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Teilhabe und Selbstbestimmung auch im Alter

Nicht jede*r wird in ihrem oder seinem Leben noch Arzt, Ärztin oder Pflegefachkraft. Aber wir alle werden, ob nun durch das Alter, einen Unfall, eine chronische oder kurzzeitige Krankheit, einmal pflegebedürftig. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt in Deutschland auch als Folge der demografischen Entwicklung immer weiter an. So wird Pflegebedürftigkeit für mehr und mehr Menschen zum Teil ihres Alltags. Das stellt die Gesamtgesellschaft vor erhebliche Herausforderungen und geht damit alle an. Die Arbeitsgemeinschaft Gesundheit 65 Plus sucht nach Lösungen für diese Herausforderungen. Um über die neuesten Entwicklungen in der Pflege und in anderen gesundheitspolitischen Themen zu informieren und diese zu diskutieren, hat sie am 8. Juni 2017 zu einem Dialogforum eingeladen. Dort wurde die Situation der Generation 80 Plus in Berlin durch Dr. Juliane Nachtmann, Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung präsentiert. Und ich hatte viele Fragen zum Pflegeberufe(reform)gesetz zu beantworten. Es freut mich, dass sich so viele Menschen für das für unsere Gesellschaft so bedeutsame Thema der beruflichen Bildung in der Pflege interessieren.

Schlusslicht Deutschland

Deutschland gilt in vielen Bereichen als Vorreiter in Europa, doch im Bereich der Pflege und der Sorgearbeit gehören wir leider zu den Schlusslichtern. In kaum einem anderen Land in Europa wird die Pflege so wenig anerkannt und wertgeschätzt wie in Deutschland. Woran liegt das, wenn Pflege uns doch alle betrifft? Um diesen Bereich zu stärken und aufzuwerten hat sich die Große Koalition nun auf einen politischen Kompromiss, eine Mischung aus Generalistik und fachlicher Spezialisierung in der Ausbildung von Pflegenden, geeinigt. Zunächst soll es für alle Pflegeberufe in allen Pflegeschulen eine zweijährige gemeinsame Ausbildung geben. Gegen Ende des zweiten Ausbildungsjahres entscheiden dann die Auszubildenden, ob sie sich im dritten Ausbildungsjahr weiter in der generalistischen Pflege oder in den Spezialisierung Alten- oder Kinderkrankenpflege zur Pflegefachkraft ausbilden lassen. Dafür findet eine „Zwischenprüfung“ statt, diese ist lediglich eine Wissensabfrage, keine „offizielle“ Prüfung und sie führt auch zu keinem anerkannten Abschluss. Die größte horizontale Durchlässigkeit hat die dreijährige Pflegeausbildung. Bundesweit flächendeckend wird die Ausbildung künftig kostenfrei sein. Das Gesetz zur Neustrukturierung ist ein wichtiger Baustein in der Erhöhung der Wertschätzung der Pflege, es ist aber kein „Allheilmittel“.

Mir ist bewusst: Grundsätzlich braucht es mehr als ein Gesetz, um dem Pflegefachkräftemangel entgegenzuwirken. Wir brauchen ein radikales Umdenken der Gesellschaft. Eine gute Versorgung und eine menschenwürdige Pflege ist das Recht aller Menschen – dafür müssen wir uns alle einsetzen. Wir brauchen die Bürgerversicherung, wir brauchen eine Aufwertung der unbezahlten Sorgearbeit und eine Aufwertung der Sorgeberufe. Wir müssen mehr investieren – mit unser aller Steuern – in den Aufbau einer öffentlichen Pflegeinfrastruktur.

Europäische Anerkennung aller pflegerischen Berufsabschlüsse

Anschließend an meinen Impulsvortrag über den Fortschritt der Beratungen zum Entwurf des Pflegeberufereformgesetz, demnächst wird es Pflegeberufegesetz heißen, bot sich die Möglichkeit Fragen zu stellen und darüber zu diskutieren. Was spricht für eine generalistische Pflegeausbildung? Warum ist eine Stärkung der beruflichen Bildung in der Pflege notwendig? Warum ist der Beharrungswille hier so groß und der Modernisierungswille vergleichbar gering? Schon vor Jahren sind hunderte von Berufen, die dem Berufsbildungsgesetz unterliegen, modernisiert worden und dieses wurde gefeiert als Anpassung an die Veränderungen des Arbeits- und Produktionsmarktes. Niemand wird heutzutage noch zum KfZ-Schlosser ausgebildet. Das Berufsbild wurde zum Mechatroniker*in generalisiert, da neue Kompetenzanforderungen für die neuen Autos gebraucht wurden.

In der Pflege ist das ähnlich, obwohl die beiden Berufsbereiche kaum miteinander zu vergleichen sind. Die Versorgungslage der Zukunft ist aufgrund des medizinischen Fortschritts, des längeren Lebens nicht mehr die Gleiche wie in der Vergangenheit. Geriatrische, an mehreren Erkrankungen gleichzeitig leidende Patient*innen werden auf chirurgischen oder internistischen Stationen des Krankenhauses aber auch in Pflegeeinrichtungen sein. Eine Ausbildung nach Alter und Arbeitsort entspricht nicht mehr den Anforderungen der zukünftigen Versorgungsstrukturen und der Sicherheit der Patient*innen und der Pflegebedürftigen. Unsere Verantwortung liegt darin, junge Menschen auf die Zukunft vorzubereiten und ihnen zu ermöglichen, einen sinnstiftenden Lebensberuf mit guten Arbeitsbedingungen zu ergreifen. Mit der Generalistik wird die horizontale und auch die vertikale Durchlässigkeit gestärkt. Von der Pflegehelfer*in zur Akademiker*in mit Bachelor-Abschluss ist das Ziel, so wie es in vielen europäischen Ländern bereits gängige Praxis ist. Mit der generalistischen Ausbildung streben wir eine europäische Anerkennung des Berufsbildes Pflege an. Wichtige Herausforderungen bleiben weiterhin Delegation und Substitution von bisher den Mediziner*innen vorbehaltenen Aufgaben.

Pflegekammer: Die Pflege braucht eine starke Stimme

Pflege braucht umfassende Kompetenzen. Der Heilberuf Pflege braucht vor allem aber auch eine organisierte starke Stimme. Ich plädiere für eine Pflegekammer. Auch Ärzt*innen oder Apotheker*innen sind in wirkmächtigen Kammer organisiert. Warum dieses nicht der Pflege auch zugestehen?  

Pflegehelfer*in nach zwei Jahren generalistischer Ausbildung?

Die „Zwischenprüfung“, die meiner Meinung nach so nicht heißen sollte, denn es handelt sich dabei vielmehr um eine Wissensabfrage, sorgt für viel Verwirrung und Missverständnissen bei den Diskussionen um das Pflegeberufe(reform)gesetz. Auch in dieser Diskussion kam die Frage auf, ob diejenigen, die die Ausbildung nach zwei Jahren aus welchen Gründen auch immer, verlassen, dann einen Abschluss als Pflegehelfer*innen hätten. Nein, das haben sie nicht. Bundesgesetzlich lässt sich eine Anerkennung der Wissensabfrage als Abschluss zu einer Pflegehilfskraft nach zwei Jahren Ausbildung derzeit nicht regeln. Qualifizierungen unterhalb der dreijährigen Pflegefachkraftausbildung obliegen der Verantwortung der Bundesländer. Diese haben dann zu entscheiden, ob und wie eine begonnene aber vorfristig beendetet Ausbildung anerkannt wird.

Ziele der Senatsinitiative 80 plus

Pflegebedürftig sind am stärksten die über 80-Jährigen. Durch den demografischen Wandel wird diese Altersgruppe immer größer, das ist auch in Berlin der Fall – aber regional verschieden. So gibt es insbesondere in Steglitz-Zehlendorf oder Marzahn-Hellersdorf ein starker Zuwachs an Menschen über 80 Jahre zu verzeichnen. In Friedrichshain-Kreuzberg gibt es zwar auch einen Anstieg dieser Bevölkerungsgruppe, aber der ist lange nicht so signifikant, wie in den bereits genannten Bezirken, berichtete Dr. Juliane Nachtmann von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. Einerseits, erklärte sie, seien die Älteren, im Gegensatz zu früheren Generationen, gesünder, zeigten höheres Wohlbefinden, seien zufriedener mit ihrem Leben, aktiver, engagierten sich zivilgesellschaftlich und brächten sich ins Stadtgeschehen ein. Andererseits steige mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit multimorbider gesundheitlicher Einschränkungen. Die Senatsinitiative „80plus – Gesundheitliche und pflegerische Versorgung hochaltriger Menschen“ sieht sieben prioritäre Handlungsfelder in der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung hochaltriger Menschen:

  • Prävention und Gesundheitsförderung
  • Ambulante, geriatrische Versorgung
  • Versorgung am Lebensende
  • Selbstbestimmung und Teilhabe
  • Aus-, Fort- und Weiterbildung
  • Stationäre Versorgung
  • Vernetzung ambulanter und stationärer Versorgung im Bereich der Nachsorge nach Krankenhausbehandlungen und der integrierten Versorgung.

 

Berlin gemeinsam solidarisch, nachhaltig und weltoffen gestalten

Im Moment beschäftigt sich die Initiative mit der Erstellung eines Gutachtens und der Ableitung konkreter Modellprojekte zu Lots*innen im Versorgungssystem, z.B. für betagte Menschen mit multimorbiden Einschränkungen, die keine Angehörigen haben. Das Ziel ist: Niemand soll aufgrund von Alter oder Pflegebedürftigkeit von der Teilhabe am Leben in der Stadt und der gesundheitlichen Versorgung ausgeschlossen werden. Überdies soll die bezirkliche Altenhilfe- bzw. Geriatriekoordination gestärkt werden. Um eine senior*innenfreundliche Stadt zu schaffen und Berlin gemeinsam solidarisch, nachhaltig und weltoffen zu gestalten, wird in jedem Bezirk eine Altenhilfekoordination eingerichtet, um die bezirkliche Altenhilfeplanung zu unterstützen.

AnhangGröße
2017_06_08 AG 65+ SenGPG 80plus.pdf575.46 KB
Mechthild Rawert_Dialogforum der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit 65 Plus.pdf194.6 KB