(Erschienen in der Berliner Stimme Nr. 23 - 66. Jahrgang 12. November 2016)
Unsere gesamte Gesellschaft muss einen Perspektivwechsel vollziehen: Menschen mit Behinderung wollen nicht mehr aus der Fürsorgeperspektive behandelt werden, sondern selbstbestimmt leben und an der Gesellschaft umfassend teilhaben.
Das ist das erklärte Ziel des Bundesteilhabegesetz (BTHG). Die Lebenssituation von rund 16,8 Mio. Menschen mit (drohenden) Behinderungen und rund 7,5 Mio. Menschen mit Schwerbehinderungen sollen verbessert werden. Wir wollen einen weiteren Meilenstein auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft setzen.
Bisher ist die Eingliederungshilfe in den einzelnen Bundesländern geregelt und fällt entsprechend unterschiedlich aus. Das BTHG ist daher eine der großen sozialpolitischen Reformen dieser Legislatur, auch wenn derzeit im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit heftig gestritten wird.
Ich begrüße es, dass sich Menschen mit Behinderung in ihrer Vielfalt aktiv einmischen - wann sonst, wenn nicht jetzt. Deswegen habe ich stellvertretend für die Abgeordneten des Bundestages die 6 Hauptforderungen der Fachverbände entgegengenommen. 3.000 Menschen mit und ohne Behinderung hatten am 7. November unter dem Motto „Teilhabe – jetzt erst Recht!“ demonstriert. Anlass war die Anhörung der Sachverständigen im Bundestag zum BTHG. Eine weitere Demonstration fand am Brandenburger Tor statt. Hier wurden 150.000 Unterschriften an den Bundestag übergeben, um für Verbesserungen am BTHG zu werben.
Die Vielfalt der Menschen mit und ohne Behinderungen führt allerdings auch dazu, dass die Vorteile, die das BTHG für eine der vielfältigen Gruppen von Menschen mit Behinderungen bringt, von den anderen nicht gleich intensiv gesehen werden. Als Abgeordnete stehen wir vor der Aufgabe, für möglichst viele Menschen die Chancen für ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen - auch wenn nicht jeder Mensch von allem gleich profitiert.
Partizipativer Entstehungsprozess
Dem Gesetzentwurf ging ein achtmonatiger vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales organisierter partizipativer Prozess voraus. Viele BedenkenträgerInnen hatten Bundessozialministerin Andrea Nahles vor diesem Schritt der aktiven Beteiligung mit Betroffenen und Verbänden im Vorfeld des Gesetzentwurf gewarnt: Es würden Erwartungen geweckt, die nicht alle zu erfüllen sind. Andreas Nahles hat richtig gehandelt. Ein Bundesteilhabegesetz, das den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention entsprechen will, muss der Glaubwürdigkeit wegen die zentrale Forderung „Nichts ohne uns über uns“ einlösen. Die gemeinsamen Debatten zeigen Wirkung: Bereits im Gesetzgebungsprozess wurden zahlreiche Verbesserungen erreicht, z.B. bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen.
Vertrauen aufbauen - Finanzierung sichern
Im Koalitionsvertrag wurde als ein Ziel des BTHG ausgegeben, dass die Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe zu bremsen ist. Das hat das Misstrauen der Menschen mit Behinderungen, der vielen Selbstvertretungsorganisationen und Fachverbände gegenüber dem BTHG geschürt. Sie fühlen sich als „Sparschweine der Nation“ und befürchten Leistungskürzungen zu Lasten ihrer individuellen Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Teilhabe. Dieses kann ich nachvollziehen. Nach einer im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Auftrag gegebenen Studie würden sich die Ausgaben unter Beibehaltung des Status Quo bis 2020 voraussichtlich um weitere rund fünf Mrd. Euro erhöhen. Wesentliche Ursache für den Ausgabenanstieg ist die weiterhin zunehmende Anzahl von der Leistungsberechtigten.
Veränderungswünsche
Viele Selbstvertretungsinitiativen und Fachverbände glauben, dass das BTHG zu zahlreichen Verschlechterungen führen wird. Sie befürchten, dass Menschen mit Behinderung aufgrund zu hoher Hürden aus dem Unterstützungssystem fallen, aufgrund der neuen Definition des Behinderungsbegriffs. Pflegebedürftige Menschen mit Behinderung könnten vorschnell in Pflegeeinrichtungen „verschoben“ werden, weil diese billiger als eine Behinderteneinrichtung seien. Menschen mit Behinderung würden weniger Unterstützung, wie z.B. persönliche Assistenzen, erhalten. Eine weitere Befürchtung ist die Einschränkung in ihrem Wunsch- und Wahlrecht bei der Wahl ihres Wohn- und Lebensortes. Leistungserbringer tragen vor, dass ihre Unterstützungsleistungen nicht bedarfsgerecht finanziert würden. Zur anderen Seite der Medaille gehört aber auch, dass hingegen die kommunalen Spitzenverbände den Gesetzentwurf kritisch sehen, weil sie steigende Ausgaben befürchten.
Als Berichterstatterin für das Pflegestärkungsgesetz III bin ich mich mit der Regelung der Schnittstelle zwischen Bundesteilhabegesetzes und der Pflegeversicherung befasst, insbesondere mit der Hilfe zur Pflege, einer Sozialhilfeleistung. Daher kämpfe ich unter anderem - entgegen der im Gesetzentwurf beschriebenen Vorrangregelung der Leistungen der Pflegeversicherung zu Leistungen der Eingliederungshilfe - für den Erhalt der Gleichrangigkeit der beitragsfinanzierten Pflegeleistungen und der steuerfinanzierten Leistungen der Eingliederungshilfe. Und es muss sichergestellt wird, dass es keine Verschlechterungen geben wird.
In der Anhörung wurde von Seiten der Sachverständigen und Verbände nicht nur Kritik geübt, sondern vor allem eine Reihe an konstruktiven Lösungsvorschlägen unterbreitet, die jetzt in die parlamentarische Beratung fließen.
Sicher ist jetzt schon, dass das Strucksche Gesetz, nach dem kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hereingekommen ist, auch beim BTHG zum Tragen kommt.