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"Geschlecht im Recht“: Der politische Regelungsbedarf ist hoch

Fachaustausch "Geschlecht im Recht: gesetzliche Regelungsbedarfe zur Anerkennung und zum Schutz von geschlechtlicher Vielfalt"

Das geltende deutsche Recht für trans- und intergeschlechtliche Menschen entspricht nicht den aktuellen grund- und menschenrechtlichen Standards. Vielmehr muss der Schutz und die Selbstbestimmtheit von transgeschlechtlichen und intergeschlechtlichen Menschen in den Vordergrund gestellt werden. Das waren wichtige Erkenntnisse auf dem Fachaustausch am 16. Februar 2017 im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Auf die Vorstellung und die Diskussion zu den zwei vom BMFSFJ in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten war ich sehr gespannt – gerade als Bundestagsabgeordnete für Tempelhof-Schöneberg mit seiner zahlreichen LGBTTI*-Community und als Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion für reproduktive Gesundheit und sexuelle Vielfalt:

  • Das von der Humboldt Universität zu Berlin erstellte Gutachten "Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen" untersucht die Notwendigkeit, das inzwischen zu großen Teilen für verfassungswidrig erklärte Transsexuellengesetz zu reformieren beziehungsweise durch ein modernes Gesetz zu ersetzen.
  • Das vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) erstellte Gutachten "Geschlechtervielfalt im Recht: Status Quo und Entwicklung von Regelungsmodellen zur Anerkennung und zum Schutz von Geschlechtervielfalt" evaluiert die Rechtsanwendung des im Personenstandsgesetz (§ 22 PStG) geregelten offenen Geschlechtseintrages und widmet sich im internationalen Rechtsvergleich der Frage, ob ein drittes festgelegtes Geschlecht im Personenstandsgesetz benötigt wird.

Ich teile die Meinung von Caren Marks, Parlamentarische Staatssekretärin im BMFSFJ:

"Geschlechtliche Vielfalt ist eine gesellschaftliche Tatsache und eine gesellschaftspolitische Querschnittsaufgabe. Beide Gutachten kommen zu der Empfehlung, dass unser Recht geändert werden muss, um die geschlechtliche Vielfalt unserer Gesellschaft und das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Menschen zu schützen. Es ist notwendig, die Freiheit der Geschlechtsidentität als Menschenrecht zu schützen, Stigmatisierungen abzubauen und starre Rollenbilder aufzubrechen."

Sozialdemokratischer Auftrag ist dafür Sorge zu tragen, dass in unserer von Vielfalt geprägten Gesellschaft alle Menschen unabhängig von ethnischer oder sozialer Herkunft, Alter, Behinderung, Religion, Geschlecht, Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung in ihren Grund- und Menschenrechten geschützt werden und sie mit ihren Familien und Angehörigen am gesellschaftlichen Leben ohne Diskriminierung teilhaben.

Diskriminierung stoppen - Teilhabe ermöglichen für transgeschlechtliche Menschen

Noch ist diese durch grundlegende Wertschätzung geprägte Gesellschaft nicht die Realität: Transgeschlechtliche/transsexuelle  Menschen stoßen ebenso wie intersexuelle Menschen immer wieder auf Nichtwissen, Vorurteile und Benachteiligung. Mittlerweile ist anerkannt, dass nur der Mensch selbst seine Geschlechtsidentität kennt. Es gibt nicht nur zwei klar voneinander abgegrenzte Geschlechter, sondern ein breites Spektrum von Identitäten. Außerdem gibt es Menschen, deren körperliche Merkmale nicht der Geschlechtsidentität entsprechen. Ihr Geschlecht bzw. ihre Geschlechtsidentität muss daher ausdrücklich anerkannt werden – auch rechtlich.

Die Erstellung des Gutachtens „Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen“ wurde durch einen interdisziplinären Fachbeirat begleitet, dem auch Berliner Vertreter*innen von Interessenverbänden angehörten. Analysiert wurde die Situation von Minderjährigen, von deutschen und nicht-deutschen Staatsbürger*innen. Unterbreitet werden rechtliche Regelungsvorschläge für ein neues Transsexuellengesetz.

Das Fazit der Expert*innen:

Nach sechs Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, durch welche einzelne Voraussetzungen des TSG für verfassungswidrig und folglich unanwendbar erklärt wurden, sei ein Gesetzesrumpf übriggeblieben, der in seiner Struktur nicht mehr als taugliche, praktikable Gesetzesgrundlage für Verfahren zur Vornamens- und Personenstandsänderung dienen kann. Auch einige der verbliebenen Vorschriften begegneten schwerwiegenden grund- und menschenrechtlichen Bedenken. Zum Beispiel sei die Elternschaft transgeschlechtlicher Personen und das Offenbarungsverbot (§ 5 TSG) unzureichend geregelt. Angemahnt werden dringend Lösungen, die die Grundrechte der Eltern und insbesondere der Kinder wahren.

Diskriminierendes Verhalten insbesondere im Gesundheitswesen

Der Expert*innenkreis stellt weiterhin fest: In den Lebensbereichen Schule/Ausbildung/Universität liegen große, in der Gesundheitsversorgung aber die größten Diskriminierungspotenziale - und damit auch die größten Regelungsbedarfe. Durchgängig zu beobachten ist, dass eine mangelnde Aufklärung über Transgeschlechtlichkeit häufig zu Vorbehalten, fehlerhafter Beratung und Behandlung und damit insgesamt - oftmals auch unbeabsichtigt - zu diskriminierendem Verhalten führt.

Hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung wird dringender Handlungsbedarf festgestellt:

  • Einerseits entsprechen die in Deutschland geltenden Behandlungsstandards nicht mehr dem medizinischen Standard-of-Care und andererseits werden selbst die geltenden Behandlungs- und Begutachtungsleitlinien oftmals nicht korrekt angewendet. So kommt es zu gravierenden Behandlungsverzögerungen bzw. gar keiner medizinischen Versorgung.
  • Beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) herrscht ein mangelndes Fachwissen hinsichtlich der Vielfalt der Geschlechter. Oft liege der Ablehnung einer Kostenübernahme von geschlechtsangleichenden Maßnahmen der Krankenkasse ein fehlerhaftes Gutachten des MDK zu Grunde, welches von falschen Diagnosekriterien oder fehlerhaften Sachstandsinformationen ausging. Die Versicherten warteten dadurch oft mehrere Jahre auf die Versorgung mit der beantragten Maßnahme. Die Nichtgewährung raube den Antragsteller*innen viel Kraft, wodurch sie wiederum noch weniger psychische Ressourcen hätten, um sich der Auseinandersetzung mit den Problemen des Alltags als transgeschlechtliche Person zu stellen. Ihre Teilhabe sei dadurch erheblich eingeschränkt.
  • Nicht unproblematisch ist auch die Versorgung von transgeschlechtlichen Patient*innen mit Gesundheitsmaßnahmen, die nicht im direkten Zusammenhang mit der Transgeschlechtlichkeit stehen. Fehlende fachliche Information und Sensibilisierung für die Thematik führen zu unfreiwilligem und unnötigem Outing, längeren Wartezeiten und insgesamt einem geringen Vertrauen, das transgeschlechtliche Menschen in das Gesundheitssystem setzen.

Geschlechtervielfalt im Recht

Eine moderne Gesellschaft ist vom Schutz der Menschenrechte und von der Wertschätzung von Vielfalt geprägt. Zur geschlechtlichen Vielfalt und damit zur menschlichen Vielfalt in unserer Gesellschaft gehören auch intersexuelle oder intergeschlechtliche Menschen. Das muss sich auch in der Rechtsordnung widerspiegeln. Diese Forderung habe ich bereits in meiner Fraktion vor Ort - Veranstaltung „Intersexuelle Menschen anerkennen - Selbstbestimmung im Identitätsgeschlecht“ am 4. September 2012 erhoben, denn „Intersexualität ist keine Krankheit und keine Störung“.

2013 hat der Deutsche Bundestag in einem ersten Schritt geregelt, dass die Geburt eines Kindes auch ohne Angabe eines Geschlechts beurkundet werden kann, wenn das Kind nicht eindeutig weiblich oder männlich ist. Das Geschlecht kann später nachgetragen werden; erforderlich ist das aber nicht.

Laut Koalitionsvertrag soll die Rechtsanwendung des im Personenstandsgesetz (§ 22 PStG) geregelten offenen Geschlechtseintrages evaluiert werden, sollen aus grund­ und menschenrechtlicher Perspektive Regelungsbedarfe zum besseren rechtlichen Schutz und der Anerkennung der Vielfalt von körperlichen Geschlechtsentwicklungen, Geschlechtsidentitäten und des Geschlechtsausdrucks, insbesondere Inter­ und Transgeschlechtlichkeit, in Deutschland entwickelt werden. Um Vorschläge zur Sicherstellung einer selbstbestimmten Entscheidung über das Geschlecht im Recht zu erhalten, hatte das BMFSFJ das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt.

Das Gutachten „Geschlechtervielfalt im Recht Status quo und Entwicklung von Regelungsmodellen zur Anerkennung und zum Schutz von Geschlechtervielfalt“ liegt nun vor. Es evaluiert die Rechtsanwendung des im Personenstandsgesetz (§ 22 PStG) geregelten offenen Geschlechtseintrages. Kann ein Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstand ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen. Außerdem stellt das Gutachten im internationalen Rechtsvergleich die Frage, ob ein drittes festgelegtes Geschlecht im Personenstandsgesetz benötigt wird. Weiterhin werden Regelungsvorschläge zum Schutz und zur Anerkennung von Geschlechtervielfalt gemacht.

Festgestellt wird:

  • Das Recht, auch rechtlich in der selbst empfundenen Geschlechtsidentität anerkannt zu werden, ist Teil des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts.
  • Es gilt das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit sowie das Misshandlungsverbot: Medizinisch unnötige Operationen an intergeschlechtlichen Kindern sollen so lange unterbleiben, bis diese in der Lage sind, ihre informierte Einwilligung zu geben.
  • Der rechtliche Schutz vor Diskriminierungen wegen des Geschlechts umfasst auch die Geschlechtsidentität, also auch inter­ und transgeschlechtliche Menschen.

Interministerielle Arbeitsgruppe "Intersexualität/Transsexualität"

Die Regierungsparteien haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die besondere Situation von trans- und intersexuellen Menschen in den Fokus zu nehmen. Im September 2014 wurde unter Federführung des Bundesfamilienministeriums die interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) "Intersexualität/Transsexualität" gebildet. Die vielfältigen Fragestellungen und Problemlagen des Feldes sollten durch den Austausch mit Fachpersonen und Interessenvertretungen beleuchtet und notwendige gesetzgeberische Lösungen diskutiert werden. Der Fachaustausch "Geschlecht im Recht" war der letzte von vier öffentlichen Fachaustauschen zum Thema Geschlecht und Geschlechtsidentität in der aktuellen Legislaturperiode. In Kürze werden auch die Annexe der Gutachten, die Audiodatei zum Fachtag und die Dokumentation der Veranstaltung auf der Webseite des BMFSFJ veröffentlicht.

Bedanken möchte ich mich insbesondere bei Dr. Ina­Marie Blomeyer und dem gesamten Team des Referats Gleichgeschlechtliche Lebensweisen/Geschlechtsidentität für die ausgezeichnete Arbeit, die sie während der gesamten Zeit geleistet haben. Danken will ich auch für den partizipativen Prozess.

Fachaustausch am 16. Februar 2017

Beide Gutachten kommen zu dem Ergebnis, dass geltendes Recht für trans- und intergeschlechtliche Menschen nicht den aktuellen grund- und menschenrechtlichen Standards entspricht. Die in den Gutachten vorgeschlagenen Regelungsmodelle wurden nun mit Vertreter*innen aus Praxis, Wissenschaft, Recht, Community-basierten Verbänden und internationalen Organisationen intensiv diskutiert.

Die Inhalte des Fachaustausches wurden mit der Methode des "Graphic Recording" zusammengetragen - eine visuelle Zusammenfassung und Strukturierung der vorgetragenen und erarbeiteten Inhalte.

Die Vertreter*innen der Interessenverbände begrüßten nachdrücklich, dass es mit einem neuen Gesetz jetzt eine Wende gemäß der Vorbilder Norwegen und Malta geben kann. Auch in Deutschland soll der Schutz und die Selbstbestimmtheit von transgeschlechtlichen/transsexuellen Menschen in den Vordergrund gestellt werden.

Den Bedarf an einer verbesserten Gesetzeslage bestätigte ein Vertreter des Amtsgericht Schöneberg: Es gibt einen Anstieg der Fälle nach dem TSG von 50 in 2015 auf 200 Fälle in 2016. Dabei sind 75% der Fälle auf eine Verfahrensbeikostenhilfe angewiesen.

Dr. Jens Scherpe von der University of Cambridge vertrat mit der Forderung nach einer rechtlichen Abschaffung der Definition von Vater und Mutter geben eine interessante These: Eltern sind Eltern und das könne heute in einer vielfältigen Konstellation sein.

Der Fachaustausch und die Einbeziehung der Vertreter*innen der Community und Akteur*innen der Selbstvertretungsorganisationen im Vorfeld als auch parallel zur Erstellung der Gutachten wurden als wichtig und richtig herausgestellt. Auch wenn es durchaus noch weitere rechtliche zu definierende Aspekte, wie z.B. Änderungen im Betriebsverfassungsgesetz, in Lehrplänen oder auch im Namensrecht, gibt, sind wir auf dem richtigen Weg zu mehr Schutz und Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt.