Seit Mitte der 70er Jahre wird auch in Deutschland am letzten Sonntag im September der weltweite Tag der Gehörlosen begangen. In diesem Jahr wollte der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. (DGB) seine Mitglieder, Partner und weitere Interessierte über das aktuelle Thema „Bundesteilhabegesetz (BthG)“ informieren und an der Diskussion teilhaben lassen. Der DGB ist z.B. mit der Ausarbeitung der Stellungnahmen in den Prozess des Bundesteilhabegesetzes von Anfang an involviert. Aus diesem Grunde wurde am 24. September 2016 zur Podiumsdiskussion „Bundesteilhabegesetz - Wir kämpfen gemeinsam für volle Teilhabe von Gehörlosen und Taubblinden!“ ins Berliner Gehörlosenzentrum, Friedrichstraße 12, 10969 Berlin, eingeladen. Eigentümer und Träger ist die GFGB - Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen in Berlin e.V.. In der Podiumsdiskussion ging es vorrangig um die Darstellung der gesetzlichen Lage, vor allem in Bezug auf die gesellschaftliche und soziale Teilhabe der Gehörlosen und Taubblinden mit Verwendung der Gebärdensprache. Die Finanzierung des BTHG war ebenfalls Thema. Anschließend fand vor dem Gehörlosenzentrum auch noch ein Straßenfest mit vielen Informations- und Aktionsständen statt, an denen sich viele Initiativen, Selbsthilfegruppen, Institutionen sowie Firmen mit speziellen Angeboten für Gehörlose präsentierten. Also action pur an diesem Tag der Gehörlosen.
Wir wollen teilhaben - wir mischen uns ein
Helmut Vogel, Präsident des Deutschen Gehörlosen-Bundes e.V. (DGB) begrüßte und begann mit einem Statement. Der DGB habe sich von Anfang an dem durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales initiierten partizipativen Dialogprozesse beteiligt. Die Stellungnahmen und der Abschlussbericht sind hier zu finden. Einiges, aber noch nicht Ausreichendes, sei geschehen. Beim Einsatz von GebärdensprachdolmetscherInnen, beim Aufbau von Gehörlosenvertretungen in den Ländern, etc. - sei es notwendig, dass noch sehr viel mehr Medien gehörlosen Menschen einen barrierefreien Zugang zu den Informationen ermöglichen. Gefragt seien hier auch die Rundfunkräte der Bundesländer. Auch gehörlose und taubblinde Menschen wollen politische Partizipation. Ein großartiger Erfolg sei die Einrichtung des Bundeskompetenzzentrums (BKZ) mit Sitz in Berlin. Alle gehörlosen und andere hörbehinderte BürgerInnen, Mitglieder und Angehörige bekommen vom BKZ eine umfassende Beratung und Unterstützung. Dabei liegen die Schwerpunkte auf Selbsthilfe, Sozialpolitik, Rechtsberatung und Diskriminierungsschutz.
Das Bundesteilhabegesetz
Die politische und zivilgesellschaftliche Debatte um das Bundesteilhabegesetz läuft derzeit mit Wucht. Das BTHG besteht aus drei großen Teilen:
- 1.Teil des SGB IX: Neuformulierung des Behindertenbegriffs gemäß UN-Behindertenrechtskonvention, Bessere Teilhabe am Arbeitsmarkt durch das Budget für Arbeit
- 2. Teil des SGB IX: neue Regelung der Eingliederungshilfe
- 3. Teil des SGB IX: Stärkung der Mitwirkungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Einführung von Frauenbeauftragten, mehr Mitglieder in den Werkstatträten
Die Bundesregierung hat bereits zwischen dem Referenten- und dem Kabinettsentwurf Verbesserungen im Interesse der Betroffenen vorgenommen, u.a.:
- Wer Eingliederungshilfe erhält, also Sozialhilfe für Menschen mit dauerhafter oder drohender Behinderung, soll nicht mehr nur 2600 Euro des Barvermögens behalten dürfen. Ab 2017 sollen es 27.600, ab 2020 dann 50.000 Euro sein. Ab 2020 soll auch das Vermögen bzw. das Einkommen der PartnerIn vollständig anrechnungsfrei bleiben.
- Erwerbstätige Menschen mit Behinderungen können ab 2017 bis zu 27.600 Euro und ab 2020 etwa 50.000 Euro anrechnungsfrei ansparen.
- Im Bundeshaushalt sind auch 700 Millionen Euro zusätzlich bis zum Jahr 2020 eingestellt.
Beabsichtigt ist, dass es niemandem mit dem Bundesteilhabegesetz schlechter gehen wird - im Gegenteil: Den meisten wird es besser gehen. Vorgesehen ist unter anderem ein Budget für Arbeit: Arbeitgeber sollen bei der Einstellung von Menschen mit Behinderung bis zu 75 Prozent des Lohns erstattet bekommen. Intendiert ist auch, dass Menschen mit Handicaps nicht mehr mehrere Stellen wie Sozialamt, Reha-Träger, Bundesagentur und Sozialkassen „abklappern“ müssen - ein einziger Antrag für Leistungen soll reichen. Ein Teilhabeplanverfahren soll für jede Person durchgeführt werden.
Podiumsdiskussion: „Bundesteilhabegesetz - Wir kämpfen gemeinsam für die volle Teilhabe von Gehörlosen und Taubblinden!“
An der von Sven Niklas, Referent für Rechtsfragen im DGB- Bundeskompetenzzentrum und Helmut Vogel moderierten Podiumsdiskussion nahm ich als Vertreterin der SPD teil. Selbstverständlich waren auch Dolmetscherinnen für Gebärdensprache aktiv, herzlichen Dank allen Beteiligten.
Auch in dieser Diskussion wurde deutlich, dass es zu vergleichbaren Sachverhalten unterschiedliche Einschätzungen dazu gibt, was denn das BTHG gewährt oder auch nicht gewährt. ParlamentarierInnen haben also noch viel zu tun.
Einfache und qualifizierte Assistenz für die soziale Teilhabe
Die Klärung der Assistenz ist für das generelle Vereinsleben eines gehörlosen Menschen sowohl im Gehörlosenverein als auch in einem hörenden Verein unerlässlich. Der DGB mit seinen Landesverbänden und Gehörlosenvereinen sei selbst das beste Beispiel: Da nach wie vor Schwierigkeiten bei der Übernahme von GebärdensprachdolmetscherInnen existieren, könne der Verein nicht so umfassend verbandspolitisch agieren wie gewollt und notwendig. Auch sei es so, dass Gehörlose, die Mitglied in einer politischen Partei sind, bisher kaum an parteiinternen Vorgängen teilhaben können, somit letztlich auch von ihrem passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind.
Der DGB beklagt, dass die Regelungen hinsichtlich der Assistenzleistungen (§ 78 SGB IX-E i.V.m § 113 SGB IX-E) nicht weitreichend genug sind. Unklar sei bei der Verständigung mit der Umwelt, mit anderen Worten der Kommunikation, ob damit alle Bereiche des Lebens gemeint sind und ob die Kosten für GebärdensprachdolmetscherInnen für Gehörlose, die sich ehrenamtlich engagieren, auch übernommen werden. Gehörlose seien aber darauf angewiesen. Auch für Taubblinde sind umfassende Assistenzleistungen sehr wichtig. Wer bezahlt die professionellen BegleiterInnen (Taubblindenassistenz).
Der DGB will auch eine ersatzlose Streichung der Formulierung „aus besonderem Anlass“ im § 82 SGB IX-E i.V.m § 113 SGB IX-E (Leistungen zur Förderung der Verständigung). Diese Formulierung führe zu starken Einschränkungen, eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten sei vorhersehbar. Wie würden zum Beispiel Bankgespräche, wichtige Vertragsverhandlungen (z.B. Kauf einer Immobilie oder Auto), Wohnungseigentümerversammlungen oder Notarzttermine oder überhaupt Gespräche im Krankenhaus oder in Praxen eingeschätzt. Der DGB fordert eine Pauschale von 180 Stunden pro Jahr.
Das BMAS verweist zum Beispiel darauf, dass die Regelungen des § 82 SGB IX im Wesentlichen dem geltenden Recht entspricht, also keine Verschlechterungen bedeuten. Derzeit sind die Hilfen zur Kommunikation auf „besondere Anlässe“ beschränkt. Der Verzicht auf dieses Merkmal wäre mit erheblichen derzeit nicht durchsetzbaren Mehrkosten verbunden. Die Regelung müsse im Übrigen nicht isoliert, sondern in Verbindung mit der neuen Regelung zu Assistenzleistungen (§78 SGB IX) gesehen werden. Diese stellen eine Verbesserung dar, da entsprechende Kommunikationshilfen und -mittel im Bedarfsfall eingeschlossen sind. Zudem wird es für viele Menschen, die bisher keine Assistenz im Rahmen der Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen wollten, auf Grund der geringeren Anrechnung von eigenem Einkommen und Vermögen einfacher, Kommunikationshilfen in Anspruch zu nehmen.
Ich kann für mich sagen, dass ich es wichtig finde, dass zur Ausübung eines Ehrenamtes die Inanspruchnahme von Assistenz, und zwar nicht nur die durch Personen des näheren persönlichen Umfeldes, sondern auch hauptamtliche Assistenz, wichtig finde. Ich bin der Meinung, dass hier eine Gleichrangigkeit der Leistungen notwendig ist.
„Poolen“: Begutachtung wegen 5 aus 9 Lebensbereichen
Der § 99 SGB IX-RegE regelt den Zugang zu den Leistungen der Eingliederungshilfe. Um Anspruch auf Eingliederungshilfe zu haben, müssen Menschen mit Behinderung Unterstützungsbedarf in mindestens 5 von 9 Lebensbereichen der ICF aufweisen. Die 9 Lebensbereiche sind:
- Lernen und Wissensanwendung,
- Allgemeine Aufgaben und Anforderungen,
- Kommunikation,
- Mobilität,
- Selbstversorgung,
- Häusliches Leben,
- Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen,
- Bedeutende Lebensbereiche sowie
- Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben
Zwar begrüßt der DGB, dass im BTHG der Behinderungsbegriff überarbeitet wird, diese Regelung wird aber dennoch kritisiert. Menschen die in weniger als 5 Lebensbereichen betroffen sind, müssten damit auf die Ermessensausübung der zuständigen SachbearbeiterIn hoffen. Die bisher schon restriktive Anwendung der Sozialhilfepraxis würde mit dem BTHG nicht beseitigt, sondern eher noch verstärkt. Laut DGB wird die Verständigung mit der Umwelt (Kommunikation) in den meisten Bundesländern weiterhin nicht menschenrechtskonform unterstützt, was dazu führt, dass gehörlose Menschen erheblich von der sozialen Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen sind.
Laut BMAS entsprechen die neuen Zugangskriterien für die Eingliederungshilfe einem modernen Teilhaberecht, das den derzeitigen defizitorientierten Behinderungsbegriff überwindet. Der Zugang wird über Einschränkungen an der gesellschaftlichen Teilhabe definiert und orientiert sich an den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention. Der Kreis der Leistungsberechtigten werde durch die neue Zugangsregelung nicht eingeengt. Bisher hatte Anspruch auf Leistungen, wer eine „wesentliche Behinderung“ vorweisen konnte. Im Entwurf zum BTHG stehe, dass leistungsberechtigt ist, wem in mindestens fünf von neun Lebensbereichen Aktivitäten nicht ohne personelle oder technische Unterstützung möglich sind bzw. wem in mindestens drei Lebensbereichen die Ausführung von Aktivitäten selbst mit personeller oder technischer Unterstützung nicht möglich ist. Dabei sind die Lebensbereiche an die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation angelehnt. Die Regelungen zum „Poolen“ werden erst im zweiten Schritt der Reform ab 2020 eingeführt, damit die Träger ausreichend Zeit für die Umstellung und für mögliche Pilotphasen haben. Außerdem will das BMAS im Rahmen einer Wirkungsforschung genau beobachten, was passiert. Vorgesehen ist auch eine Evidenzbeobachtung zur Evaluierung der Regeln durch die Länder.
Für mich ist es noch unklar, wie es sich beim Poolen zum Beispiel im Hinblick auf Menschen mit psychischen Erkrankungen und auch bei Blinden verhält. Ich will auf keinen Fall, dass eine Reduzierung der Leistungen erfolgt. Gegebenenfalls muss 2019 eine gesetzliche Anpassung erfolgen.
Einschätzung zum jetzigen und zu künftigen parlamentarischen Verfahren
Ich habe mich gefreut, dass der DGB die Verbesserungen vom Referenten- zum Kabinettsentwurf gleich an mehreren Stellen ausdrücklich würdigt:
- Positiv wird als erster Schrittder Wechsel vom fremdbestimmten Merkzeichen aHS auf das Merkzeichen TBl bewertet. Damit ist den Taubblinden mit dem Merkzeichen TBl entgegengekommen, auch wenn sie weiter für ihre Rechte kämpfen müssen.
- Explizit begrüßt wird die Nichtanrechnung des PartnerInneneinkommens und -vermögens. Mittelfristig sei aber ein Ausstieg aus der Einkommens- und Vermögensanrechnung für eine gleichberechtigte volle und wirksame Teilhabe unabdingbar.
- Positiv wird ausdrücklich die Schaffung und Finanzierung der unabhängigen Beratung im Sinne von „Betroffene beraten Betroffene“ - § 32 SGB IX-E ( Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung) - eingeschätzt. Offen sei aber noch die Frage, ob eine Finanzierung der GebärdensprachdolmetscherInnen über § 17 SGB I laufen oder ob andere Regelungen gelten würden. Der DGB fordert, dass Gehörlose, die eine unabhängige Beratung aufsuchen, diese auf Wunsch in Deutscher Gebärdensprache erhalten müssen.
Auch diese Podiumsdiskussion hat noch erheblichen Klärungsbedarf deutlich gemacht. Deutlich wurde aber auch, dass die zahlreichen Wirkungsforschungen und Evaluationen bis 2019 nur dann in Kraft treten, wenn das BTHG noch in diesem Jahr verabschiedet wird. Auch ich habe noch erheblichen Klärungsbedarf und setze auf die Übergangszeit, setze auf Klärungen in einem weiteren Gesetzesverfahren 2019. Davon unberührt sind selbstverständlich all die Debatten, die wir in diesem parlamentarischen Verfahren zu führen haben.
Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. (DGB)
Der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. (DGB) versteht sich als sozialpolitische, kulturelle und berufliche Interessenvertretung der Gehörlosen in Deutschland und als Forum für die Gebärdensprachgemeinschaft. Im DGB haben sich 26 Mitgliedsverbände, darunter 16 Landesverbände und 9 Fachverbände, zusammengeschlossen. Über diese Verbände sind mehr als 600 Vereine im DGB organisiert. Die Bereiche Förderung der (kommunikativen) Barrierefreiheit für Menschen mit Hörbehinderung, Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für gehörlose Menschen sowie die Förderung der Gebärdensprache und Gehörlosenkultur sind die Arbeitsschwerpunkte des DGB.
Deutsche Gebärdensprache (DGS)
Gehörlose Menschen haben das Hörvermögen vor dem Spracherwerb verloren. Damit ist ein natürlicher Erwerb der gesprochenen und damit auch der geschriebenen (deutschen) Sprache nicht möglich. Für die meisten gehörlosen Menschen ist daher die Deutsche Gebärdensprache (DGS) das sicherste Kommunikationsmedium. Die Kommunikation in der gesprochen und geschriebenen deutschen Sprache ist der Verständigung in einer Fremdsprache vergleichbar, die gehörlose Menschen individuell unterschiedlich gut beherrschen. Für eine erfolgreiche Teilhabe in der Gesellschaft, nicht nur in politischer und kultureller Hinsicht, ist für gehörlose Menschen die Gebärdensprache unabdingbar. Die deutsche Gebärdensprache (DGS) ist als eigenständige Sprache mit eigener Grammatik in Deutschland seit 2002 gesetzlich anerkannt.