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Europarat: Memorandum von Mechthild Rawert - „Die Stärkung der politischen Rechte von Menschen mit Behinderung ist eine demokratische Herausforderung“

Der Deutsche Bundestag hat mich im Frühjahr 2014 zum stellvertretenden Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg ernannt. Die damit verbundenen neuen Herausforderungen bin ich mit großem Elan angegangen und habe im neu gegründeten Unterausschuss Behinderung und Inklusion als Vorsitzende kandidiert - und wurde zur Vorsitzenden gewählt. Turnusgemäß läuft diese  Wahlperiode nach zwei Jahre ab. Nachfolgend mein „Rechenschaftsbericht“. Der Unterausschuss Behinderung und Inklusion ist dem Ausschuss für Gleichstellung und Nichtdiskriminierung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zugeordnet.

Ausschuss für Gleichstellung und Nichtdiskriminierung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats - Unterausschuss Behinderung und Inklusion

Das Memorandum dokumentiert die Aktivitäten des Unterausschusses Behinderung und Inklusion in den Jahren 2014 - 2015 und macht Vorschläge für Aktivitäten in den Jahren 2016 - 2017.

Der Unterausschuss Behinderung und Inklusion wurde am 8. April 2014 ins Leben gerufen. Als Chairwoman wurde Mechthild Rawert gewählt. Der Unterausschuss versteht sich als Austauschforum für die Belange von Menschen mit Behinderung und gab eine Reihe von Impulsen für die Arbeit des Ausschusses für Nichtdiskriminierung und Gleichstellung. Als vorrangige Themen wurden die politische Partizipation, Gewalt gegen Frauen mit Behinderung und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung behandelt. Gemäß der Geschäftsordnung der Parlamentarischen Versammlung endet die Amtszeit der Chairperson nach zwei Jahren.

1.     Erarbeitung des Berichts „Gleichstellung und Inklusion für Menschen mit Behinderungen“

Am 5. März 2014 führte der Ausschuss für Gleichstellung und Nichtdiskriminierung einen Gesprächsaustausch mit Helene Jarmer im Zuge der Erarbeitung des Berichts „Gleichstellung und Inklusion für Menschen mit Behinderungen“ durch. Helene Jarmer ist eine gehörlose österreichische Politikerin der Grünen und Abgeordnete im österreichischen Nationalrat. Im Jahr 2008 wurde die Gebärdensprache als offizielle Amtssprache in der österreichischen Verfassung anerkannt. In Österreich bestehen zwei parallele Systeme im Bildungsbereich: Es gibt immer noch Sonderschulen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, Dies widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention. Positiv zu werten ist die wachsende Zahl der Integrationsklassen, in denen SchülerInnen mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen.

Am 30. Januar 2015 beschloss die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) den Bericht und die Resolution „Gleichstellung und Inklusion für Menschen mit Behinderungen“. Als Chairwoman des Sub-Committee on Disability and Inclusion begrüße ich die Inhalte der Resolution und des Berichtes sehr und danke der Berichterstatterin Carmen Quintanilla aus Spanien für ihre Arbeit. Es handelt sich um die erste Resolution der PACE zum Thema Inklusion. Sie ist als ein wichtiger Meilenstein für eine inklusive Gesellschaft in Europa zu werten.

In der Sitzung des Ausschusses für Gleichstellung und Nichtdiskriminierung in Paris am 3. Dezember 2014 konnte ich mehrere Änderungsvorschläge bei der Erarbeitung der Resolution einbringen. In diesem Zusammenhang danke ich dem Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) für die gute und enge Zusammenarbeit. Das DIMR fungiert als unabhängige Monitoring-Stelle zur Überwachung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland.

Mir war es zum Beispiel wichtig, dass in der Resolution die Rolle der Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten, gestärkt werden. Außerdem sollte festgehalten werden, dass das Monitoring der politischen Maßnahmen durch unabhängige Institute durchgeführt werden soll.

2. Hearing zum Thema Gewalt gegen Frauen mit Behinderung 

Am 24. Juni 2014 fand in Straßburg eine gemeinsame Sitzung des Ausschusses für Gleichheit und Nichtdiskriminierung mit dem Parlamentarischen Netzwerk "Gewaltfreies Leben für Frauen" statt. An dem Hearing zum Thema Gewalt gegen Frauen mit Behinderung  nahmen teil: Gabriella Battaini-Dragoni, stellvertretende Generalsekretärin des Europarats, Ana Peláez Narváez, Mitglied im Ausschuss für Menschen mit Behinderung der Vereinten Nationen und Direktorin für Internationale Beziehungen des nationalen spanischen Blindenverbandes (ONCE), sowie Gill Hague, Professorin am Zentrum für Gender- und Gewaltforschung, School for Policy Studies, University of Bristol, Großbritannien.

Ana Peláez Narváez erklärte: Frauen mit Behinderungen leiden unter der Nichtanerkennung, unter dem Nicht-Sichtbarsein in Schule, Ausbildung und Erwerbsleben, leiden unter den prekären wirtschaftlichen Situationen, in denen sie leben und die sie abhängig von Dritten machen, leiden unter einem Mangel an sexuellen und reproduktive Rechten, leiden am mangelnden Zugang zur Gesundheitsversorgung.

Frauen mit Behinderung sind vier Mal häufiger von sexueller Gewalt betroffen. Die Schwierigkeit sei, dass den Frauen zu wenig geglaubt werde, zumal die Täter oft aus dem engsten Umfeld kommen. Häufig sei Inzest die Folge. Vielen Frauen, insbesondere jene, die als geschäftsunfähig gelten, fehle auch das Bewusstsein, ein Opfer zu sein. Andere stecken in Abhängigkeitsstrukturen und sehen keine Möglichkeit, die sexuelle Gewalt öffentlich zu machen.

Mit dem Thema Zwangssterilisation seien mehrere Probleme verbunden: zum einen, wenn eine Sterilisation ohne Einwilligung erfolge und zum anderen seien sterilisierte Frauen einer noch größeren Gefahr der sexuellen Gewalt ausgesetzt, weil das Risiko einer Schwangerschaft nicht mehr bestehe.

Ana Peláez Narváez forderte, das Thema Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen stärker in den Fokus der politischen Öffentlichkeit zu rücken. Des Weiteren müssen Frauen sehr viel stärker an Entscheidungsprozessen beteiligt werden.

Professorin Gill Hague aus Bristol begrüßte die Istanbul-Konvention als wichtigen europaweiten Standard zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Sie stellte die erste nationale Studie aus Großbritannien über den Missbrauch und Gewalt gegen Frauen mit Behinderung („Disabled Women, Domestic Violence and Social Care: The Risk of Isolation, Vulnerability and Neglect”) vor.  Auch diese Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Frauen mit Behinderungen stärker von häuslicher Gewalt betroffen sind als Frauen ohne Behinderungen. Trotzdem stehen ihnen weniger entsprechende Hilfsangebote zur Verfügung. So fehlt es an entsprechenden Schutzmöglichkeiten, wie z.B. Frauenhäuser, die Frauen mit Behinderungen auch aufnehmen. Das Thema sexuelle Gewalt werde nicht ausreichend wahrgenommen, in der Gesellschaft fehle ein Bewusstsein darüber, dass Frauen mit Behinderungen in ihrer Persönlichkeit keineswegs ausschließlich durch die Behinderungen bestimmt seien. Lösungen seien nur dann zu finden, wenn der Grundsatz der UN-BRK “Nichts ohne uns über uns” eingelöst werde.

Es fehle an notwendigen Ressourcen, es herrscht ein harter Kampf um die Finanzierung und um entsprechende Angebote. Die Barrierefreiheit in Frauenhäusern muss ausgebaut werden. Es müsste ein entsprechender Austausch zwischen Frauen mit Behinderungen und dem entsprechenden Fachpersonal stattfinden, damit Alarmzeichen als solche besser wahrgenommen werden. Die Familienplanungszentren sind auf die Belange von Frauen mit Behinderungen einzustellen. Es müsse mehr Aufklärungs- und Unterstützungsangebote für Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen bereitgestellt werden. Die primäre Gesundheitsversorgung ist für Frauen mit den differenzierten Beeinträchtigungen unzureichend. Gill Hague forderte hier Sensibilisierungs- und Fortbildungsmaßnahmen für die Beschäftigten im Gesundheitssektor.

Durch das Hearing sind die Mitglieder des Ausschusses für das Thema stark sensibilisiert und die politische Aufmerksamkeit erhöht worden.

3.     Austausch über den “Disability Action Plan 2006 - 2015”

Am 25. Juni 2014 fand ein Gesprächsaustausch mit Irena Kowalczyk-Kedziora, Sekretärin des Expertenausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen des Europarats (CS-RPD), statt. Irena Kowalczyk Kedziora stellte den “Disability Action Plan 2006 - 2015” des Europarats zur Förderung der Rechte und Partizipation von Menschen mit Behinderung mit dem Ziel der Erhöhung der Lebensqualität von Menschen mit Behinderung in Europa vor. In der Diskussion wurden die Auswirkungen der Austeritätspolitik auf Menschen mit Behinderung problematisiert, insbesondere die auf den Zugang zum Arbeitsmarkt.

Bezüglich der Rechte behinderter Frauen und Mädchen liegt die Empfehlung CM/Rec (2012) 6 des Ministerkomitees des Europarates vom 13. Juni 2012 vor. Diese befasst sich mit dem Schutz und der Förderung der Rechte behinderter Frauen und Mädchen. Einbezogen wurden die Themen Gleichstellungs- und Nichtdiskriminierungsgesetze, Forschung und Statistik, Teilhabe am politischen Leben und an der Entscheidungsfindung, Ausbildung und Erziehung, Beschäftigung und wirtschaftliche Lage, Gesundheitsversorgung und Rehabilitation, Zugang zum Sozialschutz und zu sozialen Leistungen, sexuelle und reproduktive Rechte, Mutterschaft und Familienleben, Zugang zur Justiz und zum Schutz gegen Gewalt und Missbrauch, Teilhabe an kulturellen, sportlichen und an Freizeitmaßnahmen und Tourismus sowie Bewusstseinsbildung und Abbau von Vorurteilen. Die Empfehlung fordert, dass die Anliegen und Rechte behinderter Frauen und Mädchen eine viel stärkere Berücksichtigung finden. Zwar gibt es hier Fortschritte, es bestehen aber noch viele Defizite, die Frauen und Mädchen mit Behinderungen behindern.

Der Aktionsplan definiert nicht den Begriff „Behinderung“; das sei Sache der nationalen Politik eines jeden Staates. Er fordert aber, dass die Bestimmungen zur Achtung der Menschenrechte in einschlägigen europäischen und internationalen Texten „ohne aus irgendwelchen Gründen abzuleitende Unterschiede“ für alle gelten, „einschließlich behinderter Menschen“.

Der bereits drei Jahre vor dem Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen verabschiedete Aktionsplan beruhte auf zwei zentralen Prämissen:

  • Derzeit vollzieht sich ein Übergang vom rein medizinischen Begriff der Beeinträchtigung hin zu einem Fähigkeitsbegriff, der auf die Talente und Begabungen des Einzelnen abstellt. Die Gesellschaft hat die moralische Pflicht, die Auswirkungen einer Behinderung auf ein Minimum zu reduzieren. Behinderung ist Teil der menschlichen Vielfalt.
  • Es ist legitim, dass Menschen mit Beeinträchtigungen ihren Platz als BürgerIn unter BürgerInnen einfordern. Es ist die Pflicht der Behörden, den Zugang von Menschen mit Beeinträchtigungen zum politischen und öffentlichen Leben auf allen Ebenen und in allen Bereichen zu fördern.

Menschen mit Behinderungen sollen Zugang zu materiellem Besitz erhalten. Ihr individuelles Wohlergehen ist zu sichern. Die gesellschaftliche Solidarität für diese besonders schützenswerte Personengruppe sollte selbstverständlich sein. Etwa 15 Prozent der 820 Millionen EinwohnerInnen der 47 Länder des Europarats sind von einer Behinderung betroffen. Aufgrund der Verlängerung der Lebenserwartung durch den medizinischen Fortschritt nimmt die Zahl der Behinderungen, die durch Krankheiten verursacht werden, zu. Behinderung kann jede und jeden jederzeit treffen.

Bis Ende 2015 sollte der Aktionsplan des Europarates zugunsten von Menschen mit Behinderungen eine kohärente Politik verwirklichen, die auf den Grundsätzen des vollen BürgerInnenrechts und der möglichst autonomen Lebensweise beruht. Das ist bei insgesamt 41 Zielen und 163 spezifischen Maßnahmen ein sehr ehrgeiziges Ziel. Der Aktionsplan stützte sich auf zwei Europaratstexte, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Sozialcharta. Der Aktionsplan liegt in 30 Sprachen, darunter auch in Blindenschrift und in einfacher Sprache, vor.

4.  One of us? Das Recht der Menschen mit Behinderung auf gesellschaftliche Teilhabe

Zum Thema “One of us?” fand am 2. Oktober 2014 in Straßburg eine gemeinsame Sitzung mit dem ExpertInnenausschuss des Europarats für die Rechte von Menschen mit Behinderung statt (Council of Europe Committee of Experts on the rights of persons with disabilities - DECS-RPD). Im Mittelpunkt der Diskussion stand das Recht der Menschen mit Behinderung auf gesellschaftliche Teilhabe.

Als ImpulsgeberInnen nahmen teil: Gabriella Battaini-Dragoni, stellvertretende Generalsekretärin des Europarats; Nils Muižnieks, Menschenrechtskommissar des Europarats; Karina Chupina, Schulungsleiterin der Jugendabteilung des Europarats und Präsidentin des Internationalen Schwerhörigenverbandes; Professor Gerard Quinn, Direktor des Centre for Disability Law and Policy an der Universität Galway, Irland. Gemeinsam mit Dimitris Nikolsky, Chairman des ExpertInnenausschuss des Europarats für die Rechte von Menschen mit Behinderung, habe ich die Sitzung geleitet.

Das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderung sind Menschenrechte, betonte Menschenrechtskommissar Nils Muižnieks. Er rief dazu auf, keine neuen stationären Einrichtungen zu errichten, in denen nur Menschen mit Behinderung untergebracht sind. Es ist eine wichtige Herausforderung, den Ansatz der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung durchzusetzen, erklärte Gabriella Battaini-Dragoni. Dazu ist eine veränderte gesellschaftliche Sichtweise auf Menschen mit Behinderung notwendig, weg vom Fürsorge-Ansatz hin zur Beteiligung. Professor Gerard Quinn betonte, dass der Fokus auf das Recht von Menschen mit Behinderung mitten in der Gesellschaft zu leben, gerichtet werden müsse.

Aus den Impulsen entspann sich ein Austausch darüber, wie sich die Situation in den unterschiedlichen Staaten darstellt.

5.     Gesprächsaustausch zum Thema politische Partizipation von Menschen mit Behinderung mit Martha Stickings

Am 22. April 2015 fand ein Gesprächsaustausch zum Thema politische Partizipation von Menschen mit Behinderung mit Martha Stickings, Research Support Officer, Equality and Citizens’ Rights Department bei der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, statt. Eine Studie der Grundrechteagentur der Europäischen Union thematisiert die Schwierigkeiten der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unterschiedlichen Bereichen. Aus der juristischen Perspektive existieren in 21 Ländern Einschränkungen für das Wahlrecht von Menschen mit Behinderung. Auch der Zugang zu Wahllokalen ist oftmals nicht barrierefrei.

Im Nachgang zu dieser Debatte initiierte ich die Motion (Antrag) zu: “Die politischen Rechte von Menschen mit Behinderung - eine demokratische Herausforderung“, „The political rights of persons with disabilities: a democratic issue“. Am 27. Januar 2016 wurde mir von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats die Berichterstattung für das Thema „The political rights of persons with disabilities: a democratic issue“ anvertraut. Hier geht es um die Stärkung der demokratischen BürgerInnen- und Beteiligungsrechte von Menschen mit Behinderung.

6.     Vorschläge für Aktivitäten in den Jahren 2016-2017

Folgende Vorschläge für die Arbeit des Unterausschusses Behinderung und Inklusion habe ich unterbreitet:

  • Stärkung der Rechtsstellung von Menschen mit Behinderung
  • Stärkung der politischen Partizipationsrechte, u.a. auch im Hinblick auf die Erarbeitung des Berichts “Die politischen Rechte von Menschen mit Behinderung - eine demokratische Herausforderung“
  • Situation der Menschen mit Behinderung in Gefängnissen
  • Zwangseinweisung und Zwangsmaßnahmen gegen Menschen mit Behinderung
  • Prävention und Kampf gegen Gewalt an Menschen mit Behinderung
  • Situation von Geflüchteten mit Behinderung.

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ASEgaDisabilityInf (2016) 01 - Activities in 2014-2015 and proposals for activities in 2016-2017.pdf180.95 KB