Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD verspricht mehr Teilhabe. Erarbeitet werden soll in dieser 18. Legislaturperiode ein Bundesleistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen. Das bestehende Recht der Eingliederungshilfe soll reformiert und die Leistungen aus dem bisherigen „Fürsorgesystem“ herausgeführt werden. Bislang ist die Eingliederungshilfe ein Teil der Sozialhilfe und wird nur bei fehlender eigener finanzieller Leistungsfähigkeit vom Staat übernommen.
Seit dem 10. Juli 2014 läuft das Beteiligungsverfahren zum Bundesteilhabegesetz mit VertreterInnen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen von Bund, Ländern und Kommunen sowie Sozialversicherungsträgern und Sozialpartnern. Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales wurde eine Arbeitsgruppe unter Federführung der Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller eingerichtet. In insgesamt neun Sitzungen werden bis April 2015 werden wesentliche Aspekte des Bundesteilhabegesetzes, mit dem die Eingliederungshilfe reformiert und die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen weiter verbessert werden soll, debattiert. Einen hohen Stellenwert hat die Beteiligung von Menschen mit Behinderung. Nach der Maxime „Nichts über uns – ohne uns“ sind 10 VertreterInnen von Behindertenverbände einbezogen, alle Behinderungsarten sind hierbei berücksichtigt. Alle Zwischenstände der Diskussion werden auf der Seite „Gemeinsam-einfach-machen“ dokumentiert.
Auch in der SPD-Bundestagsfraktion wird über Inklusion intensiv debattiert. „Zahlreiche Menschen mit Behinderung sind auf die Leistungen der Eingliederungshilfe angewiesen. Bei dem im Koalitionsvertrag vorgesehenen neuen Bundesleistungsgesetz darf nicht die finanzielle Entlastung der Kommunen sondern müssen die Rechte der Menschen mit Behinderungen im Vordergrund stehen“, so beispielsweise Ulla Schmidt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Bundesvorsitzende der Lebenshilfe. Sie möchte, dass Leistungen zur Teilhabe, auf die Menschen mit Behinderung zur Wahrnehmung ihrer Menschenrechte einen Anspruch haben, unabhängig vom individuellen Einkommen finanziert werden und erwartet von einer Reform der Eingliederungshilfe, dass Menschen mit Behinderung endlich nicht mehr nach Kostenerwägungen in eine bestimmte Wohnform gezwungen werden.
Umfassende Reform der Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen
Auch die Oppositionsparteien arbeiten an einer umfassenden Reform der Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen. Ihre Forderungen in den vier Anträgen (18/1949; 18/972; 18/977; 18/2878) stießen in der öffentlichen Anhörung des Ausschuss für Arbeit und Soziales am 10. November bei Sachverständigen auf ein geteiltes Echo. Einigkeit besteht darin, das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen zu stärken, die Beratungsangebote und die Durchlässigkeit der Werkstätten für Behinderte zu verbessern.
Allerdings gibt es über die detaillierten Wege dorthin unterschiedliche Auffassungen, wie es in „Heute im Bundestag“ festgehalten ist:
So regte Felix Welti, Professor für Sozialrecht der Rehabilitation und Recht der Menschen mit Behinderung an der Universität Kassel an, bei den Überlegungen nicht die Frage in den Vordergrund zu stellen, wo die Teilhabeleistungen „formal verortet“ werden. Es sei nicht entscheidend, ob sie im Neunten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch geschehe, sondern „was man damit erreichen will“. So müssten zum Beispiel die bestehenden gesetzlichen Mechanismen besser zugunsten der Betroffenen umgesetzt werden. Da gäbe es auf Länderebene einige verwaltungsmäßige Defizite, gab Welti zu Bedenken.
Daniel Heinisch vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge betonte, dass derzeit nicht absehbar sei, welche Kosten durch eine völlige Freistellung der Teilhabeleistungen von Einkommen und Vermögen entstehen würden. Sein Verein habe dazu noch keine abschließende Position gefunden. Nach geltendem Recht werden Teilhabeleistungen mit dem Einkommen und Vermögen der Betroffenen verrechnet, denen lediglich ein „Schonvermögen“ von 2.600 Euro für Anschaffungen gewährt wird. Dazu sagte Nancy Poser als Betroffene, die eine 24-Stunden-Assistenzbetreuung benötigt: „Ich bin als Richterin am Landgericht tätig und muss trotzdem immer noch meine Eltern um Unterstützung bitten, wenn ich zum Beispiel einen Urlaub plane.“ Auch an eine Familiengründung sei nicht zu denken, da dann auch das Vermögen des Ehepartners zur Finanzierung der nötigen Teilhabeleistungen herangezogen würde und erst einmal dafür aufgebraucht werden müsse.
Irene Vorholz vom Deutschen Landkreistag versprach sich von einem Bundesteilhabegesetz „bessere Steuerungsmöglichkeiten durch eine Gesamtverantwortung des Hauptleistungsträgers“. Der Vorschlag von Linken und Grünen für bundeseinheitliche Kriterien sei aber nur für den Prozess der Hilfeplanungen sinnvoll. Ganz konkrete bundeseinheitliche Instrumente zur Bedarfsermittlung beurteilte sie skeptisch. „Alles Gute kann nicht von oben kommen.“ Sie lehnte auch die Forderung nach einem einschränkungslosen Wunsch- und Wahlrecht ab. „Eine völlige Freistellung von Leistungen würde uns als Träger völlig überfordern.“
Achim Backendorf vom Sozialverband VdK Deutschland betonte die Bedeutung der Beratung der Betroffenen. Nur sie ermögliche es überhaupt, die Mitgestaltung der Betroffenen zu realisieren. Beratungsangebote dürften allerdings nicht interessegeleitet sondern müssen unabhängig sein. „Beratung und die Bedarfsentscheidung müssen getrennt voneinander abgewickelt werden.“
Silvia Helbig vom Deutschen Gewerkschaftsbund bemängelte, dass es in den Jobcentern oft an qualifiziertem Personal für die Belange von Behinderten fehle. Dies sei aber eine Bedingung dafür, wenn eine bessere Teilhabe am Arbeitsmarkt für die Betroffenen erreichbar sei. In den Betrieben müssten die Interessenvertretungen für Menschen mit Behinderungen gestärkt werden.
Lisa Pfahl, Professorin am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, machte sich für eine stärkere Fokussierung der Aufgaben von Werkstätten für Behinderte stark. Dort würden zunehmend auch lernbehinderte Menschen und solche mit psychischen Krankheiten untergebracht. „Menschen mit Mehrfachbehinderungen fallen da oft raus, weil fehlende Plätze zu einer Art Verdrängungswettbewerb geführt haben. Die Werkstatt muss aber für die funktionieren, für die sie konzipiert worden ist.“
Martin Danner von der BAG Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung verwies darauf, dass mensch bei der inklusiven Bildung und nicht erst bei den Werkstätten ansetzen dürfe. Denn dann könnten mehr Menschen in den ersten Arbeitsmarkt anstatt in den Werkstattbetrieben integriert werden. Wir brauchen ein inklusives System, das sektorübergreifend ist. Anstatt jetzt zusätzlich zu den Werkstätten Plätze bei anderen Anbietern auf niedrigerem Niveau zu schaffen, seien komplexe Erhebungen nötig, um „angemessene Angebote gemäß den Fähigkeiten der Betroffenen zu schaffen.“