Die Anzahl pflegebedürftiger Menschen steigt seit Jahren sukzessive an. Deutschlandweit leben fast 2,9 Millionen Pflegebedürftige, von denen 73 Prozent zu Hause versorgt werden. Die Hauptlast der Versorgung und Betreuung dieser Menschen liegt zumeist bei den Angehörigen. Pflegende Angehörige stoßen hierbei nicht selten an die Grenzen ihrer eigenen Belastbarkeit. Politik und Gesellschaft haben es sich daher zur Aufgabe gemacht, die ambulante Versorgung nachhaltig zu stärken.
Welch bedeutende Rolle allerdings Kinder und Jugendliche in diesem Zusammenhang einnehmen, wird häufig übersehen und ist bislang nur wenig erforscht. Sie übernehmen oftmals in hohem Maße Verantwortung bei der Betreuung und Versorgung ihrer pflegebedürftigen Angehörigen und stellen hierbei mitunter für die gesamte Familie eine unverzichtbare Hilfe bei der Stabilisierung der häuslichen Pflegesituation dar. Insbesondere chronische Erkrankungen verändern die jeweiligen Familiensituationen häufig nachhaltig.
Es ist eine besondere Herausforderung, Kindheit und Jugend mit Pflegeaufgaben zu vereinbaren. Zwar kann eine angemessene Einbindung von Kindern und Jugendlichen in der pflegerischen Versorgung von Familienangehörigen auch positive Effekte haben, eine zu hohe Belastung jedoch kann negative Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen haben. Insgesamt liegen bislang zu den Belastungsfaktoren, Lebenssituationen sowie wirksamen Hilfsangeboten von und für junge Pflegende nur wenige Daten vor.
ZQP (Zentrum für Qualität in der Pflege) stellt den Bericht „Junge Pflegende“ vor
Ich danke dem Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) daher sehr, dass diese jungen pflegenden Angehörigen im Rahmen der „Fachkonferenz Pflegende Kinder und Jugendliche“ am 23. Januar 2017 besonders ins Blickfeld gerückt wurden. Vorgestellt wurde der jüngst fertig gestellte ZQP-Report „Junge Pflegende“. Dieser entstand auf Grundlage des in mehreren Staaten laufenden Projektes „Young Carers“. Ziel des ZQP-Projektes war die Verbesserung des Wissensstandes zur Situation pflegender Kinder und Jugendlicher in Deutschland. In diesem Zusammenhang wurden Daten erhoben und ausgewertet, sowie auf deren Grundlage Handlungsempfehlungen formuliert. Die Ergebnisse liefern Hinweise zur Sicht von Jugendlichen im Alter von 12-17 Jahren in Bezug auf das Thema Pflegebedürftigkeit in der Familie, darüber hinaus zu ihren Erfahrungen und Unterstützungsbedarfen.
Im Rahmen des fachlichen Austausches und der anschließenden Diskussion zum Thema junge Pflegende standen, neben weiteren Expert*innen, Prof. Dr. Sabine Metzing (Pflegewissenschaftlerin – Schwerpunkt: Kinder und Jugendliche), Anneliese Gottwald (Johanniter Niederösterreich - Wien - Projekt „superhands“), Ralph Knüttel (Johanniter Deutschland ) sowie Benjamin Salzmann (Interessenvertretung begleitender Angehöriger und Freunde e.V.) zur Verfügung.
Es besteht dringender Handlungsbedarf
Deutlich wurde hierbei, dass sich das Spektrum der durch junge Pflegende zu verrichtenden Tätigkeiten von der Hilfe bei Einkäufen, beim Essen oder Mobilisieren bis hin zum Verabreichen von Medikamenten, Umlagern der Pflegebedürftigen, Toilettengänge, verbunden mit dem Anlegen oder Wechseln von Inkontinenzhosen erstreckt. Dies führt zu unterschiedlich hohen Belastungen (und Gefühlen) der jungen Menschen. So kommt Frau Prof. Dr. Sabine Metzing hinsichtlich pflegender Kinder und Jugendliche zu folgenden Kernaussagen – die einen dringenden gesellschaftlichen Handlungsbedarf beinhalten:
- „Pflegende Kinder und Jugendliche sind Minderjährige, die regelmäßig chronisch kranken Familienmitgliedern helfen oder diese pflegen. Ihre Tätigkeiten umfassen z.B. Hilfe bei der Körperpflege, im Haushalt, bei der Betreuung jüngerer Geschwister sowie emotionale Unterstützung. Einige der Kinder und Jugendlichen sind für die Rund-um-die-Uhr-Betreuung von Angehörigen alleinverantwortlich.
- Dominieren Pflegeaufgaben den Alltag der Kinder und Jugendlichen, drohen nachteilige psychische, soziale und schulische Folgen.
- Wie viele Kinder und Jugendliche in Deutschland betroffen sind, ist bisher nicht genau bekannt. Internationale Studien geben Anteile von etwa zwei bis vier Prozent der Minderjährigen an.
- Pflegende Kinder und Jugendliche sprechen eher selten über die Arbeit, die sie zu Hause leisten. Je größer der Unterstützungsbedarf, desto „unsichtbarer“ die Familie.
- Eine chronische Erkrankung betrifft immer die gesamte Familie. Ihr Unterstützungsbedarf ist komplex und zieht die Inanspruchnahme unterschiedlicher Kosten- und Leistungsträger nach sich.
- Kinder und Jugendliche können gegen eine elterliche Erkrankung nicht abgeschirmt werden. Grenzen der Belastbarkeit sollten aber nicht überschritten werden.
- Ein wachsendes gesellschaftliches Bewusstsein und die Enttabuisierung des Themas sind unabdingbare Voraussetzungen für Hilfsangebote.
- Komponenten eines familienorientierten Hilfskonzeptes sind: Unterstützung der erkrankten Person, Organisation von Hilfen über zentrale Anlaufstellen, Information und Beratung, Gesprächsangebote, Auszeiten von der Pflege.“
Verantwortung von Gesellschaft und Politik - Schaffen von Hilfsangeboten
Verlässliche Daten zur Häufigkeit von pflegenden Kindern und Jugendlichen sind nur schwer zu benennen. Hierfür gibt es unterschiedliche Gründe. So ist bspw. international nicht trennscharf definiert, ab wann aus einem „nur“ helfenden Kind ein pflegendes Kind wird. Es wird davon ausgegangen, dass deutschlandweit in der ambulanten Versorgung von Pflegebedürftigen der Anteil pflegender Kinder und Jugendlicher ca. 5% beträgt. Dieser Anteil erfasst ausschließlich junge Pflegende, welche minderjährig sind. Sie werden bislang in unserer Gesellschaft kaum wahrgenommen, obwohl gerade sie besonders schutzbedürftig sind und dringend Aufmerksamkeit und Unterstützung benötigen.
Insbesondere die Aufklärung von Kindern und Jugendlichen spielt hierbei eine enorm wichtige Rolle. Aus Sorge vor Ausgrenzung und Stigmatisierung sprechen Kinder und Jugendliche nur selten über die Hilfe, die sie zu Hause leisten (vgl. Metzing 2007), in einigen Fällen besteht für sie sogar ein Schweigegebot. Dies resultiert zumeist aus Angst vor dem Einschreiten durch Behörden. Je höher der Unterstützungsbedarf in den Familien durch junge Pflegende, desto unsichtbarer ist die Familie. Dies erschwert wiederum die Zugänglichkeit zu entsprechenden Hilfsangeboten. Deshalb gilt es junge Pflegende in unser aller Bewusstsein zu holen und adäquate Hilfsangebote zu schaffen, welche die jungen Betroffenen erreichen und zu denen sie explizit Zugang haben.
Es besteht das Recht auf Hilfe und Unterstützung
Gemeinsam müssen wir den jungen Menschen vermitteln, dass es nicht schlimm ist, Hilfe anzunehmen, sondern dass es ihr Recht ist, diese für sich zu beanspruchen. Es ist unerlässlich, die „Sprache der jungen Pflegenden“ zu sprechen, um sie gezielt erreichen zu können. Hierbei bieten sich erfahrungsgemäß besonders online-Plattformen an. Ein wachsendes Bewusstsein sowie die Enttabuisierung der Situationen junger Pflegender sind unverzichtbare Voraussetzungen für Hilfsangebote. Grundsätzlich sollten die Hilfsangebote nicht für Einzelne, sondern jeweils an die gesamte Familie gerichtet sein.
Im Rahmen des österreichischen Projektes „superhands“ werden online verschiedene Unterstützungskategorien angeboten. Die Hilfe reicht von Informationen zur Selbsthilfe bis hin zu Anleitungsvideos. Hierbei gilt es allerdings auch gezielt zu hinterfragen, ob zur Unterstützung gedachte Videos möglicherweise auch zu weiterer Übernahme von Pflegeverrichtungen durch Kinder und Jugendliche führen.
Politik und Gesellschaft tragen Verantwortung – was tun wir?
Im Rahmen der Veranstaltung sprachen sich die Beteiligten für ein regelfinanziertes Unterstützungsangebot aus. Ziel sei es, hierbei vorrangig Betreuungs- und Entlastungsangebote zu schaffen, die junge Pflegende entlasten. Politik und Gesellschaft sind hier vornehmlich in der Verantwortung. So ist es eine (bildungs-) politische Aufgabe dieses Thema bspw. auch im Rahmen von Schule zu thematisieren. Gerade in der Schulgesundheitspflege kann dieses Thema auch öffentlich zur Sprache kommen. In diesem Zusammenhang gilt es, in der Politik die entsprechenden Akteur*innen an einen Tisch zu holen, um gemeinsame Initiativen zur Verbesserung der Situation junger Pflegender zu starten und nachhaltig angemessene Hilfsangebote zu schaffen.