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Wahlprüfsteine der Türkischen Gemeinde in Deutschland: Partizipation, wählen gehen und sich engagieren ist demokratisches Recht

 Das wichtigste Herkunftsland ist nach wie vor die Türkei. Bei der Bundestagswahl am 24. September 2014 werden rund 1,4 Millionen Wähler*innen türkeistämmischer Herkunft und etwa 6 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages mitbestimmen.

Ich begrüße es, dass die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) den Kandidierenden als auch den Parteien detaillierte Wahlprüfsteine (WPS) zugesandt hat. Die Antworten werden vom TGD veröffentlicht. Auf einige der Kernthemen der Antworten der SPD möchte ich aber hier eingehen.

Politische Teilhabe

Für die SPD heißt Teilhabe auch Beteiligung am politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben - auch an zivilgesellschaftlichen Engagementmöglichkeiten und an politischen Entscheidungsprozessen. Das schließt insbesondere das Recht ein, an demokratischen Wahlen teilnehmen zu können. Wir Sozialdemokrat*innen wollen eine Ausweitung des Wahlrechts – beispielsweise für dauerhaftansässige Drittstaatsangehörige auf kommunaler Ebene.

Auf Druck der SPD ist 2016 das Integrationsgesetz in Kraft getreten, das Geflüchteten den Zugang zum Spracherwerb erleichtert und Hürden beim Eintritt in Ausbildungs- und Arbeitsmarkt abbaut. Schutzsuchende mit Bleibeperspektive wollen wir unterstützen, sich rasch in Arbeitswelt und Gesellschaft zu integrieren. Weitere Maßnahmen werden dabei u.a. sein: Öffnung der Integrationskurse für alle Asylsuchenden und Geduldeten; Verbinden von berufsbezogener Sprachförderung mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen; Kita-Besuch für alle Kinder; verbesserte Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen sowie ein dauerhaftes Bleiberecht für Ausländer, die hier erfolgreich ein Studium abgeschlossen haben.

Ehrenamtliches Engagement - in der Nachbarschaft, im Sportverein, in sozialen Einrichtungen, bei den Wohlfahrtsverbänden oder eben in Migrant*innenselbstorganisationen - ist für eine erfolgreiche Integration unverzichtbar. Wir werden die finanziellen Mittel für die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements insgesamt deutlich aufstocken und eine Deutsche Engagementstiftung gründen. Über die Stiftung wird die Zivilgesellschaft dann über den Einsatz der Mittel mitentscheiden.

Die 20 % der Menschen mit eigener bzw. familiärer Migrationsbiografie sind in politischen Parteien und in der Zusammensetzung öffentlicher Verwaltungen massiv unterrepräsentiert. Wir wollen ihre Teilhabe und Repräsentanz stärken. Dazu gehört die stärkere interkulturelle Öffnung der Verwaltungen durch die Weiterentwicklung des Integrationsgesetzes. Zielvorgaben, Ausbildungskampagnen und faire Bewerbungsverfahren unterstützen diesen Prozess.

In einer Zeit, in der immer mehr Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Weltanschauung in unserem Land zusammenleben, muss auch die SPD vielfältiger werden, um Volkspartei zu bleiben. Wir eröffnen deshalb Menschen, die oder deren Vorfahren nach Deutschland eingewandert sind, bessere Chancen denn je, in unsere Partei einzusteigen und in ihr aufzusteigen. Die SPD hat sich verpflichtet, dass in allen Führungsgremien der Bundespartei zukünftig 15 Prozent der Mitglieder über eine Migrationsgeschichte verfügen. Alle anderen Parteigliederungen sollen, auf ihre konkrete Situation bezogen, eigene Ziele abstecken.

Antidiskriminierung

Um das demokratische Engagement gegen Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und für eine friedliche, demokratische Gesellschaft nachhaltig zu unterstützen, braucht es eine bundesgesetzliche Grundlage in Form eines Demokratiefördergesetzes. Förderprogramme mit (meist) vorübergehendem Modellcharakter reichen nicht aus, um die unverzichtbare und dringend notwendige Arbeit der lokalen Initiativen und Einrichtungen finanziell abzusichern. Bereits im August 2016 hat die ehemalige Bundesministerin Manuela Schwesig einen Entwurf für ein Demokratieförder- und Extremismuspräventionsgesetz vorgelegt – dieses wurde leider von der Union blockiert.

Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hat Deutschland 2006 ein spezifisches Gesetz zur Bekämpfung von Diskriminierung auf den Weg gebracht. Ausgeklammert wurde allerdings das Verhältnis zwischen Bürger*in und Staat. Da Studien aber belegen, dass sich gerade dort (etwa im Bereich Schule, Polizei, Verwaltungsbehörden) institutionell verankerter Rassismus niederschlägt, werden wir Sozialdemokrat*innen das AGG weiterentwickeln. Dafür werden wir die Antidiskriminierungsstelle des Bundes stärken sowie den Anwendungsbereich des AGG auf staatliches Handeln ausweiten.

Uns Sozialdemokrat*innen ist bewusst, dass die Aufdeckung der NSU-Mordserie insbesondere für die türkeistämmige Bevölkerung ein Schock gewesen ist. Das Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden konnte bislang nicht wiederhergestellt werden. Der zum Vorschein gekommene institutionelle Rassismus hat viele von uns sehr erschüttert. Die SPD unterstützt die Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses. Die wichtige Erkenntnis aus dem NSU-Verfahren, dass Sicherheitsbehörden besonders sensibel auf antisemitische, rassistische und sonstige menschenverachtende Einstellungen in den eigenen Reihen reagieren müssen, werden wir mit geeigneten Programmen unterstützen. Wir müssen Institutionen und institutionelle Verfahren ändern: Das Bundesamt für Verfassungsschutz soll verstärkt als Frühwarnsystem für unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft funktionieren, wir werden den Reformprozess fortsetzen.

Bildung & Soziales

Erste Studien weisen darauf hin, dass Migrant*innen und Menschen mit Migrationsbiographie in verschiedenen Bereichen der Wohlfahrtspflege unterversorgt sind. Die SPD setzt sich für eine interkulturelle Öffnung in Altenpflegeeinrichtungen, Wohlfahrtsverbänden, öffentlichen Verwaltungen, etc. ein. Wir wollen, dass sie sich migrations-, kultur-, und religionssensibel aufstellen. Die interkulturelle Öffnung ist Teil der Gesamtstrategie einer Organisation. Hier wollen wir stärker fördern, auch damit für alle Menschen der gleiche Zugang zu Gesundheits-, Altenpflege-, Kinder-, Jugend- und Familienförderung ermöglicht wird.

Wir wollen unseren Sozialstaat u.a. durch eine Bürger*innenversicherung, in die alle einzahlen und durch die alle die notwendigen medizinischen Leistungen bekommen, noch besser machen. Es soll keine Zwei-Klassen-Medizin mehr geben. Unser Ziel ist es, ungleiche Gesundheitschancen bei Gesundheitsförderung, Prävention, Versorgung, Rehabilitation und Pflege zu erkennen und abzubauen.

Wir werden das Bundesprogramm Soziale Stadt weiter ausbauen und damit die Bürger*innenbeteiligung, das zivilgesellschaftliche Engagement und das Quartiersmanagement stärken. So unterstützen wir lebendige Nachbarschaften und den sozialen Zusammenhalt.

Für die SPD ist Schule ein Ort der Bildung, der Wertevermittlung und der Lernort für lebendige Demokratie – hier darf keine Diskriminierung stattfinden. Die größte und beste Investition in Schule sind daher gut qualifizierte und gut bezahlte Lehrkräfte, und das von der Kita über die Schule bis zur Hochschule. Schule braucht auch gutes Lern- und Lehrmaterial, das die Lebensrealität und die Vielfalt von Lebensmodellen altersgerecht abbildet. Wir Sozialdemokrat*innen wollen die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte in Schulen weiterentwickeln und sie auf die kulturelle Vielfalt und die Vielfalt von Lebensmodellen, auf das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung, auf ganztägigen Unterricht oder auf neue Entwicklungen in der digitalen Bildung besser vorzubereiten. Die „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern werden wir deshalb fortsetzen und weiterentwickeln.

Der Ausbau sowohl der staatlichen wie auch der nicht-staatlichen Beratungsstrukturen für Betroffene von Diskriminierung soll geprüft werden – allerdings sind hier insbesondere Länder und Kommunen in der Pflicht.

Wir Sozialdemokrat*innen werden auch weiterhin Vielfalt fördern und uns für ein inklusives Bildungssystem einsetzen. Alle Bildungseinrichtungen sollen einen ressourcenorientierten Blickwinkel, also weg von „Defiziten“ und „Störungen“ einnehmen. Dadurch wollen wir mehr Gerechtigkeit im Bildungsbereich erreichen, mehr Teilhabe, weniger Frustration und mehr Engagement beim Lernen. Auch mit guter sprachlicher Bildung wollen wir einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten. Alle Kinder sollen Wertschätzung und Respekt erhalten - auch für ihre Besonderheiten. Dazu zählt auch die Anerkennung einer anderen Muttersprache und Mehrsprachigkeit. Wir begrüßen, dass in allen frühkindlichen Bildungsplänen der Bundesländer Sprachförderung selbstverständlicher Bestandteil ist.

Migration & Bürgerrechte

Obwohl Migration und Integration zentrale gesellschaftliche Aufgaben sind, sind die Zuständigkeiten für Migration und Integration sind derzeit auf viele Ministerien verteilt und dadurch kaum sichtbar. Wir Sozialdemokrat*innen wollen eine nachhaltige und gesamtgesellschaftliche Migrations- und Integrationspolitik ministeriell stärker bündeln. Die zentrale Zuständigkeit dafür sollte an ein starkes Fachministerium angedockt werden. Wir möchten, dass Integration nicht sicherheitspolitisch, sondern gesellschaftspolitisch gedacht wird. Hierzu bedarf es der Herauslösung von Kompetenzen aus dem Innenministerium.

Etwa 3,5 Mio. Menschen dürfen sich als sogenannte Drittstaatsangehörige in Deutschland nicht an Wahlen beteiligen, obwohl sie zum Teil seit Jahrzehnten in Deutschland leben und arbeiten. Die SPD setzt sich seit langem ein für die Ausweitung des Wahlrechts auf dauerhaft ansässige Drittstaatsangehörige auf kommunaler Ebene.

Die SPD ist dafür, dass die Visavergabe erleichtert wird – wenn die Bedingungen erfüllt sind selbstverständlich auch für türkische Staatsbürger*innen. Die Visaliberalisierung mit der Türkei fällt in die Zuständigkeit der EU. Diese hat sich 2016 mit der Türkei auf eine weitere Beschleunigung der Visaliberalisierung verständigt. Voraussetzung bleibt allerdings, dass die Türkei alle Bedingungen der Ende 2013 vereinbarten Roadmap zur Visaliberalisierung – auch beim Datenschutzgesetz und der Anpassung der Terrorgesetzgebung – erfüllt. Noch ist die türkische Regierung weiterhin dringend aufgefordert, die von ihr eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Dann kann die EU die Visaliberalisierung auch umsetzen.

Wir werden ein Einwanderungsgesetz schaffen, mit dem wir die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte nach Deutschland besser steuern können. Mit diesem wollen wir ein flexibles und an der Nachfrage nach Fachkräften orientiertes Punktesystem nach kanadischem Modell einführen, das Kriterien wie berufliche Abschlüsse, Berufserfahrung, Sprachkenntnisse, Alter und Integrationsfähigkeit berücksichtigt. Die Anzahl der qualifizierten Fachkräfte pro Jahr soll flexibel über eine Quote gesteuert werden. Das stärkt die Transparenz.

Wir Sozialdemokrat*innen bekennen uns zu einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht als eine wesentliche Voraussetzung für Integration. Wir wissen: Unsere Gesellschaft ist vielfältig, viele Menschen vereinen in ihrer eigenen Identität mehrere Kulturen, Sprachen und Länder, weil sie selbst oder Familienangehörige nach Deutschland eingewandert sind. Wir setzen uns weiterhin für die Akzeptanz von Mehrstaatlichkeit für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern sowie bei Einbürgerungen ein.

Arbeitsmarkt

Bei Bewerbungen kommt es – häufig auch unbewusst – zu Diskriminierungen, etwa aufgrund des Geschlechts, Aussehens, Alters oder eines Migrationshintergrundes. Wir Sozialdemokat*innen setzen uns für anonymisierte Bewerbungen ein, um Fairness im Bewerbungsverfahren herzustellen. Wir wollen, dass sich der Anteil von Menschen mit familiären Einwanderungsgeschichten auch in der Zusammensetzung des öffentlichen Dienstes niederschlägt. Dazu gehört auch die Offenheit gegenüber unterschiedlichen Kulturen, die wir in allen gesellschaftlichen Bereichen umsetzen wollen.

Wir wollen konkrete Vorhaben unterstützen, um Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen im Bereich der Arbeitsvermittlung entgegenzusteuern. Deshalb haben wir den rechtlichen Rahmen in den vergangenen Jahren mehrfach angepasst, um Asylbewerber*innen und Geduldeten den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern und Ausbildungsförderinstrumente für sie zugänglich zu machen. Zusätzliche Mittel für Eingliederung und Verwaltung sind dafür ebenso Voraussetzung wie ausreichende und gut qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern. Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen in der Arbeitsvermittlung durch Arbeitsagenturen und Jobcentern sind inakzeptabel und müssen umgehend unterbunden werden