In Deutschland dürfen 84.550 Menschen nicht wählen, weil sie eine Behinderung haben. Das widerspricht den Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention, denn politische Teilhabe ist ein Menschenrecht für alle Menschen mit und ohne Behinderungen.
Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich dafür ein, dass bereits bei der Bundestagswahl am 24. September auch alle Menschen mit Behinderungen wählen dürfen. Dafür muss der pauschale Wahlrechtsausschluss nach § 13 Bundestagswahlgesetz gestrichen werden. Das fordern in einem aktuellen gemeinsamen Papier auch alle Landesbehindertenbeauftragten und die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Verena Bentele.
Leider verweigert sich die CDU/CSU-Fraktion diesem menschenrechtlichen Anliegen. Für mich ist diese Haltung nicht nachvollziehbar. Für mich ist diese Haltung die mutwillige Fortsetzung bestehender Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen.
„Wahlrecht für alle!“
Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, fand am 25. April 2017 im Kleisthaus die Veranstaltung „Wahlrecht für alle!“ statt. Die Veranstaltung stand ganz im Zeichen der politischen Rechte von Menschen mit Behinderungen. Ich danke Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, MdB und Vizepräsidentin des Bundestages, für die Initiative zu dieser Veranstaltung.
In ihrem Grußwort sagte die Beauftragte: „Ich finde es beschämend, dass wir nicht zu den Ländern zählen, in denen es überhaupt keine allgemeinen Wahlrechtsausschlüsse gibt. Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf politische Mitbestimmung.“ Ulla Schmidt betonte, dass das Wahlrecht ein Menschenrecht ist und die UN-Behindertenrechtskonvention klare Vorgaben hierzu macht. Sie zeigte zudem die fehlende Gleichbehandlung von Menschen mit Betreuung und diejenigen mit einer Vorsorgevollmacht auf: Betreute sind von Wahlen ausgeschlossen, die anderen nicht. Für den Deutschen Behindertenrat verwies Dr. Sigrid Arnade auf die Dringlichkeit einer Wahlrechtsänderung hin. Dr. Leander Palleit von der Monitoring-Stelle (Deutsches Institut für Menschenrechte) erinnerte an die Argumentationsmuster, mit denen in früheren Zeiten Frauen, aber auch Männer mit geringen Einkünften vom allgemeinen Wahlrecht ausgeschlossen waren. Immer wieder sei als Rechtfertigung die angeblich fehlende Einsichtsfähigkeit über die Tragweite von Entscheidungen angeführt worden.
An der Diskussion beteiligten sich Gregor Rüberg (Geschäftsführer des Betreuungsvereins Lebenshilfe e.V. Dortmund), Manuela Söller-Winkler (Staatssekretärin im Ministerium für Inneres und Bundesangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein), Dr. Bettina Leonhard (Lebenshilfe e.V.), Dr. Anna Luczak (Prozessvertreterin der beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Wahlprüfungsbeschwerden), Peter Winterstein (1. Vorsitzender des Betreuungsgerichtstag e.V. und Vizepräsident des OLG Rostock i.R.) und Josef Neumann (Mitglied des Landtages Nordrhein-Westfalen).
Ich selber habe als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) den europäischen Blickwinkel eingespeist. In meinem Vortrag habe ich die wichtigsten Handlungsempfehlungen aus meiner Resolution und dem Bericht vorgestellt, die am 10. März 2017 durch die PACE angenommen wurden. Der Bericht ist unter diesem Link als PDF abrufbar.
Alle Referent*innen waren sich einig, dass das Wahlrecht der einzig richtige Weg ist, um Menschen mit Behinderungen mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Ich habe auch deutlich gemacht, dass das Engagement für die Rechte von Menschen mit Behinderungen über die Achtung der politischen Rechte hinaus gestärkt werden muss. Für die Inklusion müssen weitere Barrieren abgebaut werden. Das betrifft sowohl die Barrierefreiheit in den Wahllokalen, aber auch die Barrierefreiheit der Information. Damit sich Menschen mit Behinderungen über Wahlprogramme informieren können, müssen die entsprechenden Kommunikationsmittel, wie Broschüren, Fernsehsendungen und Internetseiten in leichter Sprache, sowie in Blindenschrift und Gebärdensprache zur Verfügung stehen. Dazu gehört auch, Wahlleiter*innen für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren.
Ich schließe mich Dr. Leander Palleit vom Deutschen Institut für Menschenrechte an, der in seinem Redebeitrag einen treffenden Vergleich zwischen der Kritik am „Wahlrecht für alle“ und der Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1918 vollzog. Damals warfen Kritiker die Behauptung auf, dass Frauen nicht verantwortungsbewusst wählen könnten. Dieses Argument wird heute auch von Gegner*innen des inklusiven Wahlrechts angeführt.
Das Wahlrecht musste von den Frauen damals genauso eingefordert und erkämpft werden, wie es heute beim „Wahlrecht für alle“ der Fall ist. Trotz aller Kritik ist das Wahlrecht für Frauen in Deutschland und Europa Realität geworden und ein reines Männerwahlrecht für uns unvorstellbar. Wer könnte heute noch mit Recht behaupten, Frauen würden nicht verantwortungsvoll wählen?
Für ein inklusives Wahlrecht europaweit: „Die politischen Rechte von Menschen mit Behinderungen: ein demokratisches Anliegen“
Als Vorreiter für die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gelten Österreich, Finnland, Belgien, Großbritannien, Norwegen und Schweden. Der europäische Vergleich zeigt, dass Deutschland, was die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen betrifft, deutlich hinterher hängt.
Die Bindung des Wahlrechts an die Rechts- und Handlungsfähigkeit ist in Deutschland - und leider auch in den meisten Mitgliedsstaaten des Europarates - das größte Hindernis für die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Wer unter Betreuung in allen Angelegenheiten steht, besitzt weder das aktive noch das passive Wahlrecht. Dies beraubt europaweit hunderttausende Bürger*innen der Möglichkeit, ihre politischen Rechte auszuüben.
In Österreich hingegen ist das Wahlrecht seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr an die Rechts- und Handlungsfähigkeit gebunden. In dieser Hinsicht gilt Österreich also als Vorbild. Das inklusive Wahlrecht wird von der österreichischen Bevölkerung nicht in Frage stellt. Außerdem gibt es mit der Umsetzung auch keine besonderen Schwierigkeiten.
Belgien hat 2014 eine Gesetzesänderung beschlossen, mit der es die Vermutung der Entscheidungsfähigkeit einführte. Menschen mit Behinderungen besitzen vollständige politische Rechte. Das gilt nur dann nicht, wenn ein/er Friedensrichter*in den Menschen mit Behinderung als unfähig zur Ausübung des Wahlrechts erklärt hat.
In Finnland und in Großbritannien ist das aktive Wahlrecht nicht an die Rechts- und Handlungsfähigkeit gebunden. Anders steht es mit dem passiven Wahlrecht, dem Wahlrecht gewählt zu werden.
In Norwegen besitzen auch Personen unter Vormundschaft das Wahlrecht. In Schweden und Kanada besitzen alle Menschen mit Behinderungen - psychosoziale Beeinträchtigungen eingeschlossen - das aktive und passive Wahlrecht.
Recht auf Beschwerde durchsetzen
Zu beklagen ist, dass es immer noch viel zu wenige Staaten gibt, die die Bindung des Wahlrechts an die Rechts- und Handlungsfähigkeit bzw. an die Betreuung in allen Angelegenheiten aufheben wollen. Die Frage der Rechts- und Handlungsfähigkeit ist auch mit dem Recht auf Beschwerde verknüpft. Ich plädiere dafür, dass jeder Person, der die Rechts- und Handlungsfähigkeit aberkannt wurde, ermöglicht werden soll, unabhängig von der Betreuer*in, unabhängig vom Vormund eine Beschwerde einzureichen. Ich begrüße es sehr, dass mehrere Mitgliedstaaten des Europarates hinsichtlich der Beteiligung an Wahlen mittlerweile Beschwerdeverfahren eingerichtet haben. Beispielsweise können in der Slowakischen Republik Verletzungen oder Einschränkungen des Wahlrechts von Menschen mit Behinderungen der Kommissar*in für Menschen mit Behinderungen gemeldet werden.
Auch Länderrecht muss die politische Teilhabe aller Menschen mit Behinderungen stärken
In Deutschland unterscheiden sich die Bundesländer bezüglich der Regelungen zu den Wahlrechtsausschlüssen voneinander. Einige Bundesländer haben ihre Landeswahlgesetze bereits im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention geändert. Diesen Schritt begrüße ich. Zu den Ländern mit inklusiven Wahlrecht zählen Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, beide unter Regierungsverantwortung der SPD. Auch im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag des Berliner Senats ist das inklusive Wahlrecht fest verankert worden. Eine Übersicht über die Wahlrechtsausschlüsse in Bund und Ländern findet sich auf der Internetseite des Instituts für Menschenrechte.
Kämpfen für den Abbau von Barrieren
Die SPD-Bundestagsfraktion will den pauschalen Wahlrechtsausschluss für die Bundesebene noch in dieser Wahlperiode abschaffen. Das haben wir in unserem Beschluss vom 17. Februar 2017 deutlich gemacht. Für mich ist es unverständlich, warum sich die CDU- und CSU-Fraktion nicht bereit erklärt, diesen Schritt vor der Bundestagswahl am 24. September 2017 mitzugehen.
Ich hoffe, dass mein Bericht, dass die Resolution Rückenwind gibt für die sehr notwendige politische Diskussion in Deutschland. Es ist an der Zeit, dass in Deutschland das Wahlrecht so geändert wird, dass die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung ein Ende findet.