Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen dafür, intersexuelle Menschen endlich als gleichberechtigten Teil unserer vielfältigen Gesellschaft anzuerkennen. Es muss Schluss gemacht werden mit der Einschränkung ihrer Menschen- und Bürgerinnenrechte. Das macht die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Antrag „Rechte intersexueller Menschen stärken“ (Drs. 17/13253) deutlich. Als Berichterstatterin der AG Gesundheit der SPD-Bundestagsfraktion habe ich an diesem Antrag aktiv mitgewirkt. In meiner „Fraktion vor Ort“ Veranstaltung „Intersexuelle Menschen anerkennen“ am 4. September 2012 in Schöneberg habe ich viele wichtige Impulse gewonnen, die ich auch in die Antragsberatung einbringen konnte. An dieser waren Kolleginnen der Arbeitsgruppen Familie, Senioren, Frauen und Jugend (federführend), Gesundheit, Inneres, Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie Recht beteiligt.
Als intersexuell werden Menschen bezeichnet, bei denen Chromosomen und innere oder äußere Geschlechtsorgane nicht übereinstimmend einem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden können oder die in sich uneindeutig sind. Wissenschaftlichen Studien zufolge werden in Deutschland pro Jahr etwa 150 bis 340 Kinder geboren, deren biologisches Geschlecht nicht eindeutig ist. Die Gesamtzahl der Menschen mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ (Schweizer Ethikrat, Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission Humanmedizin 20/2012) liegt nach Angaben der Bundesregierung bei etwa 8.000 bis 10.000 (Drucksache 16/4786). Die Verbände der Intersexuellen sprechen allerdings von einer deutlich höheren Personenzahl.
Trotz dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse bleiben intersexuelle Menschen gesellschaftlich ausgegrenzt. Viele haben physisches und psychisches Leid erfahren und erleben es noch heute. Im Besonderen wurden und werden intersexuelle Menschen in ihren Menschenrechten auf körperliche Unversehrtheit, auf Selbstbestimmung und Nicht-Diskriminierung verletzt. Deshalb werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sie in diesen Rechten und ihrem Anspruch auf Anerkennung unterstützen und bestärken.
Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf:
- sicherzustellen, dass geschlechtszuweisende und -anpassende Operationen an minderjährigen intersexuellen Menschen vor deren Einwilligungsfähigkeit verboten werden. Dabei muss gewährleistet sein, dass eine alleinige stellvertretende Einwilligung der Eltern in irreversible geschlechtszuweisende Operationen ihres minderjährigen Kindes - außer in lebensbedrohlichen Notfällen oder bei Vorliegen einer medizinischen Indikation - nicht zulässig ist. Eine medizinische Indikation muss von einem qualifizierten interdisziplinärem Kompetenzzentrum zur Diagnostik und Behandlung bestätigt werden;
- sicherzustellen, dass - unter der Voraussetzung der Einwilligungsfähigkeit - dem ausdrücklichen Wunsch intersexueller minderjähriger Jugendlicher nach geschlechtszuweisenden Operationen Rechnung getragen wird. Im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) ist klarzustellen, dass die Bestellung eines geeigneten Verfahrensbeistandes in der Regel immer erforderlich ist. Darüber hinaus ist zu prüfen, welche weiteren bestehenden straf- und zivilrechtlichen Regelungen entsprechend zu verändern sind, um den erklärten Willen der/des intersexuellen Minderjährigen umzusetzen;
- sicherzustellen, dass intersexuelle Menschen stets in ein qualifiziertes interdisziplinäres Kompetenzzentrum zur Diagnostik und Behandlung vermittelt werden;
- dafür Sorge zu tragen, dass intersexuellen Menschen, die in ihrer Kindheit operiert worden sind, die Kosten für daraus resultierende Hormonbehandlungen sowie psychotherapeutische Unterstützung von den Krankenkassen erstattet werden;
- den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) aufzufordern, zu prüfen, ob intersexuelle Menschen bei einer erforderlichen Hormonersatztherapie in die sogenannte Chronikerregelung aufgenommen werden können;
- gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen, der Ärzteschaft und den Antidiskriminierungsstellen des Bundes und der Länder ein unabhängiges Beratungs- und Betreuungsangebot für betroffene Kinder, deren Eltern, betroffene Heranwachsende und Erwachsene zu schaffen und dabei die Beratungs- und Selbsthilfeeinrichtungen der Betroffenenverbände einzubeziehen;
- zügig für eine Präzisierung des vom Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 verabschiedeten Personenstandsrechts-Änderungsgesetz (Drs. 17/10489) zu sorgen, da die Neuregelung des § 22 PStG im Geburtenregister zu einer Fülle von ungeklärten Folgewirkungen auf alle Folgedokumente sowie weitere Rechtsgebiete geführt hat;
- dafür Sorge zu tragen, dass intersexuelle Menschen eine vereinfachte Änderungsmöglichkeit der Vornamen sowie der ursprünglich durch ihre Eltern vorgenommenen Geschlechtskategorisierung erhalten, wenn diese nicht mehr mit der eigenen Geschlechtsidentität übereinstimmt. Dabei muss ein effektives Offenbarungsverbot gewährleistet werden;
- im Zusammenspiel mit den Ländern die Standesämter entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Dezember 2008 (1 BvR 576/97) anzuweisen, dass auch geschlechtsneutrale Vornamen zu akzeptieren sind;
- sich für einheitliche ärztliche Leitlinien zur Intersexualität auf aktuellem medizinisch wissenschaftlichem Erkenntnisstand einzusetzen, die sich auch an den „Ethischen Empfehlungen und Grundsätzen bei DSD“ (Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität „Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung“ veröffentlicht in: „Monatszeitschrift Kinderheilkunde, März 2008) orientieren;
- den Dialog mit den zuständigen Bundes- und Landeskammern der Ärzte und Psychotherapeuten sowie der Hebammenverbände mit dem Ziel aufzunehmen, entsprechende Curricula in Ausbildungs- und Prüfungsordnungen um das Thema Intersexualität, in denen ebenso die Perspektive der intersexuellen Menschen vorkommt, zu ergänzen, und das Thema stärker im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsangeboten zu berücksichtigen;
- bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass das Thema Intersexualität ein fester Bestandteil der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowohl von Erzieherinnen und Erziehern als auch von Lehrerinnen und Lehrern wird - somit soll gewährleistet werden, dass in Kindertageseinrichtungen und im Schulunterricht, beispielsweise in den Fächern Biologie, Sozialkunde oder Ethik, ein angemessener Umgang mit Intersexualität und geschlechtlicher Vielfalt vermittelt wird;
- im Zusammenspiel mit den Ländern, Kommunen und freien Trägern die Fachkräfte in den Bereichen Verwaltung, Sport, Polizei und Justiz für die Belange intersexueller Menschen stärker zu sensibilisieren;
- bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass die Fristen für die Aufbewahrung der Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich auf mindestens 40 Jahre ab Volljährigkeit verlängert werden und intersexuellen Menschen ein ungehinderter Zugang zu ihren Krankenakten gewährleistet wird;
- die Selbsthilfe von intersexuellen Menschen zu stärken;
- eine Forschungsstudie im Auftrag zu geben, die das an intersexuellen Menschen begangene Unrecht dokumentiert und dem Bundestag einen Bericht bis zum 31. Dezember 2015 vorzulegen;
- den Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes regelmäßig um ein Kapitel zu ergänzen, in dem die Lebenssituation von Menschen verschiedener Geschlechtsidentitäten bzw. sexueller Orientierungen dargestellt wird;
- weitere wissenschaftliche interdisziplinäre Forschungen zum Thema Intersexualität unter Beteiligung von Kultur-, Gesellschaftswissenschaften sowie der Betroffenenverbände zu fördern