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Persönliche Erklärung zur Abstimmung über Sterbehilfe: „Keine neuen Straftatbestände bei der Sterbehilfe“

Erklärung nach §31 GO der Abgeordneten MECHTHILD RAWERT zur Abstimmung in der 2./3. Beratung den Gruppenvorlagen zum Thema Sterbebegleitung - Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Sabine Sütterlin-Waack, Brigitte Zypries, Matthias W. Birkwald und weiterer Abgeordneter „Keine neuen Straftatbestände bei Sterbehilfe“ (Drucksache 18/6546) TOP 26 Zusatzpunkt Plenarsitzung am 06.11.2015

Ich bin in einem Alter, in dem ich Erfahrung mit dem Sterben und Tod von Familienangehörigen und von FreundInnen habe. Zum Thema Sterbehilfe habe ich in den vergangenen Monaten viele Gespräche geführt, zahlreiche persönliche Briefe sowie Schreiben von Organisationen haben mich erreicht. Die bisherigen Debatten und die entsprechende Anhörung zur Sterbebegleitung im Deutschen Bundestag wurden intensiv verfolgt. Weitere Impulse zur Entscheidungsfindung gaben mir auch die BürgerInnen meines Wahlkreises Tempelhof-Schöneberg auf der Fraktion vor Ort-Veranstaltung am 22. September 2015.

Die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen eine Neukriminalisierung der Sterbehilfe: Sie empfinden einen derart gravierenden Eingriff als einen illegitimen Übergriff des Staates. Darunter sind auch viele überzeugte ChristInnen beider Konfessionen, über die Haltungen von Mitgliedern anderer Religionsangehöriger weiß ich leider zu wenig. Über 140 deutsche Strafrechtslehrende sprechen sich ebenfalls dagegen aus. Gleiches meint die überwiegende Mehrheit der MedizinerInnen: Nur eine Minderheit von 20 Prozent der ÄrztInnen möchte ein strafrechtliches Verbot. Die Mehrheit insbesondere der PalliativmedizinerInnen und der OnkologInnen lehnen Strafverschärfungen ab.

Auch ich bin zu der Auffassung gekommen, dass eine Neukriminalisierung der Suizidhilfe nicht nötig - und vor allem nicht hilfreich - ist. Im Unterschied zu anderen europäischen Nachbarstaaten, wie Belgien oder Niederlande, ist in Deutschland die Tötung auf Verlangen bereits unter Strafe gestellt.

Eine gewichtige Sorge, die mich und viele BürgerInnen umtreibt, ist die Kriminalisierung genau der Berufsgruppe, die für die Option eines vertrauensvollen Gespräches zur assistierten Suizidbeihilfe und als potentielle UnterstützerInnen in Frage kommen: die MedizinerInnen. Allein die Aussicht, dass MedizinerInnen mit der Drohung der Strafbewehrung leben müssen, wird das ÄrztIn-PatientInnen-Verhältnis prägen - sofern Möglichkeiten des vertrauensvollen Gespräches überhaupt noch gewährleistet werden. Ohne ÄrztInnen fehlt aber die kompetente medikamentöse Möglichkeit.

Menschen, die professionell mit PatientInnen in Kontakt treten, handeln in jeder Hinsicht geschäftsmäßig - und zwar nicht nur im Hinblick auf die eigentliche Behandlung, sondern auch im Hinblick auf die ergebnisoffene Beratung von lebensmüden PatientInnen. ÄrztInnen, die in verantwortungsvoller Ausübung ihrer durch das Grundgesetz geschützten Gewissensfreiheit nur in sehr wenigen Ausnahmefällen eine Suizidhilfe leisten, würden in den Verdacht geraten, mit Wiederholungsabsicht zu handeln.

Ein Verbot geschäftsmäßiger Suizidhilfe zielt auf „WiederholungstäterInnen“. Dadurch trifft ein solches Gesetz vor allem ÄrztInnen, die viele sterbenskranke PatientInnen betreuen, also insbesondere PalliativmedizinerInnen oder KrebsärztInnen. Gerade hier ist aber das besondere Vertrauensverhältnis notwendig. Sie müssen offen sein können für die Wünsche und Nöte der Sterbenskranken. Wenn sie dies nicht mehr sein dürfen, vergrößert sich doch die Gefahr, dass windige GeschäftemacherInnen durch Deutschland reisen und im Falle eines Strafrechtsverbots die Preise deutlich anziehen können. „Dann haben nur noch Reiche die Wahl zwischen der teuren Begleitung in der Schweiz oder zwielichtiger Sterbehilfe gegen Bargeld. Sozial Schwachen bleibt Bahngleis, Strick oder Hochhaus.“

Profitorientierte sogenannte SterbehelferInnen handeln nicht nur sittenwidrig. Gegen sie kann die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Totschlag ermitteln. Die derzeitige Gesetzeslage reicht also aus, um der Geschäftemacherei mit dem Tod Einhalt zu bieten. Der Sorge der kommerziellen Ausbeutung des Sterbewunsches eines Menschen kann durch gewerberechtliche Regulierung außerhalb des Strafrechts entgegen getreten werden. Entscheidend sind auch die Vorschriften im Arzneimittelgesetz und Betäubungsmittelgesetz. Die bestehende Rechtslage hat schon bisher verhindert, dass organisierte Sterbehilfe in Deutschland zu einem Massenphänomen geworden ist.

Ich bin der Auffassung, dass Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, mit dem Gedanken tragen, ihr Leben selbst zu beenden, uneingeschränkt Zugang zu ergebnisoffener Beratung und Unterstützung haben sollen. Erfahrungen zeigen, dass gerade viele Sterbenskranke unter diesen Umständen auch von ihrem Vorhaben wieder Abstand nehmen. Allein die Gewissheit der PatientInnen, dass ihre ÄrztInnen ihnen weiterhelfen würden, reicht den meisten.

Unbestritten ist, dass alles zu tun ist, damit wir deutschlandweit eine gute Hospiz- und Palliativkultur entwickeln. Daher begrüße ich das gestern vom Deutschen Bundestag beschlossene Hospiz- und Palliativgesetz außerordentlich. Auf der von mir organisierten Fraktion vor Ort Veranstaltung zur Sterbehilfe berichteten MitarbeiterInnen der Telefonseelsorge und aus der Palliativ- und Hospizarbeit, dass häufig der Satz falle „Ich will so nicht mehr leben“. Seltener zu hören sei die Aussage „Ich will nicht mehr leben“. Grund seien schwere Beschwerden der PatientInnen. Werden diese gelindert, verschwinde der Wunsch oft. Aber es bleibt der traurige Fakt: Selbst mit der palliativen Sedierung (Narkoseschlaf bis zum Tod) können auch die besten PalliativmedizinerInnen nicht alle Qualen nehmen.

Das Lesen von Stellungnahmen und Diskussionserfahrungen zeigen mir, dass es nicht - wie häufig behauptet - die Schwachen und Einsamen sind, die ihren Wunsch zu sterben gegenüber einer ÄrztIn äußern. Es sind zumeist selbstbewusste und gebildete Menschen, die nicht aufgrund der Schmerzen oder aufgrund von äußerem Druck so agieren, sondern denen es um Selbstbestimmung, um ihre Würde geht. Ich teile die Ansicht nicht, dass es bei keiner Ausweitung der Strafbewehrung zu einem sogenannten Dammbruch kommt. Ich sehe unsere Gesellschaft nicht in einem so miserablen Zustand. Außerdem ist es unsere Aufgabe als gewählte PolitikerInnen eine entsprechend vorbeugende „gute Politik“ zu machen.

Ich sehe die Klärung der hier behandelten Fragestellungen vor allem bei den MedizinerInnen selbst. Niemand soll gegen sein Gewissen handeln müssen. Derzeit ist es für MedizinerInnen und PatientInnen aber sehr sehr unbefriedigend, dass es eine Frage des Wohnortes ist, ob ein solch vertrauensvolles Gespräch, ob ein uneingeschränkter Zugang zu ergebnisoffener Beratung und Unterstützung gegeben ist. Zehn von 17 Landesärztekammern verbieten die ärztliche Suizidassistenz. Gefragt sind die ÄrztInnen in ihrer Selbstverwaltung. Sie müssen sich so organisieren, dass der Mehrheitswille auch politisch relevant wird.

Ich schließe mich nachdrücklich der Empfehlung des Deutschen Ethikrats an, wonach „die Ärztekammern einheitlich zum Ausdruck bringen sollten, dass ungeachtet des Grundsatzes, dass Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Aufgabe ist, im Widerspruch dazu stehende Gewissensentscheidungen in einem vertrauensvollen ÄrztIn-PatientIn-Verhältnis bei Ausnahmesituationen respektiert werden“.

Aus all diesen Gründen habe ich den Antrag „Keine neuen Straftatbestände bei Sterbehilfe“ der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Sabine Sütterlin-Waack, Brigitte Zypries, Matthias W. Birkwald zusammen mit weiteren Abgeordneten unterzeichnet und lehne die vier vorgelegten Gesetzesentwürfe ab.

Mechthild Rawert, MdB
Berlin, vom 6.11.2015