistungs- und Leistungserbringerformen erproben können, vor allem auch Projekte unterstützen können, die die gesellschaftliche Teilhabe von älteren Menschen und Pflegebedürftigen erhöhen
- Pflegepersonen entlasten, die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf erleichtern: Pflegende Angehörige und andere Pflegepersonen sind stärker zu entlasten. Angehörige sollen analog zum Kinderkrankengeld bei plötzlich eintretender Pflegebedürftigkeit einen Anspruch auf Lohnersatzleistung für die bis zu zehn Tagen bestehende Freistellungsmöglichkeit nach dem Pflegezeitgesetz für privates Pflegemanagement beanspruchen können.
3. Ohne die Profis geht es aber auch nicht - wie kann das Image und die Attraktivität des Pflegeberufs verbessert werden? Spielt da nur das Gehalt eine Rolle?
Es ist ein Alarmsignal, dass derzeit nur drei bis sechs Prozent der SchulabgängerInnen einen Pflegeberuf wählen. Neben den belastenden Arbeitsbedingungen und der oft zu geringen Vergütung trägt dazu bei, dass schon Schülerinnen und Schüler genau merken, wie wir als Gesamtgesellschaft über das Alter kommunizieren und das die Behandlung Älterer noch immer zu sehr verdrängt ist.
Fakt ist, dass sich die Anforderungen an die berufliche Qualifikation in der Pflege verändern, unter anderem nehmen die chronischen Erkrankungen, Multimorbidität und Demenz zu. Eine moderne Pflegeausbildung sollte als generalisierte Ausbildung erfolgen und Pflegefachkräfte sollten altersgruppenübergreifend für präventives, kuratives, rehabilitatives, palliatives und sozialpflegerisches Handeln qualifiziert werden. Die vertikale und horizontale Durchlässigkeit in der „Bildungslandschaft Pflege“ muss gestärkt werden, gelten muss „kein Abschluss ohne Anschluss“. Dazu gehört auch der Ausbau einer akademischen Pflegeausbildung. Meiner Meinung nach ist keine „Imagekampagne“ so wirkungsvoll wie die Abschaffung des Schulgeldes. Die Finanzierung der Ausbildung sollte über einen Ausbildungsfondserfolgen, in den alle (vor allem auch die nicht-ausbildenden Pflegeeinrichtungen) einzahlen.
Das Ziel der SPD-Bundestagsfraktion ist, dass Menschen so lange als möglich in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können und an der Gesellschaft teilhaben und partizipieren können.