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Keine Krankheit und keine Störung

(Erschienen in der Berliner Stimme, 15.09.2012,Nr.17 S.12)

Mechthild Rawert fordert gleiche Rechte für intersexuelle Menschen
Wir alle wollen eine inklusive Gesellschaft. Wir wollen eine Gesellschaft, in der jeder Mensch respektiert wird, Anerkennung und Wertschätzung erfolgt. Das schließt die mehrdeutig geschlechtlichen, intersexuell geborenen Menschen mit ein. Denn: Intersexualität ist keine Krankheit und keine Störung. Das ist das Ergebnis der Stellungnahme „Intersexualität“ des Deutschen Ethikrates aber auch der von Mechthild Rawert im Gemeindehaus der Zwölf-Apostel-Kirchengemeinde in Schöneberg am 04. September durchgeführten Veranstaltung „Intersexuelle Menschen anerkennen - Selbstbestimmung im Identitätsgeschlecht“.

Wir alle müssen lernen: Nicht jedes Kind wird als „weiblich“ oder „männlich“ geboren. Schätzungen zufolge leben unter uns 10.000 bis 120.000 Menschen, die mehrdeutig geschlechtlich geboren wurden. Viele wurden in der Vergangenheit - zumeist vorschnell - schon als Säuglinge in ein Geschlecht hinein operiert, meistens in das weibliche. Den meisten wurden durch diese Operationen großes physisches und psychisches Leid zugefügt.

Als SPD-Bundestagsfraktion wollen wir das ändern. Wir unterstützen das Selbstbestimmungsrecht intersexueller Menschen, unterstützen ihren Anspruch auf Anerkennung ihres So-Seins und ihr Recht, ein Leben frei von Diskriminierung zu leben, medizinische und/oder hormonelle Behandlungen - wenn überhaupt - nur aus eigener Entscheidung heraus vornehmen zu lassen. Wir wollen auch Eltern eine ausreichende Unterstützung geben, mit dieser fast immer unerwarteten Situation fertig zu werden.

In einem Arbeitskreis diskutieren Kolleginnen aus den Arbeitsgruppen Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Recht, Inneres und Gesundheit darüber, wie wir den vielfältigen Herausforderungen gerecht werden.

Intersexuelle Menschen anerkennen
Über 100 Teilnehmende nahmen an der Veranstaltung teil. Das Besondere war: Hier diskutierten Menschen zusammen in einem Raum, die sich im Alltag nicht so ohne weiteres begegnet wären, und führten miteinander einen guten und produktiven Austausch.
„Mit der richtigen politischen Einstellung ist alles möglich!“ so der eigens seitens der Argentinischen Botschaft eingeflogene Pedro Mouratián, Beauftragter der argentinischen Regierung gegen Diskriminierung, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus (INADI). Im Beisein des argentinischen Botschafters Victorio Taccetti referierte er über die bedeutenden Fortschritte in der Menschenrechtspolitik Argentiniens, die auch Impulse für die deutsche Gesellschaft setzen kann. In Argentinien ist im Mai 2012 ein Gesetz über die freie Wahl der Geschlechtsidentität in Kraft getreten: Das Gesetz erhöht die Sichtbarkeit von intersexuellen Menschen. Es gibt keine geschlechtszuordnenden OP´s mehr im Säuglings- und Kindesalter. Jede Person kann selbst entscheiden, welcher Eintrag im Pass vorgenommen werden soll. Der Zugang zu selbstbestimmten Operationen oder Hormonbehandlungen im Jugend- oder Erwachsenenalter ist möglich und wird von den Krankenversicherungen getragen. Die Erfolge der argentinischen Menschenrechtspolitik trafen auf hohe Anerkennung und Zustimmung. Eine treffende Wortmeldung aus dem Publikum lautete: „Am anderen Ende der Welt wird uns vorgemacht, wie es geht!“
Schon zuvor hatten auch Dr. Katrin Bentele von der Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates, Simon Zobel vom Verein intersexueller Menschen e.V. und der Mediziner Dr. Jörg Woweries darauf verwiesen, dass niemand das Recht habe, einem anderen Menschen das Geschlecht „weiblich“ oder „männlich“ aufzuzwingen. Zobel plädierte dafür, die Kategorie Geschlecht neu zu denken und die Grenzen anders zu setzen. Woweries machte deutlich, dass Geschlechtsidentität nicht medizinisch herstellbar sondern ein Entwicklungsprozess ist. Bentele erklärte, dass vor allem der Druck von den Eltern und ÄrztInnen genommen werden müsse, einen mehrdeutig geborenen Säugling umgehend operativ auf ein Geschlecht festzulegen. Vielmehr gelte: Auch diese Kinder haben das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Selbstbestimmung. Der Ethikrat schlägt neben einem weitgehenden Verbot dieser Operationen eine Änderung des Personenstandsrechts vor. Neben „weiblich“ und „männlich“ soll eine dritte Kategorie „anderes“ eingeführt werden.

Politik nah an den BürgerInneninteressen
Die Veranstaltung war ein direktes Ergebnis des Sommerfrühstücks mit der Queer-Community in der schon traditionellen Reihe „Auf ein Wort Frau Rawert“. Hier entstand die Idee, das Thema Intersexualität stärker in die Öffentlichkeit zu bringen und so zum gesellschaftlichen Bewusstseinswandel beizutragen. Zusammen mit Frater Franziskus vom Rogate-Kloster St. Michael zu Berlin und Hermann Zeller, queerpolitischer Sprecher in der SPD-Fraktion der BVV Tempelhof-Schöneberg, war es möglich, diesem Wunsch nach politischer Gestaltung zügig zu entsprechen. Ungewöhnlich für eine Fraktion vor Ort-Veranstaltung war, dass zuvor eine Vesper in der Zwölf-Apostel-Kirche stattfand. Die Botschaft von Frater Franziskus lautete: „Gott ist mit den Minderheiten“. Auch wir als Sozialdemokratie machen uns für die Menschenrechte stark - gemeinsam wird es uns gelingen.