Gesellschaftliches Umdenken ist dringend notwendig
Wie kann die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung auch in Tempelhof-Schöneberg umgesetzt werden? Diese Frage bewegte etliche der Teilnehmenden an der schon traditionellen Sommerreihe „Auf ein Wort mit Mechthild Rawert“. Zum Thema Gesundheit und Inklusion kamen u.a. VertreterInnen aus Selbsthilfeorganisationen und dem öffentlichen Gesundheitsdienst, aus Einrichtungen für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung, aus dem St. Joseph Krankenhaus, von der Deutschen Rheuma-Liga Berlin, vom Türkisch-Deutschen Frauenverein. Zur Sprache kamen viele Probleme, aber auch Konzepte, wie sich die Situation für Betroffene und Angehörige verbessern lässt. Das Sommerfrühstück fand am 16. Juni im Stadtteilzentrum KoKuMa, einem sozialen und kulturellen Treffpunkt in der Rathausstraße, Berlin-Mariendorf, statt.
Betreutes Wohnen im Kiez
„Die Voraussetzungen für betreutes Wohnen sind noch immer schwierig“, betonte Helena Scherer, die Regionalleiterin des Tiele-Winckler-Hauses. Auf die besonderen Anforderungen für betreutes Wohnen nehmen private Hauseigentümer aber auch kommunale Wohnungsbaugesellschaften bei Neubauten oder Modernisierungen zu wenig Rücksicht. Menschen mit Behinderungen brauchen zumeist Fahrstühle, behindertengerechte Türen und Bäder. Entsprechend bedarfsgerecht ausgestattete Wohnungen sind hingegen oft zu teuer für Menschen mit Handicaps. Dringend erforderlich ist ein gesellschaftliches Umdenken, eine Haus- oder Wohnungsplanung muss Barrierefreiheit von Anfang an miteinbeziehen. Auch für das Wohnen im Alter sind die meisten Wohnungen bisher noch nicht angepasst. Menschen wollen aber im vertrauten Kiez bleiben, Kiezstrukturen mussten daher inklusiver ausgestaltet werden.
Mechthild Rawert: Es gibt Zuschüsse für Wohnumbau- bzw. umgestaltungen seitens der Pflegekassen und beispielsweise auch seitens der KfW - weitere Beratung ist bei den zwei Pflegestützpunkten in Tempelhof-Schöneberg möglich. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen eine wohnortnahe Infrastruktur, die Inklusion, die Pflege von vornherein mitberücksichtigt. Dafür müssen die Kommunen entsprechend finanziell ausgestattet werden.
Mehr Teilhabe und Rechte im Gesundheitswesen
Angemahnt wurde, dass viele ÄrztInnen über wenig Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderung verfügen. Menschen mit Behinderungen gewinnen schnell den Eindruck, sie wären in vielen Arztpraxen als Patientinnen und Patienten nicht gerne gesehen. Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention erfordert aber auch, dass in der Ausbildung zur/zum MedizinerIn die notwendigen Kompetenzen vermittelt werden müssen, die für die Behandlung und den Umgang mit Menschen mit Behinderung erforderlich sind. Obwohl es sehr viele verschiedene Beeinträchtigungen gibt: Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf freie Arztwahl, auf eine gute medizinische und pflegerische Versorgung. In Berlin sind 80 % der Arztpraxen nicht barrierefrei, liegen häufig im ersten Stockwerk, für Menschen im Rollstuhl oder auch ältere Menschen nicht erreichbar. Die Folge ist eine erhebliche Einschränkung in der hausärztlichen und fachärztlichen Versorgung. Positiv erwähnt wurde, dass Polikliniken oft die Standards zur Barrierefreiheit erfüllen. Für Menschen mit Behinderung, die Assistenz benötigen, gestalten sich Krankenhausaufenthalte oft problematisch, weil die Assistenz nicht ausreichend gewährleistet wird.
Mechthild Rawert: Schon allein aufgrund räumlicher Gegebenheiten sind die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Gesundheitswesen häufig eingeschränkt. Deswegen fordere ich ein Sofortprogramm des Bundes für den barrierefreien Umbau von 100.000
Gesundheitseinrichtungen wie Arztpraxen, Krankenhäuser, Physio- und Ergotherapie-Praxen sowie Rehabilitationseinrichtungen.
Inklusion gilt für Menschen mit und ohne Migrationsbiographie
Lange Zeit wurde das Thema Behinderung bei Menschen mit Migrationshintergrund vernachlässigt. MigrantInnen mit Behinderung erfahren oft eine doppelte Diskriminierung. Erfreulicherweise nehmen sich immer mehr Vereine und Verbände wie beispielsweise auch die Deutsche-Rheuma-Liga Berlin dieser doppelten Herausforderung an. Es bilden sich auch immer mehr entsprechende Selbsthilfegruppen, die beraten und unterstützen. Diese sind wichtig, zumal sie zumeist über die notwendigen sprachlichen und interkulturellen Kompetenzen verfügen. Mit hohem ehrenamtlichem Engagement hat die Türkisch-Deutsche Frauenvereinigung zu Berlin e.V. mit ihrem Projekt BETAK einen „Begegnungspunkt“ für Migrantenfamilien, die Kinder mit Behinderungen haben, geschaffen. Dieser ist in der ehemaligen Blindenwerkstatt in der Kreuzberger Oranienstrasse angesiedelt. Als erste Migrantenorganisation ist der Verein nun auch Mitglied im Landesbehindertenbeirat Berlin. Neu gegründet wurde die Arbeitsgruppe „Migration und Inklusion“ Einig waren sich alle: Es bedarf noch vieler Anstrengungen, um die dringend erforderliche interkulturelle Öffnung des Gesundheitswesen voranzutreiben.
Disability Mainstreaming in Tempelhof-Schöneberg
Auf Initiative der SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) erstellt das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention hier vor Ort. Leider wird dieser aber erst in der kommenden Legislaturperiode fertig, informierte Dr. Rainer Baack, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in der BVV. Auch ein Disability Mainstreaming (Gleichstellung von Menschen mit Behinderung als Querschnittsaufgabe) kann helfen, Barrierefreiheit im öffentlichen Raum zu fördern. Ähnlich wie beim Konzept des Gender Mainstreaming müssen alle Maßnahmen der öffentlichen Verwaltung auf die Verwirklichung der UN-Behindertenrechtskonvention geprüft werden.
Wichtige Impulse für den Bezirk Tempelhof-Schöneberg setzt der „Runde Tisch lokale Teilhabeplanung“. Hier treffen AkteurInnen von Behindertenverbänden, Pflegeeinrichtungen, Verbänden, Vereinen und Projekten regelmäßig zusammen und erarbeiten Vorschläge, wie Tempelhof-Schöneberg mehr und mehr barrierefrei wird. Sie sind herzlich eingeladen hier aktiv mitzuwirken.
Mein Fazit:
Für meine politische Arbeit im Bundestag konnte ich viele Impulse und Anregungen mitnehmen. Als Mitglied im Gesundheitsausschuss und in der Begleitgruppe „Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderung“ der SPD-Bundestagsfraktion ist mir der Austausch mit Akteurinnen und Akteuren aus dem Gesundheitswesen, aus einem in Zukunft hoffentlich inklusiven Gesundheitswesen, sehr wichtig. Denn das Motto der UN-Konvention lautet zu Recht „Nichts ohne uns über uns“. Im Herbst diesen Jahres werde ich einen Antrag zur Umsetzung der UN-BRK im Gesundheitswesen einbringen, der auch Anregungen dieses Sommerfrühstücks aufgreift.