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Warum wir "Ja" zu Verhandlungen mit Griechenland gesagt haben

Vor einer Woche, am 17. Juli 2015, hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung beauftragt, Verhandlungen über ein ESM-Programm mit Griechenland aufzunehmen. Auch wir Berliner SPD-Bundestagsabgeordneten haben dem zugestimmt, nach sorgfältiger Abwägung und begleitet mit verschiedenen Persönlichen Erklärungen zu den Chancen und Risiken dieses Weges.

Im Vorfeld der Abstimmung wurden wir in einem offenen Brief aufgefordert, gegen die Verhandlungen für ein weiteres Programm zu stimmen. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner forderten stattdessen einen Schuldenschnitt für Griechenland und den Verzicht auf die von der übrigen Eurogruppe geforderten Reformen.

Als Sprecherin der Landesgruppe Berlin der SPD-Bundestagsfraktion habe ich diesen offenen Brief beantwortet und dargelegt, warum wir den Verhandlungen zugestimmt haben:

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir haben die Diskussion zur Abstimmung über die Aufnahme von Verhandlungen über ein neues ESM-Programm für Griechenland in der Landesgruppe Berlin, der SPD-Bundestagsfraktion und in den Gremien des Deutschen Bundestags intensiv geführt. Alle Berliner SPD-Bundestagsabgeordneten haben Ihre Überlegungen mit größter Ernsthaftigkeit und Sorgfalt in ihre Abwägung zur Abstimmung am 17. Juli 2015 einbezogen.

Wir teilen Ihre Einschätzung zu den Ursachen der Krise. Die mit der Bankenrettung erfolgte Übernahme privater Risiken und Verluste durch die öffentlichen Haushalte der EU-Mitgliedstaaten war der entscheidende Auslöser für die nun nicht mehr tragfähigen Schuldenstandsquoten.

Wir sind uns der sozialen Situation in Griechenland - der hohen Arbeitslosigkeit, der Armut und der unzureichenden medizinischen Versorgung der Menschen - sehr bewusst und müssen feststellen, dass die bisher dominierende Austeritätspolitik zu einer Verschärfung der sozialen Situation insbesondere zulasten der Menschen mit geringem Einkommen beigetragen hat: Lohnsenkungen um fast 40 %, durchschnittliche Rentensenkungen um 48 %, drastische Einkommensverluste der ärmsten Haushalte, eine Steigerung der Arbeitslosigkeit auf 27 %, bei Jugendlichen auf über 50 % und die steigende Zahl der Suizide um rund 35 % sind Ausdruck dieser dramatischen Entwicklung.

Die SPD-Bundestagsfraktion hatte deshalb dem einseitig auf die Kürzung von Arbeits- und Sozialmaßnahmen und zu wenig auf Investitionen und sozialen Ausgleich ausgerichteten ersten Programm im Jahre 2010 nicht zugestimmt. Die damals von uns kritisierten Konstruktionsfehler der Griechenlandprogramme zeigen sich heute umso deutlicher. Drei Viertel aller Hilfskredite flossen direkt an Banken und andere Gläubiger, die Privaten wurden mit Steuergeld herausgekauft.

In Deutschland haben wir auf die Finanz- und Wirtschaftskrise eine vernünftige, von der SPD geprägte Politik gemacht: Keine Sparpakete, keine Lohnkürzungen, keine Rentenkürzung, keine Ausgabenkürzung des Staates, sondern Konjunkturprogramme. Deutschland kam so aus der Krise. Griechenland soll diese Möglichkeiten auch bekommen. Dies wird nur mit einem Umdenken von der gescheiterten Austeritätspolitik möglich sein.

Das griechische Volk hat mit deutlicher Mehrheit die Fortsetzung der EU-Troika-Politik abgelehnt - es lehnt allerdings ein Ausscheiden aus dem Euro-Währungsraum ebenso ab.

Eine Ablehnung weiterer Verhandlungen hätten zu einer vollkommen unhaltbaren Situation für Griechenland, die Eurozone, Europa und somit auch für Deutschland geführt. Wir müssen zudem sehen, dass die Einigung der Regierungschefs der Eurogruppe (Euro Summit Statement vom 12. Juli 2015 - SN 4070/15), die Grundlage der Abstimmung im Deutschen Bundestag war, als Kompromiss unter äußerst schwierigen Bedingungen mit vielen AkteurInnen und sehr unterschiedlichen Interessen zustande kam.

Insbesondere der Bundesfinanzminister hat in der Eurogruppe den Druck auf die griechische Regierung massiv erhöht. Dagegen haben sich allein die SozialdemokratInnen gestemmt. Sigmar Gabriel hat deshalb stets betont, dass nur ein gemeinsames Vorgehen mit Frankreich infrage kommt. Dort wird die zukünftige Politik der Eurogruppe ganz anders diskutiert - bis hin zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik durch ein Parlament und eine Regierung der Eurogruppe.

Während einige konservative Politikerinnen und Politiker den Kurs der Austeritätspolitik auf Kosten eines Austritts Griechenlands durchsetzen wollten, haben die sozialdemokratischen Regierungen Frankreichs und Italiens sowie die sozialdemokratischen Mitglieder der Bundesregierung dafür gesorgt, die verantwortungslose Inkaufnahme des Ausscheidens Griechenlands zu verhindern.

Die Hoffnung einiger, mit einem Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone wäre die verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa automatisch beendet, ist trügerisch. Ganz im Gegenteil liefe die konservative Vorstellung von einem wirtschaftlich starken Kerneuropa mit Gemeinschaftswährung auf eine Spaltung der wirtschaftlichen und sozialen Situation in Europa hinaus.

Es ist das Verdienst der sozialdemokratischen Parteien und Regierungsmitglieder in Europa, dass Griechenland nicht aus dem Euro ausscheidet. Wäre diese Frage alleine der CDU/CSU überlassen worden, wäre der Euroraum vermutlich auseinandergebrochen.

Wir haben dem Antrag der Bundesregierung unter der Erwartung zugestimmt, dass in der Ausgestaltung der vorliegenden grundsätzlichen Einigung der Staats- und Regierungschefs wachstumsfördernde Maßnahmen und soziale Aspekte stärker zur Geltung gebracht werden.

In der vorliegenden Form der Einigung besteht die Gefahr, dass sich die Wirtschafts- und Haushaltslage Griechenlands mittelfristig nicht verbessert. Als Voraussetzung für Finanzhilfen aus dem ESM wurde ein Reformpaket für Griechenland verhandelt, welches neue Sparmaßnahmen, Privatisierungen und andere Strukturmaßnahmen für das Land beinhaltet. Von diesen strukturellen Reformen sind lediglich diejenigen zu begrüßen, die darauf abzielen, den Staatsapparat Griechenlands handlungsfähiger zu machen und die Korruptionsbekämpfung zu stärken. Andere durch die Einigung der Eurogruppe verlangte Maßnahmen sind dagegen abzulehnen. Die Privatisierung bestimmten Staatsvermögens wie etwa der Stromversorgungsinfrastruktur ist nicht geeignet, die Stabilisierung Griechenlands zu gewährleisten, sondern droht stattdessen im Interesse privater Investoren eine Veräußerung unter Wert zu erzwingen.

Die nun beschlossene Aufnahme von Verhandlungen wird nur dann zum Erfolg führen, wenn angesichts der sozialen Verwerfungen das ESM-Programm durch dreierlei Maßnahmen flankiert wird: Eine Umschuldung zur Erreichung nachhaltiger und verträglicher Schuldentragfähigkeit, ein Wachstumsprogramm mit Impulsen zur Stabilisierung der griechischen Volkswirtschaft und sozial ausgleichende Reformen durch die Hellenische Republik im Bereich der Besteuerung und der Korruptionsbekämpfung.

Ich verbinde mit der Erklärung der Eurogruppe die Hoffnung, dass es durch eine Umstrukturierung der erdrückenden Staatsverschuldung Griechenlands gelingt, eine langfristige Tragfähigkeit der Schuldenlast zu erreichen und der Hellenischen Republik einen Abbau der Verschuldung in sozial und ökonomisch verträglicher Weise und einen Aufbau von Wachstum zu ermöglichen. Ob dies gelingt, werden die Verhandlungen um das ESM-Programm zeigen. Mittels einer Brückenfinanzierung und des zu verhandelnden ESM-Programms müssen die Liquidität des griechischen Finanzsektors wiederhergestellt und die Liquiditätsengpässe, unter denen die Menschen bitterlich leiden, beseitigt werden.

Wachstum und Beschäftigung ermöglichen es dem Land ohne weitere Hilfen auszukommen, soziale und humanitäre Probleme zu lösen und letztlich auch Schulden abzutragen. Hierfür ist der schnelle und erfolgreiche Einsatz der geplanten Mittel aus verschiedenen Programmen der Europäischen Union von hoher Bedeutung.

Wir müssen anerkennen, dass die Staatseinnahmen Griechenlands erhöht werden müssen, insbesondere um Kürzungen sozialer Leistungen und Infrastruktur zu verhindern. Dafür sind die Schaffung eines gerechten Steuersystems und die Bekämpfung von Korruption geeignete Mittel.

Neben den spezifisch auf Griechenland abzielenden Maßnahmen muss die Europäische Union insgesamt durch eine gemeinsame Sozial- und Wirtschaftspolitik und die Stärkung europäischer Kompetenzen enger zusammenwachsen. Ich habe die Erwartung, dass parallel zum ESM-Programm ein gemeinsames Umdenken im Sinne einer europaweiten Sozial- und Wirtschaftspolitik erfolgt, die insbesondere die Beseitigung der makroökonomisch schädlichen Leistungsbilanzungleichgewichte in den Blick nimmt und zu einer verbesserten Regulierung der Kapitalmärkte beiträgt. Das zunehmende soziale Gefälle und die Auseinanderentwicklung von Einkommen und Vermögen betreffen die gesamte Europäische Union jenseits nationalstaatlicher Grenzen.

Um das Ziel, die Gemeinschaft Europas zusammen zu halten, zu realisieren, erwarten wir vom Bundesfinanzminister, dass er im ESM-Gouverneursrat den Gedanken eines "Grexit" auf keinen Fall weiterverfolgt. Nicht das Ausscheiden von Mitgliedern aus der Eurogruppe, sondern eine gemeinsame und ausgleichende Wirtschafts- und Sozialpolitik für ganz Europa ist der richtige Weg.

So wichtig die wirtschaftliche Erholung Griechenlands als Grundlage für eine gute gesellschaftliche Entwicklung ist und so sehr die verschiedenen griechischen Regierungen Verantwortung für die heutige Situation haben: Wir dürfen Europa nicht bloß als eine Art Wirtschaftsunternehmung betrachten und Griechenland nicht als einen untauglichen Geschäftspartner. Die Gemeinschaftswährung ist ein Ausdruck dieser europäischen Integration und von großer ökonomischer Bedeutung für sämtliche Mitgliedstaaten des Währungsraums und der Europäischen Union insgesamt. Die europäische Integration ist aber mehr. Europa ist  ein gemeinsames Dach in dem Frieden, Freiheit und Demokratie gewährt werden sollen. Deutschland hat Europa in vielerlei Hinsicht unendlich viel zu verdanken und wird weiter darauf angewiesen sein.

Diesen europäischen Geist vermisse ich in den Verhandlungen auf allen Seiten immer mehr – in Deutschland wie in den anderen europäischen Staaten, auch in Griechenland. Letztlich wird weder die Stabilisierung Griechenlands noch die europäische Integration gelingen, wenn nicht wieder stärker zusammengearbeitet wird. Wir dürfen nicht zulassen, dass in der Europäischen Union und der Eurogruppe gegenseitiges Vertrauen verloren geht und nationale Interessen Konflikte nicht abzusehenden Ausmaßes auslösen. Zunehmendem Nationalismus trete wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten entschieden entgegen.

Die SPD-Bundestagsfraktion hat der Aufnahme von Verhandlungen über ein ESM-Programm für die Hellenische Republik zugestimmt in der festen Überzeugung, dass die Europäische Union einen unverzichtbaren Beitrag zu Frieden, Völkerverständigung und gegenseitiger Solidarität leistet. Die Menschen in Europa stehen zum Euro - auch die Griechinnen und Griechen. Auf Grundlage der von den Regierungschefs der Eurogruppen-Mitglieder erzielten Einigung war dies die einzig verbliebene Möglichkeit, die Mitgliedschaft Griechenlands im gemeinsamen Währungsraum zu wahren.

Bei Entscheidung geht es nicht nur um Griechenland - es geht auch um Deutschland. Vor allem aber geht es um ein Europa, welches basiert auf Freiheit und Demokratie, auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. In diesem Europa, in dem jeder Mensch die gleiche Würde hat, wollen wir gemeinsam in Frieden mit unseren Nachbarn leben.

Mit freundlichen Grüßen

Mechthild Rawert, MdB