Nach dem heiß diskutierten Stern-Artikel über den FDP-Fraktionsvorsitzenden Rainer Brüderle, hatte die 31-jährige Berlinerin Anne Wizorek alle Frauen auf Twitter dazu aufgerufen, über ihre Erlebnisse mit Sexismus und sexueller Belästigung zu berichten. Zehntausende nutzten diese Plattform, um sich zum alltäglichen Sexismus in unserer Gesellschaft zu äußern. Unter dem Sammelbegriff „#Aufschrei“ berichteten Sie von ihren Schicksalen und Erfahrungen, sowie über ihre ganz persönlichen Empfindungen. Dabei wurden Problemsituationen in unserer Gesellschaft geschildert, aber auch mögliche Lösungsansätze zur Überwindung des Ungleichgewichtes zwischen der Wertschätzung der Geschlechter dargestellt.
Mit ihrer Aktion hat Anne Wizorek eine „alte“ politische Debatte „neu“ angestoßen und ist damit selbst zum Gesicht eines neuen, jungen Feminismus geworden. Der Kampf gegen Sexismus und für einen gleichgestellten Umgang auf Augenhöhe ist seit langem Bestandteil sozialdemokratischer Politik. Folgerichtig organisierte die SPD-Bundestagsfraktion eine spannende Veranstaltung zur Frage Gleichberechtigung.
„Wie sexistisch ist unsere Gesellschaft?“
Auf Grundlage des öffentlichen Aufschreis fand am 20. Februar ein öffentliches Fachgespräch zum Thema: „Wie sexistisch ist unsere Gesellschaft“ im SPD-Fraktionsvorstandssaal im Deutschen Bundestag statt. Gekommen waren überwiegend junge Menschen, vor allem viele junge Frauen. Neben Christine Lambrecht, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, und Burkhard Lischka, rechtspolitischer Sprecher, diskutierten als Impulsgeberinnen Anne Wizorek, Initiatorin der Twitter-Aktion #Aufschrei, Frau Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, und Frau Karin Schwendler, bei ver.di Leiterin des Bereichs Frauen und Gleichstellungspolitik, mit den Teilnehmenden unter dem Motto: „Tabu gebrochen - Betroffene melden sich zu Wort“.
Christine Lambrecht führte mit den folgenden Fragestellungen ein: „Wo fängt Belästigung an? Was muss sich ändern und was kann die Politik tun? Warum gibt es so wenig Frauen in Führungspositionen?“ Damit sei ein Tabu zerbrochen. Diese gesellschaftliche Aufbruchsituation müsse zur Klärung genutzt werden, wie und in welcher Form Frauen und Männer Sexismus heute erleben.
Für Anne Wizorek ist klar: Dass die Diskussion über den alltäglichen Sexismus in Deutschland so intensiv geführt wurde und wird, läge auch am Internet, am Wesen der social media. Hier trauten sich viele, teilweise zum ersten Mal, offen über ihre Erfahrungen zu berichten. Jede aktive Teilnehmerin finde hier ein offenes Ohr. Frau Wizorek versuchte deutlich zu machen, dass zwar überwiegend Frauen Opfer von sexueller Belästigung sind. Aber auch Männer fänden sich zunehmend in der Rolle des Opfers wieder. Einhellige Meinung der Anwesenden: In der heutigen Gesellschaft darf das Thema Sexismus kein Tabu-Thema mehr sein. Die Situation müsse sich seitens der Täter ändern, nicht seitens der Opfer.
Für diese Haltung kommt Unterstützung von Christine Lüders und Karin Schwendler: Das Thema Sexismus spielt in allen Bereichen der Gesellschaft eine Rolle. Unabhängig von Branche oder beruflicher Position kann sexuelle Belästigung auch am Arbeitsplatz erfolgen. Am häufigsten tritt sie in Abhängigkeitsverhältnissen auf. In diesen Fällen ist der Arbeitgeber in der Pflicht, für Abhilfe zu sorgen. Mögliche Maßnahmen reichen von Abmahnungen oder Versetzungen bis hin zu fristlosen Kündigungen. Für die Opfer sei es eine schwierige Situation, wenn sich die als Täter einzustufende Person in der Rolle des/der Vorgesetzten befindet. Die Arbeitnehmerin, der Arbeitnehmer steht unter zusätzlichen Druck. Für diese Fälle ist die Belästigte jedoch ausreichend durch gesetzlich vorgeschriebene Verhaltensmaßnahmen geschützt. Das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), dass es in Deutschland seit 2006 gibt, verbietet Diskriminierung jeglicher Art (wie z.B. Herkunft, Geschlecht, sexueller Identität, etc.) und schreibt vor, dass sexuell bestimmtes Verhalten die Würde der Betroffenen verletzt. Sanktionen sind also möglich!
Häufig suchen die Opfer aber erst nach mehrmaligem Missachten der gesetzlich vorgeschriebenen Verhaltensregeln durch die „Täter“ eine Anlaufstelle auf. Findet eine Belästigung am Arbeitsplatz statt, sind je nach Größe des Betriebes Vertrauensstellen eine Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen und Ängste offenzulegen. Das Problem ist oftmals die Unkenntnis über die Verfügbarkeit dieser Einrichtungen.
Ein weiteres Problem stellt die Anerkennung der Opferrolle dar. Viele der Betroffenen suchen zunächst den Fehler in ihrem eigenen Verhalten. Es kommen Fragen auf wie: „Habe ich mich zu aufreizend angezogen?“ oder „Habe ich Andeutungen gemacht?“. In der Regel sind diese Überlegungen nicht zutreffend. Der Kleidungsstiel alleine kann und darf keine Rechtfertigung für sexuelle Belästigung darstellen. Schamgefühl, innere Ohnmacht, vermindertes Selbstwertgefühl und psychosomatische Störungen sind nur beispielhafte Folgen, die die Betroffenen erleiden können.
Ein Umdenken in der Gesellschaft erfolgt nicht von heute auf morgen. Es lohnt aber das Bestreben, sich dieser Thematik nicht zu verschließen und aktiv am Sensibilisierungs- bzw. Entwicklungsprozess mitzuwirken. Bereits im Kindesalter kann das Bewusstsein gegenüber den Begriffen der Zivilcourage oder Gleichberechtigung gestärkt und geprägt werden. Dies sollte sowohl von den Erziehungsberechtigten als auch von den Bildungsinstitutionen vermittelt werden. Der umfassenden Gleichstellung der Frauen in der Gesellschaft muss mehr Bedeutung zugewiesen werden. Sozialdemokratische Politik versucht dies, unter anderem durch die Umsetzung einer gesetzlichen Frauenquote zu bewerkstelligen. Betriebliche Kulturen ändern sich, wenn mehr Frauen in Führungspositionen sind.
Burkhard Lischka machte deutlich, dass diese Diskussion keine Eintagsfliege bleiben darf. Diese Veranstaltung sollte lediglich als erste Bestandsaufnahme dienen. Eine Formulierung von Handlungserfordernissen soll auf einer weiteren Veranstaltung am Mittwoch, 27. Februar, erfolgen. Er zitierte aus einem vor 35 Jahren veröffentlichten Artikel, der heute in gleicher Form geschrieben werden könne. Unsere Gesellschaft braucht weibliche und männliche Rollenvorbilder, die sich offen dazu bekennen, gegen den Sexismus unserer Gesellschaft zu kämpfen, die sich für einen gesellschaftlichen Fortschritt in Richtung Gleichstellung auch beim Umgang zwischen Frauen und Männern einsetzen.
Fazit: Jede und jeder weiß, wann Grenzen überschritten werden!
Yvonne Paschek,
Studentin der Pflegewissenschaften an der Katholischen Fachhochschule Köln