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Miteinander in Vielfalt

Heute sind so viele Menschen auf der Flucht wie schon seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, dem UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) waren 2015 etwa 65 Millionen Menschen auf der Flucht und nur ein Bruchteil der Schutzsuchenden kommt nach Europa und Deutschland. Angesichts von Kriegen, bewaffneten Konflikten, politischer Verfolgung, Naturkatastrophen, Ressourcenknappheit und nationaler Wirtschaftskrisen werden Flucht und Migration vorerst noch andauern. In Anbetracht der demographischen Entwicklung ist gerade Arbeitsmigration für Deutschland besonders wichtig. Einwanderung geschweige denn Vielfalt sind keine neuen Phänomene. Seit jeher ändert sich die Zusammensetzung einer Bevölkerung, so auch die der Bundesrepublik.

Ein Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft

Ein Einwanderungsland ist Deutschland seit langem. Zu einer echten Einwanderungsgesellschaft muss das Land erst noch werden. Das „Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft“, das die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) am 14.02.2017 in Berlin vorgestellt hat, versteht sich als Richtschnur und Impulsgeber für die Gestaltung dieses notwendigen Prozesses.

Vorgestellt wurden die Ergebnisse der Studie „Miteinander in Vielfalt“die von einer Expert*innenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung erarbeitet wurden und die ein Leitbild und eine Agenda für die Einwanderungsgesellschaft darstellen. Festgestellt wird: Einen homogenen Nationalstaat hat es nie und nirgendwo jemals gegeben. Vielfalt definiert sich jedoch nicht nur aus Einwanderung und Migration. Ob jemand eingewandert oder nicht eingewandert sei, bilde nur eine Facette von Vielfalt. Unterschiedliche Lebensweisen, politische Orientierungen, religiöse Bindungen, Individualisierung und noch vieles mehr sind ebenfalls Vielfalt. Eine Gesellschaft befindet sich ständig im Wandel.

Die deutsche Gesellschaft ist vielfältig

Deutschland ist bereits seit langer Zeit ein Einwanderungsland, hat sich aber über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg nicht als ein solches verstanden, obwohl es heute so vielfältig ist wie wohl niemals zuvor. Deshalb wurde eine Einwanderungsgesellschaft nie aktiv gestaltet.

Aus diesem Grunde sei es notwendig, ein Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft zu gestalten. Die Kommission hat sich dabei orientiert unter anderem an Fragen wie:

  • Was bedeutet eine vielfältige Einwanderungsgesellschaft?
  • Wie geht Miteinander in Vielfalt?
  • Nehmen wir mit unserem Narrativ die gesamte Gesellschaft mit, nicht nur die, die sowieso schon auf unserer Seite sind?
  • Warum brauchen wir überhaupt eine Diskussion oder ein Konzept, das alle einschließt?

Bewusst haben die Expert*innen sich bei der Entwicklung für den Begriff eines Leitbilds und gegen den Begriff einer Leitkultur entschieden. Eine Leitkultur sei bereits zu sehr vorgegeben und zu statisch, ein Leitbild hingegen könne sich ändern, genau wie sich auch eine Gesellschaft ändert. Die Reaktionen auf Veränderung und Vielfalt fallen sehr unterschiedlich aus. Während die einen Potenziale dahinter erkennen, sie für eine Bereicherung der Gesellschaft empfinden, den kulturellen Reichtum und die damit verbundene Lebendigkeit der Demokratie schätzen, fürchten andere den Verlust von Identität und vertrauten Werten, zunehmende soziale Ungleichheiten und das Entstehen neuer Konflikte.

Die Grenzen des Sagbaren haben sich verschoben, so Staatsministerin Aydan Özoguz, Mitglied des Deutschen Bundestages, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und Vorsitzende der Kommission. Jede*r dritte in Deutschland fordere mehr Mut für ein Nationalbild und schließe dabei Ankömmlinge aus. Gerade deshalb sei ein Leitbild wichtig, welches gleiche Chancen auf Teilhabe, den Respekt der Werte unseres Grundgesetzes, diskriminierungsfreie Konfliktlösungswege und die Bereitschaft jeder und jedes Einzelnen von Nöten. Sie fordert eine Einwanderungsgesellschaft, die niemanden ausschließt und zum Wohle aller gestaltet werden kann und fordert uns alle auf, daran mitzuwirken.

Zwischen „Unity in diversity“ und „nation of immigrants“

Das Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft soll dazu beitragen, gesellschaftliche Polarisierung zu verringern. Es geht dabei von der gleichen Würde und der gleichen Freiheit jeder und jedes Einzelnen aus, nimmt also das Grundgesetz als Basis.

Die Expert*innenkommission ging von neun Leitgedanken aus:

1.           Deutschland ist ein Einwanderungsland.

2.           Einwanderung birgt Chancen und Risiken - auf die Ausgestaltung kommt es an.

3.           Teilhabechancen als zentrales Gerechtigkeitskriterium.

4.           Das Grundgesetz ist die Basis.

5.           Vielfalt ist eine Tatsache, Zugehörigkeit kann erworben werden und Identitäten sind wandelbar.

6.           Gemeinsamkeiten entstehen im Zusammenleben.

7.           Diskriminierung verhindert Teilhabe.

8.           Konflikte können gelöst werden.

9.           Deutschland steht vor einer guten Zukunft.

Eine Demokratie ist stärker, wenn sich viele verschiedene Akteure an ihr beteiligen. Eine offene Gesellschaft ist wirtschaftlich, sozial und kulturell erfolgreicher. „Konflikte können gelöst werden“, dazu brauche es aber Aushandlungsprozesse. Einmal gefundene Kompromisse gelten nicht ewig und müssen immer wieder überprüft werden. Die größte Konfliktgruppe in Deutschland seien Nachbarschaftskonflikte, mehr als in jedem anderen Land, hieß es in der anschließenden Diskussion über das Leitbild.

Vielfalt und Verschiedenheit bereichern Staat und Gesellschaft - auch bei Konflikten

Auf dem Podium saßen Mitglieder der Expert*innenkommission: Prof. Dr. Herbert Brücker, Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, IAB, Dr. Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer DIHK, Farhad Dilmaghani, Vorsitzender DeutschPlus e.V., Dr. Markus Dröge, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Prof. Dr. Naika Foroutan, stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der HU Berlin und Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt und N24. Die Moderation übernahm Dr. Christoph Emminghaus von der Syspons GmbH.

Die Diskussion über das Leitbild brauche viel Ruhe, Geduld und Aufmerksamkeit - die eigentliche Arbeit fange nämlich erst nach der Entwicklung eines Leitbilds an. Wir bräuchten ein „Miteinander in Vielfalt“, welches auf alle bezogen sei. Derzeit befänden wir uns in der Gestaltung unserer Gesellschaft irgendwo zwischen den USA und Kanada, zwischen „Unity in diversity“ und „nations of immigrants“, zwischen Trump und Trudeau. Das Leitbild dürfe allerdings nicht zu abstrakt seien. Es wäre ansonsten nicht mehr Deutschland spezifisch, wurde in der Diskussion gefordert.

„Niemand soll seine Wurzeln vergessen müssen“

In vier verschiedenen, parallelen Foren wurden das Leitbild und die Agenda im Anschluss an die Diskussion aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Dort hieß es, viele hätten sich ein kämpferischeres Leitbild gewünscht, denn die Politik habe die Migrationsbewegung gewissermaßen verschlafen und dann, als die Lage ernster wurde, auf einmal ganz viele Gesetze verabschiedet, die teilweise auch miteinander kollidierten. Beklagt wurde weiterhin, dass Regelungen immer komplizierter geworden seien. Aus der Willkommenskultur sei eine Abschiebekultur geworden. Willkommensinitiativen müssten den Geflüchteten nun beibringen, dass sie hier kaum Perspektiven hätten, dass ihre Asylverfahren noch nicht beschlossen seien und, dass sie möglicherweise wieder abgeschoben würden.

Gefordert wurde: Zu einer Willkommenskultur gehören auch Willkommensstrukturen. Das Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft richte sich danach, wie wir in Deutschland miteinander leben wollen. Dafür müsse offen geworben werden. „Niemand soll seine Wurzeln vergessen müssen. Lasst uns zurückschauen und gemeinsam in die Zukunft blicken.“