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Papst Franziskus: „Europa aus der Schläfrigkeit wecken“

Für vier Stunden absolvierte Papst Franziskus auf Einladung von Martin Schulz (SPD), Präsident des Europäischen Parlamentes, eine diplomatische Reise nach Europa. Er besuchte am 25. November 2014 in Straßburg die europäischen Institutionen Europaparlament und Europarat.

Gleich nach dem Konklave im März 2013 hatte Martin Schulz das neu gewählte Kirchenoberhaupt eingeladen. Eine Botschaft zu Europas Grundwerten sei nötiger denn je. "Europa aus der Schläfrigkeit wecken", so brachte Martin Schulz im Vorfeld seine Erwartungen an den Papst auf den Punkt.

Franziskus ist der zweite Papst, der die europäischen Institutionen in Straßburg besucht. Zuletzt und erstmals hatte Johannes Paul II. (1978 bis 2005) vor 26 Jahren, am 8. Oktober 1988, vor den Abgeordneten der Europäischen Institutionen gesprochen. Damals ging der Kalte Krieg - was niemand wusste - in die letzten Monate, die großen Meilensteine der europäischen Integration, die Einführung des Euro und die EU-Osterweiterung, standen noch bevor. Der gebürtige Pole plädierte damals - ein Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer - für ein geeintes, christliches und nach Osten hin geöffnetes Europa.

Als stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und katholisch Erzogene habe ich sehr gerne die Möglichkeit genutzt das katholische Kirchenoberhaupt, mittlerweile bekannt als Mann unverblümter und kritischer Worte, persönlich zu hören. Ich habe mit Freude wahrgenommen, dass Papst Franziskus seine erste Reise auf die Flüchtlingsinsel Lampedusa, also an den Rand Europas, gemacht hat. Ein wichtiges Zeichen der Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge. Die Europaratsmitglieder konnten die Rede des Papstes vor dem Europaparlament in einer Live-Übertragung verfolgen.

Der Mensch gehört wieder in den Mittelpunkt.

In seiner Rede vor dem Europaparlament rief Papst Franziskus zu einer Rückbesinnung auf die Werte der Europäischen Union auf, zur Achtung der Menschenwürde und zur Solidarität mit den Armen. Der 77-jährige Papst mahnte, dass viele Menschen, etwa Alte, Arme, Jugendliche ohne Zukunftschancen oder auch EinwandererInnen, heute in Europa einsam seien. Diese Einsamkeit sei durch die Wirtschaftskrise noch verschärft worden.

 „In der Tat, welche Würde besteht, wenn die Möglichkeit fehlt, frei die eigene Meinung zu äußern oder ohne Zwang den eigenen Glauben zu bekennen? Welche Würde ist möglich ohne einen klaren juristischen Rahmen, der die Gewaltherrschaft begrenzt und das Gesetz über die Tyrannei der Macht siegen lässt? Welche Würde kann jemals ein Mensch haben, der zum Gegenstand von Diskriminierung aller Art gemacht wird? Welche Würde soll jemals einer finden, der keine Nahrung bzw. das Allernotwendigste zum Leben hat und – schlimmer noch – dem die Arbeit fehlt, die ihm Würde verleiht?“

„Die Würde des Menschen zu fördern, bedeutet anzuerkennen, dass er unveräußerliche Rechte besitzt, deren er nicht nach Belieben und noch weniger zugunsten wirtschaftlicher Interessen von irgendjemandem beraubt werden kann.“

Papst Franziskus beklagte, dass in den heutigen politischen Debatten aber nicht der einzelne Mensch sondern technische und wirtschaftliche Fragen vorherrschen. Somit stehe der einzelne Mensch in der Gefahr, zu einem "bloßen Räderwerk in einem Mechanismus herabgewürdigt zu werden" und wie ein Konsumgut behandelt zu werden, das "ohne viel Bedenken" ausgesondert werde, wenn es diesem Mechanismus nicht mehr zweckdienlich sei.

Arbeit bringt die Talente des Menschen zur Blüte

Unmissverständlich forderte Papst Franziskus von den ParlamentarierInnen, mehr zu tun, damit die Talente eines jeden Menschen „zur Blüte“ kommen. Er fordert eine aktive Arbeitsmarktpolitik ein. „Es ist Zeit, die Beschäftigungspolitik zu fördern, vor allem aber ist es notwendig, der Arbeit wieder Würde zu verleihen, indem man auch angemessene Bedingungen für ihre Ausübung gewährleistet. Das schließt einerseits ein, neue Methoden zu finden, um die Flexibilität des Marktes mit der Notwendigkeit von Stabilität und Sicherheit der Arbeitsperspektiven zu verbinden, die für die menschliche Entwicklung der Arbeiter unerlässlich sind. Andererseits bedeutet es, einen angemessenen sozialen Kontext zu begünstigen, der nicht auf die Ausbeutung der Menschen ausgerichtet ist, sondern darauf, durch die Arbeit die Möglichkeit zu garantieren, eine Familie aufzubauen und die Kinder zu erziehen.“

"Mittelmeer darf kein großer Friedhof werden"

Mit Nachdruck appellierte der Papst an die EU-Staaten, gemeinsam die Flüchtlingspolitik verantwortungsvoll zu gestalten.

„Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird! Auf den Kähnen, die täglich an den europäischen Küsten landen, sind Männer und Frauen, die Aufnahme und Hilfe brauchen. Das Fehlen gegenseitiger Unterstützung innerhalb der Europäischen Union läuft Gefahr, partikularistische Lösungen des Problems anzuregen, welche die Menschenwürde der Einwanderer nicht berücksichtigen und Sklavenarbeit sowie ständige soziale Spannungen begünstigen. Europa wird imstande sein, die mit der Einwanderung verbundenen Problemkreise zu bewältigen, wenn es versteht, in aller Klarheit die eigene kulturelle Identität vorzulegen und geeignete Gesetze in die Tat umzusetzen, die fähig sind, die Rechte der europäischen Bürger zu schützen und zugleich die Aufnahme der Migranten zu garantieren; wenn es korrekte, mutige und konkrete politische Maßnahmen zu ergreifen versteht, die den Herkunftsländern der Migranten bei der sozio-politischen Entwicklung und bei der Überwindung der internen Konflikte – dem Hauptgrund dieses Phänomens – helfen, anstatt Politik der Eigeninteressen zu betreiben, die diese Konflikte steigert und nährt. Es ist notwendig, auf die Ursachen einzuwirken und nicht nur auf die Folgen.“ Es ist kein Ruhmesblatt, wie wir derzeit als Europäische Union mit Flüchtlingen umgehen.

Europa muss seine gute Seele wiederentdecken

Papst Franziskus schonte die Zuhörenden nicht. Europa selbst scheine des Selbstbewusstseins und Optimismus verlustig gegangen zu sein, seinen Institutionen fehle zunehmend das Vertrauen der mehr als 500 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger, an die sich Franziskus mit seiner Rede ausdrücklich wandte. Das sind deutliche, kritische, mahnende Worte an die Verantwortlichen in der EU.

"Man gewinnt den Gesamteindruck der Müdigkeit und der Alterung", sagte er über Europa. Den alten - und vergreisenden - Kontinent verglich er mit einer "Großmutter", die "nicht mehr fruchtbar und lebendig ist". Europa sei womöglich dabei, seine Identität zu verlieren.

Er forderte von den Europaabgeordneten aus 28 Mitgliedsstaaten, unmissverständlich mehr "korrekte, mutige und konkrete politische Maßnahmen": „Ihnen, verehrte Mitglieder des Parlaments, kommt als gesetzgebende Instanz die Aufgabe zu, die europäische Identität zu bewahren und wachsen zu lassen, damit die Bürger wieder Vertrauen in die Institutionen der Union und in den Plan des Friedens und der Freundschaft gewinnen, der das Fundament der Union ist. Je mehr die Macht der Menschen wächst, desto mehr weitet sich ihre Verantwortung, sowohl die der Einzelnen wie die der Gemeinschaften. In diesem Wissen appelliere ich daher an Sie, daran zu arbeiten“.

Unmissverständliche Worte an über 500 Millionen EuropäerInnen

Abgeordnete des Europaparlaments, fast die komplette EU-Kommission und zahlreiche VertreterInnen der Mitgliedsstaaten waren erschienen, um den Papst zu hören. Sie alle wollten hören, was das katholische Kirchenoberhaupt zu sagen hat - und die Botschaft war unmissverständlich: Papst Franziskus rief in seiner Ansprache vor den Parlamentariern in Straßburg zur Wahrung der Identität Europas auf - und kritisierte den zunehmenden Egoismus. Seine Rede war keine, die allen gefallen wollte. Vielleicht erreichte sie gerade deswegen so viele.

Auf jeden Fall erhob sich anschließend nahezu der ganze Saal, die Zuhörenden applaudierten anhaltend. Für Parlamentspräsident Martin Schulz war die Rede eine "Ermutigung" und der Papst „eine Persönlichkeit, die Orientierung gibt in Zeiten der Orientierungslosigkeit." Martin Schulz sagte in einer Erwiderung, die EU stehe für "Einbeziehung statt Ausgrenzung" und an den Papst gewandt: "Ihre Worte haben eine enorme Bedeutung. Ihre Botschaft eine sehr europäische Botschaft", die helfen könne, die EU zu reformieren. Denn Toleranz, Respekt, Solidarität und Frieden seien "Teile des gemeinsamen Auftrags".

Die Rede von Papst Franziskus hat mich daran erinnert, dass die Europäische Union 2012 für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist. Wir Europäerinnen und Europäer sollten die damit verbundene Verpflichtung ernst nehmen – insbesondere wir PolitikerInnen sollten die Erwartungen an eine gute, den Mensch in den Mittelpunkt von Politik zu stellen, umsetzen.