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12. Landesgesundheitskonferenz: „Migration und Gesundheit - Berlin vor neuen Herausforderungen?“

25 Prozent der Menschen in Berlin haben eine Zuwanderungsgeschichte. Trotz vielseitiger Fortschritte bei der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund bestehen noch immer strukturelle Hürden und Schwierigkeiten - auch bei Gesundheitsförderung und Prävention sowie Gesundheitsversorgung. Deshalb bedarf es nach wie vor eines hohen Engagements, nachhaltiger Initiativen sowie intensiver Begleitung, um gesundheitsfördernde Strukturen zu verstetigen. Unter dem Motto „Migration und Gesundheit - Berlin vor neuen Herausforderungen?“ beschäftigte sich daher die 12. öffentliche Landesgesundheitskonferenz (LGK) am 2. Dezember 2015 mit aktuellen Fragestellungen der migrationssensiblen Gesundheitsförderung und Prävention sowie Aspekten der Gesundheitsversorgung.

Von der Entwurzelung zur Verwurzelung

Willkommenskultur - ein Schlagwort, das sich in den letzten Monaten verfestigt hat. Die Willkommenskultur ist der erste wichtige Schritt hin zu einer integrativen, einer inklusiven Gesellschaft. „Willkommen“ bezieht sich sowohl auf die geflüchteten Menschen, die in den letzten Monaten das Bevölkerungsbild verändert und eine Re-Aktion der Institutionen angestoßen haben, als auch auf die Menschen mit Migrationshintergrund, die schon mehrere Generationen fester Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Werden deren unterschiedliche Bedarfe beim Zugang zum Gesundheitswesen schon erfüllt? Eine erfolgreiche Inklusion ist erst dann erreicht, wenn allen Menschen der gleiche Zugang zu den unterschiedlichen Lebensfeldern in unserer Gesellschaft möglich ist. Der gleiche Zugang zu gesundheitlichen Ressourcen stellt eine der essentiellen Erfordernisse im Lebenslauf dar. So kann aus „Entwurzelung“ eine „Verwurzelung“ werden.

Ausgehend von dieser Haltung diskutierten mehr als 300 Teilnehmende über die gesundheitliche Lage von Menschen mit Migrationsbiographie in Berlin. VertreterInnen zahlreicher Organisationen und Fachstellen im Gesundheitswesen stellten sich der Analyse und Lösungserarbeitung zum komplexen Thema „Migration und Gesundheit - Berlin vor neuen Herausforderungen?“ auf der 12. öffentlichen Landesgesundheitskonferenz (LGK).  In diversen Fachforen wurde über migrationsbezogene Themen diskutiert: Wie ist Migration und die Begleitung von Menschen mit Behinderung gestaltet? Wie ist die Situation von Migration und Beratung bzw. Selbsthilfe für Ältere in Berlin? Welche Probleme gibt es bei Migration und der interkulturellen Öffnung in der Altenhilfe?

Interkulturelle Öffnung der Institutionen als drängende Herausforderung

16 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, haben eine Einwanderungsgeschichte. 2013 stellte das 21% der Bevölkerung (BIB, 2014) dar. 2015 stieg diese Zahl durch die Zuwanderung geflüchteter Menschen und der AsylbewerberInnen. Nach Auskunft der Sozialverwaltung sind im Jahr 2015 79.034 Geflüchtete in Berlin angekommen, 54.325 Menschen blieben in Berlin (Stand: 07.01.2016).

Die Vielfalt unserer Gesellschaft muss sich auch im Aufbau und der Zusammensetzung unserer Institutionen widerspiegeln, insbesondere im Gesundheitsbereich. Das notwendige Erfordernis dazu heißt: Interkulturelle Öffnung. Die Interkulturelle Öffnung der Verwaltung soll öffentliche Institutionen auf neue Aufgaben in einer Einwanderungsgesellschaft vorbereiten. Als ein Problem identifizierten die Teilnehmenden, dass diese Umstrukturierungsprozesse auf freiwilliger Basis - somit oft nur unzureichend - umgesetzt werden. Diskutiert wurden Möglichkeiten, durch Zertifikate einen höheren Anreiz für Organisationen als auch Personen zu schaffen.

Eine mangelnde interkulturelle Öffnung des Versorgungssystems ist nicht nur für die betroffenen Personen, sondern auch für die Gesellschaft mit beträchtlichen Kosten  verbunden - sei es, dass Beratungs-, Therapie- oder Behandlungsangebote de facto komplett vorenthalten werden, sei es, dass fehlende interkulturelle Kompetenzen zu folgeträchtigen Fehldiagnosen oder Fehlmedikationen führen. Bereits aus ökonomisch-volkswirtschaftlicher Sicht sind solche Versorgungsfehler zu vermeiden, aber auch aus der Sicht eines Sozial- und Krankenversicherungssystems, das nachhaltig mit Ressourcen umzugehen hat.

Um dem Anliegen der Beschreibung von zu erreichenden Leistungen im Rahmen einer Interkulturellen Öffnung im Berliner Gesundheitswesen nachzugehen, bedarf es jedoch zunächst einer Analyse der Situation von MigrantInnen im Gesundheitsbereich. Wie nehmen diese die gesundheitliche Versorgung in Berlin wahr? Werden Gesundheitsprogramme in Anspruch genommen? Wenn nicht, woran liegt das?

Gesundheit von Immigranten/-innen - Fakten, Entwicklungen und Herausforderungen

Zur Einführung in die Thematik beklagte Prof. Dr. Theda Borde von der Alice Salomon Hochschule, dass es noch kaum aktuelle Studien zur Gesundheitsversorgung von MigrantInnen in Deutschland gäbe. Diese seien jedoch essentiell, um den Wissenstransfer zwischen Forschung und Praxis zu gewährleisten.

Für Berlin wurden erste Resultate einer Studie zum Zugang zu Gesundheitsleistungen für Migranten vorgestellt. In dieser „Berliner Migrantenstudie“ wird abgebildet, wie ausgeprägt die Versorgung und Inanspruchnahme von Gesundheitsmaßnahmen unter MigratInnen zu spezifischen Lebenssituationen wie zum Beispiel Schwangerschaft und Geburt sind. Werden keine Präventionsprogramme in Anspruch genommen, geben 59 Prozent als Grund die sprachliche Barriere an, 29 Prozent Informationsmangel.

Es kommt auf die Kommunikation an - Sprache vermittelt Vertrauen

Nachweislich führt die geringe Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten zu höheren Risiken von Arbeitsunfällen, Frühverrentung aufgrund von Behinderung und chronischen Erkrankungen wie Krebs oder Diabetes. Eine der Hauptbarrieren zur Inanspruchnahme ist die Sprache. Die Untersuchung ergab, dass neben dem Mangel an Versorgungsangeboten in der Muttersprache der MigrantInnen sprachqualifizierende Stellen und AnsprechpartnerInnen bei Arbeitgebern nötig seien, die das deutsche Gesundheitssystem “übersetzen” können. Um sich Zugang zu diesbezüglichem Wissen zu beschaffen, suchten mehr als die Hälfte (62%) der Befragten Hilfe in der Familie oder bei Freunden, 39% wandten sich an ihre Krankenversicherung und nur 15% an Beratungsstellen. Gewünscht wird beim Kontakt mit öffentlichen Stellen, dass dieser persönlich stattfindet (48%). Fakt ist: Ein gleichberechtigter Zugang zu Informationen und zu den Gesundheitsdienstleistungen selbst erfolgt nur dann, wenn Sprachbarrieren überbrückt werden. Hinzu kommen noch kulturelle Unterschiede vieler Konzepte und Einrichtungen, die aus der Heimatkultur möglicherweise unbekannt sind.

Sprache ist maßgeblicher Träger von Identität und eigener Kultur. So versuchen viele Einrichtungen und Kontaktstellen, Informationsmaterial in verschiedenen Sprachen anzubieten. Auch DolmetscherInnendienste werden in verschiedenen Formen wie Telefon-, Video-, E-Dolmetschen oder Face-to Face zur Verfügung gestellt. Dienste wie die Sprach- und IntegrationsmittlerInnen (SprInt) sind BrückenbauerInnen zwischen MigrantInnen und Fachpersonal im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen. Eine sprachliche und kulturelle Brücke ermöglichen auch die Engagierten des Gemeindedolmetschdienstes Berlin  oder des Ethnomedizinischens Zentrums e.V. in Hannover. Solche Dolmetschdienste sind keine abrechenbare Leistung der gesetzlichen Krankenkassen (BSG-Urteil 2006) und es besteht kein Anspruch auf muttersprachliche Versorgung (BSG-Urteil 2008)

Gefordert wird eine neue rechtliche Grundlage, um Dolmetschleistungen in den GKV-Leistungskatalog zu integrieren. So könne beispielsweise der Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) als amtliche Klassifikation zum Verschlüsseln von Operationen, Prozeduren und allgemein medizinischen Maßnahmen im stationären Bereich und beim ambulanten Operieren um die Einführung eines Entgelt-Codes für DolmetscherInnen erweitert werden.

Migration und Behinderung: „Wir stehen bei der Interkulturellen Öffnung aber auch nicht nur auf Los.“

Auf dieser 12. LGK wurde aber auch ein buntes Bild verschiedener Einrichtungen geboten, die bereits aktiv an der Interkulturellen Öffnung arbeiten und so innovativ vermitteln und unterstützen.

Neben der sprachlichen Barriere sind auch die deutschen Verwaltungstrukturen ein großes Hindernis bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsprogrammen und -diensten. Oft berichten MigrantInnen allerdings auch, dass sie sich schlechter behandelt fühlen. Gerade MigrantInnen mit Behinderung haben es oft doppelt schwer: Sie haben meist individuelle Bedürfnisse, die sich auf ein bestimmtes Benachteiligungsmerkmal beziehen. Oft fällt somit ausreichende Information noch schwerer. Wird inklusive Arbeit ernst genommen, so muss das individuelle Bedürfnis jedes einzelnen Menschen den Ausgangspunkt der Behandlung darstellen.

Diesem Anspruch gerecht werden können vor allem Selbsthilfegruppen. Hier nachzufragen ist oftmals mit niedrigeren Hemmschwellen verbunden als bei öffentlichen Einrichtungen. Selbsthilfegruppen stellen eine wertvolle Ergänzung zu ärztlichen Behandlungen dar. Selbsthilfegruppen unterstützen gezielt ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben. Sie bieten eine Chance, gerade MigrantInnen mit Behinderung aktiv zu beteiligen und zu vernetzen. Leider werden sie noch zu wenig in Anspruch genommen - teilweise liegt die Ursache im kulturspezifischen Umgang mit Behinderung.

Gewünscht wird: Selbsthilfegruppen und -kontaktstellen sollten sich noch stärker mit den Ämtern vernetzen, damit sie noch wirksamer als Lotsen und MittlerInnen fungieren und auf individuelle Bedürfnisse noch besser reagieren können.

Yildiz Akgün ist Projektleiterin bei MiNA - Leben in Vielfalt e.V., eine Beratungs- und Kontaktstelle für Menschen mit Behinderung und deren Angehörige. Dort finden nicht nur Informationsveranstaltungen und damit die Möglichkeit zur Kooperation und Vernetzung im Bereich der Behindertenhilfe und Migrationsarbeit statt sondern vor allem auch ein gemeinsamer Austausch zwischen Betroffenen und Angehörigen.

Die Fachstelle Migration und Behinderung des AWO Landesverbandes Berlin e.V. bietet ebenfalls Beratung und Unterstützung bei der Organisation von Selbsthilfegruppen. Auch sie ist Anlaufstelle für fachlichen Austausch. Angeboten werden verschiedene Foren, die sich mit Migration und Behinderung auseinandersetzen.

Migration und Älter werden: Selbsthilfe und Interkulturelle Öffnung in der Altenpflege

Ältere MigrantInnen sind eine der am stärksten anwachsenden Bevölkerungsgruppen in Deutschland. Auch hier leisten Selbsthilfegruppen als dritte Säule der Prävention Wesentliches: Sie tragen zum gemeinsamen Austausch und zur Lösungsfindung bei, sie stiften Identität und stärken die Eigenverantwortung.

In Berlin gibt es derzeit 70 Selbsthilfegruppen für Menschen mit Migrationshintergrund. Eine Zugangsbarriere zu Selbsthilfegruppen ist das jeweilige kulturspezifische Verständnis von Krankheit. Außerdem sind Selbsthilfegruppen als Konzept gerade älteren MigrantInnen häufig unbekannt sind. Für viele ist die Familie das primäre Unterstützungs- und Hilfesystem. Sprachbarrieren nehmen auch hier wieder eine hindernde Rolle ein. Dem Entgegenwirken will beispielsweise der Arbeitskreis Selbsthilfe und Migration der Berliner Selbsthilfekontaktstellen, wo Sprachfähigkeit trainiert wird und verschiedene Gruppenformen angeboten werden. Besonderer Wert wird darauf gelegt, dass trotz des Erlernens der deutschen Sprache auch Angebote in der Muttersprache vorhanden sind. Auf den wertwollen vertrauensbildenden Aspekt durch Sprache soll nicht verzichtet werden.

Kontaktstellen zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen existieren in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. So richtet sich das Feministische Frauen Gesundheits Zentrum e.V. an Frauen mit Informationen zu frauenspezifischen Präventions- und Rehabilitationsprogrammen und Kontaktmöglichkeiten.

Kom.zen - das Kompetenz Zentrum Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe - wiederum arbeitet schwerpunktmäßig an der Einbindung älterer EinwanderInnen in die Berliner Strukturen der Altenhilfe: durch Netzwerkbildung, Information und Beratung und Kurse, bei denen es speziell um Belange und Beschwerden älterer Frauen geht. Auf der 12. LGK stellte Dr. Saffana Salman ihre Auswertung der Interviews mit zwei Fokusgruppen (30 türkischsprachigen Frauen) zum Thema Demenz vor.

Mehr Migrationsgerechtigkeit in der psychiatrischen bzw. psychosozialen Versorgungslandschaft notwendig

Die derzeit mangelnde Migrationsgerechtigkeit beispielsweise auch in der psychiatrischen bzw. psychosozialen Versorgungslandschaft festzustellen, ändert aber nichts daran, dass wir uns ein Stück weit von einem Denken lösen sollten, das Personen mit und ohne Migrationshintergrund als zwei klar abgrenzbare Gruppen bestimmt. Von den Problemen der MigrantInnen versus den Personen ohne Migrationsbiographie zu sprechen, heißt nicht nur die beträchtliche Heterogenität innerhalb der Bevölkerungsgruppe mit Migrationsbiographie auszublenden bzw. diese gegenüber der Migrationserfahrung als sekundär zu erachten, sondern diese Probleme auch als Sonderfälle zu betrachten. Dies ist aber doppelt falsch: Zum einen haben nicht alle Personen mit Migrationshintergrund Probleme, Zugang zum Versorgungssystem zu finden. Zum anderen dürften auch viele Personen ohne Migrationshintergrund eine Reihe ähnlicher Probleme haben (z.B. Informationsmängel, geringe sprachliche Ausdrucksfähigkeit, mangelndes Vertrauen zu öffentlichen Institutionen im Allgemeinen und zur Psychiatrie im Besonderen, Unüberschaubarkeit des Systems).

Sich in der Heimat Berlin verwurzeln

Von der Entwurzelung zur Verwurzelung - dieses Motto hallte als Anliegen noch nach in allen Diskussionsrunden. Jeder Mensch mit Migrationsbiographie soll mit seinen oder ihren speziellen Bedürfnissen in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung ankommen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es Netzwerkstrukturen, die auf individuelle Bedürfnisse eingehen und informieren können. Der Schlüssel dazu ist die Sprache in der jeweiligen Muttersprache und in langer Sicht durch Sprachvermittlung bzw. durch eigene Deutschkenntnisse.

Selbsthilfegruppen können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, da sie Menschen mit gleichen Bedürfnissen und Erfahrungen zusammenbringen und ihnen den Zugang zu Informationen ermöglichen. Oftmals dienen MuttersprachlerInnen als Kontakte zu öffentlichen Einrichtungen vor Ort, diese stellen häufig den Erstkontakt her und fungieren als wichtige Kultur- und SprachvermittlerInnen.

Essentiell bei der langfristigen Förderung von Gesundheitsprävention ist, dass Wissensvermittlung die Eigenständigkeit fördert. Die Teilnehmenden der 12. LGK erachten es als problematisch, dass viele dieser Selbsthilfegruppen und Kurse noch Projektcharakter haben, die Finanzierung somit unsicher ist. Gefordert wird die Etablierung fester Strukturen, auf deren Verlässlichkeit die Menschen vertrauen können. Gewünscht wird „Anleitung zur Selbstleitung als Schlüssel zur wirklichen Verwurzelung.“