Erklärung nach §31 GO von Mechthild Rawert zu den drei Änderungsanträgen der Grünen und einem Entschließungsantrag der Linken zum Themenkomplex Bleiberecht und Aufenthaltsbeendigung (2./3. Lesung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (18/4097, 18/4199); 1. Lesung des von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Verwirklichung des Schutzes von Ehe und Familie im Aufenthaltsrecht (18/3268)) am 2. Juli 2015
Die Zahl von Flüchtlingen, die in der europäischen Staatengemeinschaft und in Deutschland Schutz suchen, steigt. Die SPD steht uneingeschränkt zum Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte und den Regelungen des Flüchtlingsschutzes. Wir SozialdemokratInnen wollen Flüchtlingen und MigrantInnen eine Teilhabe am Leben in unserer Gesellschaft ermöglichen, wollen allen Flüchtlingen so früh wie möglich den barrierefreien Zugang zu Arbeit und Beschäftigung, zu Sprachkursen und Bildungsangeboten, einschließlich der beruflichen Bildung eröffnen. Wir gehen den Weg weiter, der von negativen und defizitorientierten Ansätzen wegführt hin zu Wertschätzung und Anerkennung von gesellschaftlicher Vielfalt und zu den Potentialen, Chancen und Ressourcen von Einwanderung. Wir wollen eine gesellschaftliche Willkommenskultur nachhaltig etablieren. Wir wollen das erneute Entstehen von Rassismus bekämpfen. Voraussetzung ist, dass die Bevölkerung unseren Weg weiterhin so unterstützt, wie dies derzeit in unzähligen Hilfsangeboten und Initiativen aus der Zivilgesellschaft geschieht.
Schon im Vorfeld der Mitgliederabstimmung zum Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD 2013 habe ich festgestellt, dass der Koalitionsvertrag viel Licht und viel Schatten enthält - und zwar in nahezu jedem einzelnen Politikbereich. Dennoch war und bin ich überzeugt: Die SPD hat hart und gut verhandelt.
Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung
Am 2. Juli 2015 haben wir im Deutschen Bundestag den Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (Drs. 18/4097, 18/4199) in 2. Und 3. Lesung beschlossen. Auch dieser Gesetzentwurf enthält Licht und Schatten, er ist ein „klassischer Kompromiss“ der Großen Koalition. Ohne Hinnahme von Verschärfung repressiver Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung sind die Verbesserungen beim Bleiberecht zu meinem sehr großen Leidwesen nicht durchsetzbar gewesen.
Mit diesem Gesetz werden wichtige humanitäre Vorhaben aus dem SPD-Regierungsprogramm und dem Koalitionsvertrag umgesetzt. Vor allem schaffen wir endlich ein stichtagsunabhängiges Bleiberecht für langjährig Geduldete bei nachhaltiger Integration. Dieses Ziel haben wir zusammen mit vielen gesellschaftlichen Kräften, wie Kirchen, Flüchtlingsorganisationen und den Gewerkschaften, seit Beginn der Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz vor über einem Jahrzehnt kontinuierlich verfolgt. Die im Gesetz getroffenen Regelungen zum Bleiberecht werden von PPO ASYL oder dem UNHCR begrüßt.
Ich unterstütze die wegweisenden Verbesserungen beim Bleiberecht. Sie tragen dazu bei, den nötigen Paradigmenwechsel zu schaffen, weg vom alten ordnungspolitischen Repressionsdenken hin zu einer Willkommenskultur, in der geflüchtete Menschen hier bleiben können und sollen. Die durchgesetzten Verbesserungen des Bleiberechts ergänzen insofern die bisherigen Erfolge der SPD: Die Abschaffung der Residenzpflicht, die Abschaffung des Sachleistungsprinzips und die Eröffnung erleichterter Arbeitsaufnahme.
Verbesserungen beim Bleiberecht:
- Einführung einer allgemeinen alters- und stichtagsunabhängigen Bleiberechtsregelung für langjährige Geduldete bei nachhaltiger Integration (neuer §25b)
- Erweitertes Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche (§25a und §60a)
- Verbesserungen für Resettlement-Flüchtlinge
- Verbesserungen für Opfer von Menschenhandel
- Schaffung einer neuen Aufenthaltserlaubnis zur Anerkennung eines ausländischen Abschlusses
- Verfestigung humanitärer Aufenthaltstitel
Nach Angaben von PRO ASYL leben mehr als 75.000 Menschen seit sechs Jahren oder länger ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland. Das sind mehr als 75.000 Menschen, die seit Jahren gezwungen sind, ein Leben auf Abruf zu führen. Eine Rückkehr in ihr Herkunftsland ist für die allermeisten von ihnen undenkbar und in Deutschland sind sie nur befristet geduldet. Immer wieder droht ihnen die Abschiebung. Sie alle können ihre Zukunft nicht gestalten, weil sie in Deutschland keine sichere Lebensperspektive haben.
Bleiberecht bei nachhaltiger Integration
Mit dem erweiterten Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche schaffen wir eine deutliche Verbesserung. Für junge Flüchtlinge bis zum 21. Lebensjahr genügt nunmehr ein vierjähriger Voraufenthalt. Die SPD hat sich dafür eingesetzt, dass die im Referentenentwurf vorgesehene Altersgrenze bei 27 Jahren bleibt, um auch den 17-jährigen Minderjährigen die Bleiberechtsperspektive nach vier Jahren zu ermöglichen. Dies war mit der CDU/CSU leider nicht möglich. Dafür konnten wir im Laufe der Verhandlungen durchsetzen, dass Ausbildung ausdrücklich als Duldungsgrund verankert wird. Dies schafft Rechtssicherheit auch für Arbeitgeber und wird zu mehr Ausbildungsstellen für Menschen mit offenem Verfahrensausgang führen.
Voraussetzung für die Bleiberechtsregelung ist für Alleinstehende ein mindestens achtjähriger Voraufenthalt. Für Eltern minderjähriger Kinder reichen sechs Jahre. Dabei haben wir durchgesetzt, dass die Betroffenen keine volle Lebensunterhaltssicherung nachweisen müssen, wie sie im Aufenthaltsrecht sonst üblich ist, sondern nur eine überwiegende. Das betrifft insbesondere Antragsteller, die im Niedriglohnsektor tätig und auf aufstockende SGB II-Leistungen angewiesen sind. Auch diese bekommen jetzt eine dauerhafte Perspektive in unserem Land.
Ergänzend schaffen wir eine noch günstigere Regelung für Jugendliche und Heran-wachsende bis zum 21. Lebensjahr. Hier reicht ein vierjähriger Voraufenthalt.
Aufenthalt während der Berufsausbildung
Wir haben eine gesetzliche Klarstellung bewirkt, wonach die Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung für Jugendliche und Heranwachsende ausdrücklich als Duldungsgrund gelten kann. Das gibt Rechtssicherheit. ArbeitgeberInnen wissen, dass ihre Auszubildenden nicht abgeschoben wird, wenn sie einem Geduldete oder Asylsuchende mit offenem Verfahrensausgang einen Ausbildungsvertrag geben. Die jungen Asylsuchenden und Geduldeten wissen nun, dass sie die Ausbildung sicher beenden können. Und für die Zeit danach gilt schon jetzt: Wer eine Ausbildung beendet, kann eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Resettlement-Verfahren
Es wird, wie auf unser Drängen im Koalitionsvertrag verankert, eine Rechtsgrundlage für das Resettlement-Verfahren geschaffen. Das ist die Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge aus dem Ausland. Sie werden beim Familiennachzug und dem schnelleren Zugang zur Niederlassungserlaubnis (unbefristetes Aufenthaltsrecht) nach nur drei Jahren mit Asylberechtigten und Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention gleichgestellt und sind außerdem BAföG-berechtigt.
Familiennachzug für subsidiär Geschützte
Subsidiär Geschützte (EU) sind Personen, die von Menschenrechtsverletzungen bedroht sind, ohne dass ein Diskriminierungsgrund wie bei Asylberechtigung oder Genfer Flüchtlingskonvention vorliegt. Sie unterlagen beim Familiennachzug bisher einer sehr restriktiven Ausnahmeregelung. Nun werden sie Asylberechtigten und Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention gleichgestellt. Das ist ein bedeutender menschenrechtlicher Fortschritt für zehntausende hier lebende Menschen.
Schutz für Opfer von Menschenhandel
Der Entwurf enthält Verbesserungen für Opfer von Menschenhandel: Die Aufenthaltserlaubnis soll künftig erteilt werden. Zuvor war dies nur eine Kann-Regelung, die im reinen Ermessen der Behörde stand. Statt auf sechs Monate soll sie künftig auf ein bis zwei Jahre befristet werden. Familiennachzug ist möglich. Es besteht ein erhöhter Ausweisungsschutz. Bei Verlängerung des Aufenthaltstitels nach einem Strafverfahren besteht Anspruch auf einen Integrationskurs. Dies alles verbessert die Situation der Opfer in erheblichem Umfang.
Niederlassungserlaubnis bei humanitären Aufenthaltstiteln
Bei humanitären Aufenthaltstiteln, die nicht Asylberechtigung, Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder subsidiärer Schutz sind, wird die bisherige Schlechterstellung bei der Niederlassungserlaubnis – also dem unbefristeten Aufenthaltsrecht – aufgehoben, zum Beispiel für Begünstigte der Bleiberechtsregelung. Die Wartefrist wird von bisher sieben Jahren auf die für andere Titel geltenden fünf Jahre abgesenkt.
Anerkennung ausländischer Abschlüsse
Es wird eine neue Aufenthaltserlaubnis zur Durchführung einer Anpassungsqualifizierung zwecks Anerkennung eines ausländischen Abschlusses geschaffen.
Neuregelungen bei der Aufenthaltsbeendigung
Die Verschärfungen der repressiven Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung machen mir die Zustimmung zum Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung sehr schwer. Die Kritik von Flüchtlingsorganisationen, Verbänden und des SPD-Landesverbandes Berlin an diesem Teil des Gesetzes ist berechtigt – obwohl anzuerkennen ist, dass es der SPD-Bundestagsfraktion gelungen ist, im parlamentarischen Verfahren den Repressionscharakter einiger Regelungen zu entschärfen.
Neuregelung der Abschiebungshaft
Die Neuregelung der Abschiebungshaft hat viel Kritik erfahren. NGOs und Verbände fürchten eine Ausweitung der Inhaftierung. Ich hätte mir eine andere Regelung gewünscht. Allerdings kodifiziert die Neuregelung bisheriges Richterrecht und stellt damit keine Verschärfung der bisherigen Praxis dar. Einen Automatismus zur Inhaftnahme gibt es nicht, es muss stets eine Einzelfallprüfung erfolgen. Um hier Verbesserungen für die Geflüchteten zu erreichen, haben wir der CDU/CSU eine erhöhte Darlegungs- und Begründungslast für die Behörden abgerungen. Somit soll sichergestellt werden, dass die Inhaftnahme wegen Fluchtgefahr auch weiterhin nur in Einzelfällen erfolgt. Die schon jetzt als Anhaltspunkt für Fluchtgefahr gewertete Zahlung von Geldbeträge an Schleuser wurde durch unsere Intervention insofern gegenüber der geltenden Rechtslage entschärft, als nunmehr nur "erhebliche" Geldbeträge in Betracht kommen.
Ich vertrete auch weiterhin die Position, dass den Menschen auf der Flucht legale Einreisewege eröffnet werden müssen. Dies sollte in gesonderten Gesetzgebungsverfahren eingeleitet werden, um die Regelung von Anhaltspunkten der Fluchtgefahr auf diejenigen zu begrenzen, die trotzdessen illegale Einreisewege nutzen.
Klarstellung bei der Dublinhaft
Europarechtlich sind wir verpflichtet, Anhaltspunkte für Fluchtgefahr auch für Rück-überstellungen nach der Dublin III-Verordnung gesetzlich zu bestimmen. Das tun wir mit dem Gesetzentwurf. In diesen Fällen reicht aber keine einfache Fluchtgefahr. Der Richter muss eine erhebliche Fluchtgefahr feststellen. Das ist eine besonders hohe Hürde. Diese hohe Hürde war aus dem Regierungsentwurf nicht unmittelbar ersichtlich. Deshalb haben wir einen klarstellenden Verweis auf die VO aufgenommen, die die Erheblichkeit ausdrücklich benennt.
Ausreisegewahrsam
Es wird ein viertägiger Ausreisegewahrsam geschaffen. Das ist sehr problematisch. In den Verhandlungen mit der Union hat sich leider herausgestellt, dass CDU/CSU ohne diese Regelung das Gesetz als Ganzes nicht mitgetragen hätte.
Einreise- und Aufenthaltsverbote
Ich kritisiere die Neueinführung von Einreise- und Aufenthaltsverboten. Der SPD ist es immerhin gelungen, den Anwendungsbereich der Verbote auf Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten, deren zweiter Asylfolgeantrag abgelehnt wurde, zu begrenzen. Zudem sollen die Verbote bei unverschuldeten Duldungsgründen nicht verhängt und bei Vorliegen der Voraussetzungen für Bleiberecht oder humanitären Aufenthalt aufgehoben werden.
Neuordnung des Ausweisungsrechts
Das Ausweisungsrecht wird neu geregelt. Das war wegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesverwaltungsgerichtes erforderlich. Das Gesetz war längst nicht mehr europarechtskonform. Dabei werden auf Drängen der Union die Ausweisungsgründe teilweise verschärft. Das war ein Zugeständnis aus dem Koalitionsvertrag.
Zugleich werden aber Verbesserungen beim Ausweisungsschutz, u.a. für Minderjährige und Opfer von Menschenhandel, eingeführt. Zudem ist der Rechtsschutz verbessert: Die Abwägung zwischen Bleibe- und Ausweisungsinteresse ist künftig durch Gerichte in jedem Einzelfall voll überprüfbar.
Auslesen von Datenträgern
Datenträger - insbesondere Mobiltelefone und Smartphones - können zur Identitätsfeststellung ausgewertet werden, wie es jetzt schon bei Urkunden möglich ist. Diesen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung halte ich für problematisch. Wir haben, um effektiven Datenschutz zu gewährleisten, für eine bereichsspezifische Löschungsvorschrift für nicht mehr erforderliche Daten gesorgt.
Zulassungsfreie Rechtsbeschwerde auch für Behörden
Bei der Abschiebungshaft wollte die Union die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde der Betroffenen in Abschiebungshaftsachen abschaffen. Wir haben uns gegen diese Verschlechterung des Rechtsschutzes gewehrt. Stattdessen haben wir akzeptiert, dass die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde auch für die Behörde zugelassen wird.
Härtefallregelung für Sprachkenntnisse beim Ehegattennachzug
Auf Drängen der Union haben wir bei den Sprachkenntnissen vor Einreise beim Ehegattennachzug die Aufnahme einer Härtefallregelung ins Gesetz akzeptiert. Wir hätten die Regelung lieber ganz abgeschafft. Das war aber gegenüber der Union erwartungsgemäß nicht durchsetzbar. Zumindest können nun Härten im Einzelfall berücksichtigt werden.
Wie bereits ausgeführt, enthält der Gesetzesentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung viel Licht und viel Schatten. Nach sorgfältiger Abwägung überwiegen aus meiner Sicht die erreichten Verbesserungen beim Bleiberecht die Verschärfungen von repressiven Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Deswegen stimme ich dem Gesetz zu und lehne die oben genannten Anträge ab.