Eine ihrer letzten Auslandsreisen führt Anne Brasseur, Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE), am 11./12. Januar 2016 nach Berlin und Golzow (Märkisch-Oderland). Im Mittelpunkt des Arbeitsbesuches stehen die gesellschaftlichen, politischen und sozialen Herausforderungen im Zusammenhang mit Migration und Integration. In Berlin trifft sie mit den Mitgliedern der Deutschen Delegation und mit Staatsministerin Aydan Özoğuz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, zusammen. Vor allem aber freut sie sich auf den Besuch in Golzow, ein Dorf mit 850 EinwohnerInnen in Brandenburg, bekannt geworden durch die Langzeitdokumentation „die Kinder von Golzow“. Bei diesem Besuch geht es aber um „Die Neuen Kinder von Golzow“, die Kinder aus zwei syrischen Flüchtlingsfamilien. Dank dieser Kinder kann die Grundschule in Golzow weiterbestehen. Eines der vielen erfreulichen Beispiele gelingender Integration, bei der beide Seiten, die Einheimischen als auch die Neuankommenden, eine Win-win-Situation erfahren.
Verteidigung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit
Frank Schwabe (SPD), stellvertretender Leiter der deutschen Delegation, erinnerte an die Antrittsrede der damals 63-Jährigen zu Beginn ihrer Legislatur vor zwei Jahren. Anne Brasseur, appellierte an die ParlamentarierInnen der 47 Europaratsnationen, mit Entschlossenheit und Engagement die Menschenrechte, die Demokratie und den Rechtsstaat zu verteidigen. Auch wollte sie energisch die Wahrung freiheitlicher Standards bei den Nationen einfordern, die diese Normen missachten. Ihre Warnung vor einer Mehrheit der Staaten, die wegen rechtsstaatlicher Probleme vom Europarat überwacht werden, in der PACE sei überaus weitsichtig gewesen. Die Abwehr einer solchen politischen Konstellation, in der die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt werden, ist auch heute eine immer größer werdende Herausforderung.
„Die Welt wird komplizierter“ stellt Anne Brasseur fest und verweist auf das Aushebeln der Rechtsstaatlichkeit in Ländern wie Polen und Ungarn, auf ein mangelndes Demokratieverständnis in den Staaten, wo einzelne Parteien die absolute Mehrheit in den nationalen Parlamenten erreicht haben. Zur Demokratie gehöre auch eine funktionierende Opposition. Ein Politikverständnis gemäß der Devise „the winner takes it all“ schädige die Demokratie. Viel zu häufig seien die ersten Opfer eine unabhängige Justiz und die Presse- und Meinungsfreiheit. So hätten es die „alten Demokratien“ beispielsweise in den vergangenen Jahren versäumt, in der Ukraine starke demokratische Institutionen aufzubauen. „Sind demokratische Institutionen schwach, so ist auch der Staat schwach.“ Leider sei es im Rahmen des ursprünglichen Zeitplans - bis Ende 2015 - nicht gelungen, das Abkommen von Minsk umzusetzen. Das im Februar 2015 geschlossene Abkommen sollte u.a. einen umfassenden Waffenstillstand in der Ostukraine und den Abzug schwerer Waffen möglich machen. Nun ist die politische Lösung des seit 2014 tobenden Konflikts zwischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten auf 2016 ausgedehnt worden. Kompliziert geworden sei auch das Verhältnis zu Russland. Die Annexion der Krim sei „nicht hinnehmbar“ gewesen. Der Entzug des Stimmrechts sei eine Konsequenz darauf gewesen. Leider verwehre der darauf erfolgte „Auszug“ der russischen Delegation jedes Miteinanderreden.
Gefragt nach ihrer Einschätzung zur Situation in der Türkei, die dem Europarat bereits seit 1949 angehört, äußert Brasseur „Die innenpolitischen Entwicklungen sind besorgniserregend.“ Der Europarat sei kein „Warteraum“ für einen EU-Beitritt. Der Europarat steht für die Werte der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit.
Der Europarat und die Verteidigung der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaates seien angesichts des dramatischen Erstarkens nationalistischer, rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien und Gruppierungen immer wichtiger. Das gilt auch für die Bedeutung des Europäischen Gerichtshofes, dem Wächter über die Einhaltung und Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention mit ihrem Katalog von Grundrechten und Menschenrechten. Zunehmend wird dessen Rechtsprechung von einigen Staaten aus nationalistischen Gründen derzeit offen in Frage gestellt.
Migration und Integration
Rund 60 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht. Wir Europäerinnen hätten die damit verbundenen Herausforderungen zu wenig antizipiert: Nicht ausreichend wahrgenommen hätten wir beispielsweise die überaus hohen Belastungen für den Libanon, zu spät wahrgenommen, dass dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) das Geld für eine anständige Versorgung von in die Nachbarländer geflüchteter Menschen ausgegangen sei. Es sei daher keineswegs überraschend, dass sich Menschen auf den Weg nach Europa machen.
Bis jetzt habe Europa zu wenig getan und zu spät gehandelt. Geflüchteten Menschen Unterkunft und Unterstützung zu geben sei nicht nur eine moralische Pflicht sondern auch auch eine internationale Verpflichtung. Wir müssen den Tatsachen auch ins Auge sehen: Viele der nach Europa Geflüchteten werden nicht zurückgehen. Deshalb brauchen wir nachhaltige Lösungen und gute Integrationsmöglichkeiten vor Ort. Wir dürfen dabei den einzelnen Menschen in der großen Zahl der Geflüchteten nicht übersehen. Wir müssen mehr über Solidarität und Menschenrechte reden und die damit verbundenen Anforderungen auch einlösen.
Hintergrund von Anne Brasseur
Die gebürtige Luxemburgerin Anne Brasseur absolvierte ihr Psychologiestudium in Deutschland 1975. Im gleichen Jahr wurde sie in den Gemeinderat der Stadt Luxemburg gewählt, dem sie mit einer Unterbrechung von sechs Jahren bis September 2009 angehörte. 1979 wurde sie erstmals in die Chambre des Députés gewählt. Die Liberale war von 1980 bis 1994 Präsidentin der Association des Femmes Libérales. Von 1991 bis 1990 agierte sie als Schöffin zuständig für Bauwesen, Bildung und Sport der Stadt Luxemburg. Von 1999 bis 2004 war sie Ministerin für Erziehung, Berufsausbildung und Sport in der Koalitionsregierung Juncker-Polfer. Bei den Parlamentswahlen in Luxemburg 2013 wurde sie erneut in die Chambre des Députés gewählt. Der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, gehörte sie von 1995 bis 1999 und dann erneut seit 2009 an. Sie ist seit 2009 Präsidentin der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa und seit 2014 Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung. Auch nach dem Ende ihrer Legislatur gehört Anne Brasseur weiterhin der PACE an.