Unter dem Titel „Global Care Chains: Why should we care?“ beleuchteten GewerkschafterInnen und WissenschaftlerInnen das Phänomen der „Pflegeketten“. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte ExpertInnen aus Chile, Philippinen, Südafrika, Uruguay, Israel, Bolivien, Hong Kong, Belgien, Tschechien, Polen, Südkorea und Deutschland eingeladen. Pflegeketten bedeuten, dass auch in Deutschland zunehmend Arbeitsmigrantinnen als „Hausangestellte“ in privaten Haushalten Betreuungs-, Haushalts- und Pflegeaufgaben übernehmen. In diesen - oft nicht legalen - Pflegearrangements gilt das Geschlecht als Ressource und nicht die Ausbildung oder Profession der Frauen. An den „Care-Ketten“ beteiligt sind fast ausschließlich Frauen. Es entstehen widersprüchliche Abhängigkeiten. Befürchtet wird eine Abwertung von Care-Arbeit insgesamt. Eine Kette besteht häufig aus drei oder mehr Frauen, wobei in jeder Care-Stufe der Lohn abnimmt und die letzte Betreuerin oft unbezahlt tätig ist. Während frau hier in häufig prekären und auch irregulären Beschäftigungsverhältnissen arbeitet, werden die eigenen Kinder oder pflegenden Angehörigen im Heimatland von anderen Frauen betreut. Im beispielsweise deutschen Zielland werden so Versorgungslücken geschlossen, im Herkunftsland dagegen neue geschaffen.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung reagiert mit dieser zweitägigen Fachtagung am 22./23. Oktober 2014 gleich auf mehrere beobachtbare Phänomene:
- In unserer älter werdenden Gesellschaft wächst in privaten Haushalten der Bedarf nach hauswirtschaftlicher Unterstützung, nach personenbezogener Betreuung und nach pflegerischen Leistungen. Die meisten älteren und hochaltrigen Menschen möchten so lange als möglich in ihrem häuslichen Umfeld bleiben. Angehörige möchten ihnen dieses auch ermöglichen, können es aber angesichts einer häufig notwendigen „Rund-um-die-Uhr-Versorgung“ aufgrund eigener zeitlicher Eingebundenheiten nicht alleine leisten - schon gar nicht, wenn sie für 24 Stunden drei Fachkräfte bezahlen sollten.
- In Deutschland existiert ein wohlfahrtstaatliches Regime, welches sehr auf die zumeist von Frauen erbrachte unbezahlte familiale Sorge- bzw. „Care-arbeit“ setzt. Für eine stabile häusliche Versorgung fehlt es flächendeckend an niedrigschwelligen und professionellen haushaltsnahen Dienstleistungsangeboten.
- Angesichts dieser Versorgungslücken wird über private Kontakte oder über eine der mittlerweile vielfältig existierenden „Vermittlungsagenturen“ nach Abhilfe gesucht. Keinesfalls jede der Vermittlungsagenturen für überwiegend Frauen aus mittel- bzw. osteuropäischen Ländern vermittelt gemäß der in Deutschland geltenden Arbeits- und Sozialgesetze. Schätzungen gehen von rund 150.000 Haushaltshilfen in deutschen Familien aus, die wenigsten davon in regulär geregelten Arbeitsverhältnissen.
- Innerhalb der EU gilt die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit. Sowohl innerhalb der EU, aber gerade auch zwischen EU und Drittstaaten, herrscht ein zum Teil gravierendes Lohngefälle. Dieses bewirkt, dass Menschen in Europa bzw. in Deutschland nach Einkommensmöglichkeiten suchen.
- In Deutschland steigt der Hilfebedarf aber gleichzeitig auch der Fachkräftemangel. Dieses gilt - regional unterschiedlich - für den stationären vor allem für den ambulanten Pflegesektor. Die Arbeitsbelastungen steigen, die Attraktivität eines Berufes oder einer Tätigkeit in der Pflege sinken.
- Seit einigen Jahren wirbt die Bundesregierung auch für den Gesundheits- und Pflegebereich mit staatlichen Programmen um Fachkräfte aus dem europäischen Ausland bzw. aus den Schwellen- und Entwicklungsländern. Viele befürchten negative Auswirkungen auf die Herkunftsländer, wenn diese ihre gut ausgebildeten Gesundheitsfachkräfte verlieren. Die globale Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung werde dadurch weltweit verschärft.
Forderungen der TeilnehmerInnen aus Asien, Lateinamerika, Afrika und Europa
Es gibt eine Krise der globalen Care-Arbeit. In den Wohlfahrtsstaaten des Nordens sei ein roll-back zu beobachten: Angesichts zunehmend älter werdender Gesellschaften wird aufgrund von Kürzungen in der öffentlichen Hand die Verantwortung für Versorgung und Pflege privatisiert, wieder an die Familien, an die Frauen zurückgegeben. Zeitgleich gilt für die Länder des Südens: „Die Pflege wandert aus“. Es findet ein sogenannter Braindrain statt. Insbesondere bestehe eine Wanderungsbewegung von Unqualifizierten, die auch in ihren jeweiligen Herkunftsländern keinen ausreichenden Zugang zu Ressourcen, insbesondere dem Bildungswesen, gehabt haben. Wenn diese der besseren Einkommensmöglichkeiten wegen, ihr Herkunftsland verlassen, überlassen sie dann zwangsweise die eigenen Kinder und älteres Angehörigen in der Obhut anderer.
Gefordert wird eine andere politische Betrachtungsweise und Re-Strukturierung: Care-Arbeit als „Diamant“ muss viel stärker analysiert werden hinsichtlich ihrer Bedeutung für Familie, für den Staat, für die Kommunen und für den Markt. Generell hat die unbezahlte Sorgearbeit aber auch die pflegerische Versorgung in jeder Gesellschaft mehr Wert und mehr Wertschätzung zu erhalten. Verwiesen wird auf Uruguay, wo Sorgearbeit in gewissem Maße öffentlich organisiert wird. Hier existiert eine gute Vernetzung zwischen den Akteuren. Der Staat muss die Aufgabe übernehmen, bisher unbezahlte Sorgearbeit als öffentliche Dienstleistung mit entsprechenden Arbeitsplätzen anzubieten. Familiale Sorgearbeit ist nicht nur irgendeine Art von Arbeit. Care-Arbeit berühre alle Gesellschaftsschichten und durchdringt viele Sektoren. Auch die Verfassungen von Ecuador (zur Erläuterung vgl Kurzbericht aus der internationalen Zusammenarbeit, 2008), Bolivien und Venezuela würden den volkswirtschaftlichen Wert von unbezahlter Sorgearbeit aufgreifen.
Unbezahlte Sorgearbeit sei viel stärker auch als „Care-Ökonomie“ zu betrachten. Die sich nun entwickelnden Arbeitsplätze müssen den Konventionen der UNO-Sonderorganisation für Internationale Arbeitsorganisation (ILO-Konventionen) 100, 11,118,156, 203 entsprechen und soziale Gerechtigkeit sowie Menschen- und Arbeitsrechte zu befördern. Sie müssen einen Mindeststandard an sozialem Schutz gewährleisten. Insbesondere muss die ILO-Konvention - C 189 „Menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte“ eingehalten werden.
Unabdingbar ist:
- Auch in der globalen Migrationspolitik ist die Sorgearbeit stärker zu integrieren: Der stattfindende hochrangige Dialog in der UN muss gestärkt werden und zu bindenden Vereinbarungen führen.
- Der Sektor der unbezahlten Sorgearbeit muss viel stärker als bisher in die Diskussionen um ein Leitbild der nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden. Damit eine entsprechende Nachhaltigkeit erzeugt wird, müssen die Akteure vor Ort, die sich für internationale Abkommen einsetzen, wie zum Beispiel Frauenbewegungen oder Gewerkschaften, stärker unterstützt werden.
- Der Schutz der in der „Care-Arbeit“ Tätigen muss von ihren Rechten ausgehen - deshalb ist die ILO-Konvention 189 so bedeutsam. „Hausangestellte“ sind als Arbeitnehmerinnen mit allen Rechten und Pflichten zu betrachten. Es besteht die Hoffnung, dass es jeweils vor Ort zu Tarifverhandlungen kommt.
Gender: Vielfalt der Sorgearbeit und der Pflegesituationen
In meinem Input für die abschließende Podiumsdiskussion habe ich das in der vergangenen Woche verabschiedete Pflegestärkungsgesetz 1 vorgestellt und dieses in die gesetzlichen bzw. aktuellen Diskussionen zur Migrationspolitik eingeordnet. Besonders wichtig war mir:
Der „Care“-Begriff muss auch international geklärt werden. Wir müssen auch international differenzieren zwischen der unbezahlten Sorgearbeit und der professionellen Pflege. Jeder Staat verfügt über ein eigenes System der Wertschätzung von unbezahlter Familienarbeit, der Ausprägung von familialer, ehrenamtlicher oder professioneller Versorgungstätigkeiten im Bereich von Hauswirtschaft, Betreuung und Begleitung, von Pflege. Differenziert seien auch die jeweiligen dazugehörigen Bildungs- und Ausbildungssysteme, die zuordbaren „eigenverantwortlich“ sowie staatlich bzw. öffentlich professionell zu erbringenden Versorgungsaufgaben.
Gemeinsam ist aber in allen Ländern, darauf verweisen die nationalen als auch die vergleichenden internationalen Studien, dass die (unbezahlte) Fürsorge-Arbeit auf den Schultern der Frauen ruht. Allein schon deshalb ist national als auch international eine Frauenbewegung nötig. Allein deshalb ist es notwendig, dass Frauen-, Gender- und Gleichstellungspolitik als Querschnittsaufgabe begriffen wird.
Unbezahlte Familien- bzw. „Sorgearbeit“ ist in unserem deutschen Wohlfahrtssystem stark durch traditionelle Geschlechterrollen, steuerliche und durch sozial-, versicherungs- und arbeitsrechtliche Regularien geprägt.
Pflege in Deutschland läßt sich grob unterteilen in die Bereiche häusliche, ambulante und stationäre Pflege mit unterschiedlichen „HauptakteurInnen“ in einem Sektor, der wiederum durch eine gemeinnützige, öffentliche und private Trägervielfalt gekennzeichnet ist.
Das Pflegestärkungsgesetz 1 will Pflegebedürftige und ihre pflegenden Angehörigen stärken durch die Möglichkeit, sich bedarfsorientiert flexiblere Betreuungs- und Entlastungsangebote zu besorgen. Zu erwarten ist, dass hier ein zum Teil neuer Versorgungsmarkt entsteht, auf dessen Regeln wir noch verstärkt zu achten haben.
Für den Kontext von „Sorgearbeit bzw. Pflege und Migration“ in Deutschland muss geklärt werden, von wem wir in welchem Kontext reden. Von den in Berlin lebenden Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund - das sind BerlinerInnen. Von den über offizielle staatliche Anwerbeprogramme nach Deutschland Kommenden? Von den Flüchtlingen und AyslbewerberInnen? Von den aufgrund der EU-Freizügigkeitsabkommen gekommenen EuropäerInnen, zum Beispiel den jungen SpanierInnen, die aufgrund der hohen Erwerbslogiskeitsquote in ihrem Heimatland in Deutschland eine berufliche Zukunft suchen? Ihre aufenthalts-, sozial- und arbeitsrechtliche Situation ist aufgrund unseres Ausländerrecht- bzw. Asylrechts jeweils verschieden.
ILO-Konvention C 189: Menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte
Die von den TeilnehmerInnen geforderte Einhaltung der ILO-Normen ist von herausragender Bedeutung. Ich unterstütze die Bestrebungen, die unbezahlte Sorgearbeit als auch die Fachpflege verstärkt zum Gegenstand internationaler Abkommen zu machen.
Realität ist ein unterschiedliches Lohngefälle zwischen den Staaten des Nordens und des Südens. Arbeitsmigration kann nicht verhindert wohl aber reguliert werden.
In den Privathaushalten, die eine ausländische „Hausangestellte“ oder Pflegefachkraft beschäftigten, gilt häufig: Not trifft auf Not. Aufgrund mangelnder Einkommenschancen im Herkunftsland wird in Deutschland eine Stelle bei privaten Arbeitgebern angenommen, die es familial alleine nicht schaffen, den Versorgungsaufwand zu Hause im Interesse der pflegebedürftigen Person zu stemmen.
Die Forderung nach „interkultureller Öffnung“ ist bis dato vorrangig auf Institutionen verstanden worden. Was bedeutet diese Forderung aber für die Privathaushalte und der hier Tätigen?
Deutschland als Einwanderungs- und Zuwanderungsland
Auch im Kontext der Organisation von unbezahlter Sorgearbeit und Fachpflege muss Deutschland aus seiner bisherigen Einwanderungs- und Zuwanderungsgeschichte lernen. Hinzu kommen für die alternden Gesellschaften neue Herausforderungen: Welche gesetzlichen Regelungen brauchen wir für die jeweils individuellen Familien- und „Pflege“situationen in den Privathaushalten. Gelten künftig auch hier Möglichkeiten des Familiennachzuges der legal oder illegal tätigen „Arbeitsmigrantinnen“. Über den Status „legal“ oder „illegal“ entscheiden die ArbeitgeberInnen stärker als die Beschäftigten. Was ist mit den in Deutschland lebenden Menschen internationaler Herkunft, die ihre im Ausland lebenden Eltern dauerhaft zu sich holen wollen? Diese haben in das deutsche Sozialsystem, hier vorrangig in die Soziale Pflegeversicherung, gar nicht eingezahlt. Was ist mit pflegebedürftigen Menschen ausländischer Herkunft, die Familienangehörige zu sich holen wollen, um auf privater Ebene eine „Win-win-Situation“ zu schaffen: Entlastung im Haushalt und bei der Kinderbetreuung „versus“ Leben im Haushalt und ggf. hier die Möglichkeit einer Ausbildung oder eines Studiums.
Andrea von der Malsburg, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. mahnte „ein Mehr“ an Bildungsmöglichkeiten und vor allem zügigere Berufsanerkennungen für alle im Kontext von Arbeitsmigration hier in Deutschland Lebenden. Gefordert sei „ein Mehr“ an Durchlässigkeit.
Dietmar Erdmeier, Gewerkschaft ver.di, verwies auf die unterschiedlichen Migrationsformen. Von den bereits bestehenden zahlreichen „Vermittlungsagenturen“, fordert er, dass diese Interessierte bereits im Herkunftsland mehr Aufklärung über die arbeitsrechtlichen Regelungen in Deutschland geben. So gilt der vor einigen Wochen zum 1. Januar 2915 vereinbarte Mindestlohn auch für „Hausangestellte“ in Privathaushalten.
Gender - Migration - Sorgearbeit - Pflege zusammen denken
Aspekte in der von Severin Schmidt, Referent in der Friedrich-Ebert-Stiftung, moderierten Diskussion waren auch:
Das Zielland trägt Verantwortung für den rechtlichen und sozialen Schutze der ArbeitsmigrantInnen. Es handelt sich hierbei häufig um Personen, die schon in ihrem Herkunftsland vom freien Zugang zu Ressourcen ausgeschlossen sind. Die Situation der „Hausangestellten“ muss stärker in den Fokus rücken, insbesondere wenn diese als „24-Stundenkraft“ missbraucht würden.
Der DGB hat im Rahmen des Projektes Faire Mobilität in mehreren Städten Erstberatungsstellen aufgebaut, um insbesondere ArbeitnehmerInnen aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu gerechten Löhne und fairen Arbeitsbedingungen zu verhelfen.
Gewerkschaftlich ist noch unklar, wer - Ver.di oder NGG - die Zuständigkeit für die „neuen ArbeitnehmerInnen - Hausangestellte“ hat.
Unterschiedliche Meinungen herrschten über die Aussage „Deutschland braucht ausländische Pflegefachkräfte“. Deutschland selbst muss viel mehr in das Bildungssystem Pflege und in die Attraktivitätssteigerung der entsprechenden Berufe investieren anstatt Fachkräfte aus anderen Ländern abzuziehen.
Einigkeit besteht darüber, dass das bei den Bundesländern angesiedelte Anerkennungsverfahren zügiger verlaufen muss.
Verwiesen wurde auf die Studie „Transparenzmängel, Betrug und Korruption im Bereich der Pflege und Betreuung - Schwachstellenanalyse von Transparency International Deutschland e.V.“, die viel Wirbel aufgerührt hat.
Sollen auch Männer verstärkt in die unbezahlte Arbeit einbezogen werden? Selbstverständlich ja. Erfreulicherweise sei auch eine Zunahme von Männern in der häuslichen Pflege wahrzunehmen - allerdings überwiegend erst nach deren Pensionierung. Erwerbstätige Frauen reduzieren bzw. geben sehr viel häufiger als erwerbstätige Männer ihren Beruf auf bzw. reduzieren die Arbeitszeit – mit allen Konsequenzen für die eigene sozialversicherungsrechtliche Absicherung.
Wer wird durch gesetzliche Regelungen, vgl. Pflegestärkungsgesetz 1 und das Pflegezeitgesetz, am meisten unterstützt? Als aktive Frauenpolitikerin setze ich mich für Partnerschaftlichkeit in Familie, Beruf und Pflege ein. Ich gehe aber davon aus, dass das zum 1. Januar 2015 in Kraft tretende „Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf“ überwiegend von Frauen in Anspruch genommen wird.