Zu meinem zweiten Wohnzimmer-Gespräch am 7. März 2013 bin ich der Einladung meines Genossen Cafer Inan und seiner Selmiye sehr gerne in ihr heimisches Wohnzimmer gefolgt. Nach fürsorglicher Platzierung sämtlicher geladener Gäste durften Freunde und NachbarInnnen der Inans schließlich ihrer SPD-Direktkandidatin für Tempelhof-Schöneberg für die kommende Bundestagswahl „auf den Zahn fühlen“.
Alsbald finde ich mich nach einer kurzen Vorstellung meiner Person und einiger meiner Aufgaben als Mitglied im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages in einer Gruppe kritischer SozialdemokratInnen wieder. Die Diskussion beginnt gleich mit Themen, die den Anwesenden schon lange auf der Seele brennen. Ich danke allen, insbesondere Cafer und Selmiye Inan, für einen anregenden und diskussionsreichen Abend.
Deutscher werden ist nicht schwer - Deutscher bleiben umso mehr?
Gefragt wurde ich nach den Erfolgsaussichten der Abschaffung des Optionszwangs im Staatsangehörigkeitsrecht. Alle empfinden es einhellig als unfair, undemokratisch und als institutionelle Diskriminierung.
Einer der Gäste bezeichnete das Optionsrecht, seine Enttäuschung über die Bundesregierung in Worte fassend, als „menschliche Katastrophe“. Er höre ständig das Wort Integration. Aber wenn es wirklich darum gehe, wahrhaftig integriert zu sein, sich nicht nur als Teil dieser Gesellschaft zu fühlen sondern auch zu begreifen, werde seinem Kind von offizieller Stelle vermittelt, dass es nicht wirklich dazu gehöre, obwohl es doch von Geburt an hier zu Hause ist. Jugendliche und Kinder müssen gleich behandelt werden. Er findet es unfair, dass sein Kind vor die Wahl gestellt wird, sich für oder gegen die Staatsangehörigkeit ihres Landes entscheiden zu müssen, während gleichaltrige Landsleute, beispielsweise Kinder von EU-BürgerInnen, ihre Mehrstaatlichkeit grundsätzlich beibehalten dürfen, wenn sie eine Beibehaltungserklärung abgeben.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits Anfang 2011 den Antrag „Staatsangehörigkeitsrecht modernisieren - Mehrfache bzw. doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen“ gestellt. Wir fordern die Bundesregierung auf zur Vorlage eines Gesetzentwurfes folgenden Inhalts: Das Optionsmodell wird abgeschafft. Wer sich einbürgern lässt, muss seine alte Staatsangehörigkeit nicht länger aufgeben. Mehrfache bzw. doppelte Staatsbürgerschaft wird auch bei der Einbürgerung ermöglicht. Die Einbürgerungsvoraussetzungen werden erleichtert.
Leider ist die schwarz-gelbe Bundesregierung unserer Aufforderung nicht gefolgt. Ich rechne auch zukünftig nicht damit. Als Politikerin einer sich augenblicklich in der Opposition befindlichen Partei kann ich aber nicht nur vier Jahre jammern und lamentieren. Wer die Gesellschaft verändern will - und das will ich - muss die eigenen Änderungswünsche kund tun und Initiativen ergreifen, muss Anträge, Kleine und Große Anfragen, muss Gesetzentwürfe stellen, damit Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen, für welche Richtung eine sozialdemokratisch geführte Regierung Handlungskonzepte vorgelegt hat. Und meine Richtung ist eindeutig: Ich will, dass Deutschland nach den Wahlen am 22. September durch Rot-Grün regiert wird. Wir SozialdemokratInnen wollen die Mehrstaatlichkeit. Eine rot-grüne Regierung wird durch ein neues Gesetz das Staatangehörigkeitsrecht ändern und modernisieren.
Aufenthaltsrecht
Befragt wurde ich ebenfalls zu den Änderungen im Aufenthaltsrecht. Ein Besucher bemängelt die ungenügende Informationsweitergabe an die Bürgerinnen und Bürger zu wesentlichen Änderungen im Aufenthaltsrecht. Er habe beispielsweise nur durch Zufall erfahren, dass die Aufenthaltsberechtigung durch die Niederlassungserlaubnis abgelöst wurde.
Die Aufenthaltsberechtigung war eine Form der Aufenthaltsgenehmigung, die zwischen 1991 und 2004 nach dem damals geltenden Ausländergesetz erteilt wurde. Sie war zeitlich und räumlich unbeschränkt. InhaberInnen einer Aufenthaltsberechtigung hatten die höchste Verfestigungsstufe des Aufenthalts erreicht, sie verfügten über besonderen Ausweisungsschutz.
Mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 01. Januar 2005 trat das Ausländergesetz außer Kraft. Es wurde durch das Aufenthaltsgesetz ersetzt. Eine Aufenthaltsgenehmigung in der Form der Aufenthaltsberechtigung gibt es seit dem nicht mehr. Die Niederlassungserlaubnis löst die unbefristete Aufenthaltserlaubnis und die Aufenthaltsberechtigung nach dem Ausländergesetz ab. Die Niederlassungserlaubnis ist ein unbefristeter Aufenthaltstitel. Allerdings im Vergleich zur vorherigen Aufenthaltsberechtigung stellt es eine Verschärfung dar.
Beitritt der Türkei in die Europäische Union
Die gefühlte Ablehnung der Türkei in die Europäische Union stößt bei allen Gästen auf Unverständnis. Die Anwesenden wünschen sich den Beitritt der Türkei in die Europäische Union. Trotz einer eigenen offenkundig kritischen Betrachtungsweise, wie bspw. die Befürchtung der zunehmenden Islamisierung der Türkei durch die jetzige Regierungspartei AKP, hat die Türkei ihrer Meinung nach eine volle Mitgliedschaft in der EU verdient.
In der Bundesrepublik vertritt hierzu unterschiedliche Haltungen: CDU/CSU befürwortet „nur“ eine privilegierte Partnerschaft. Die SPD befürwortet die volle Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. Die volle Mitgliedschaft wäre ein gutes Symbol hinsichtlich des Vorbildcharakters der Türkei für viele andere Staaten im Nahen Osten.
Über 7 Millionen aus der Türkei kommende Menschen leben in den Staaten der Europäischen Union. Viele von ihnen sind in den jeweiligen Ländern wahlberechtigt und nehmen aktiv am kulturellen und politischen Leben teil. Allein in Deutschland sind 350.000 von ihnen ArbeitgeberInnen.
Frau, Migrantin und Arm im Alter
Gänzlich andere Fragen beschäftigen eine andere Teilnehmerin der Runde. Der Demographische Wandel sei überall spürbar und im Alter ganz besonders. Sie habe Jahre lang gearbeitet und in die Sozialsysteme der Bundesrepublik eingezahlt. Dabei sei ihr immer bewusst gewesen, dass sie als Frau weniger verdiene als ihre männlichen Landsleute und die wieder weniger als ihre deutschen Kollegen. „Das wird sich in meiner Rente sichtbar machen“, sagte sie.
Mit diesen Gedanken steht sie nicht alleine. Viele, besonders Frauen, sorgen sich um das Älterwerden - und das zu Recht. Von Altersarmut sind Frauen mehr betroffen als Männer. Dreiviertel der MinijobberInnen sind Frauen. Ohne weitere Ansprache und Förderung ist ihr Weg in die Altersarmut häufig vorprogrammiert. Alle müssen so viel verdienen können, dass sie weder jetzt noch im Alter aufstocken müssen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro (brutto). Wir wollen „Gute Arbeit“ im Interesse der Beschäftigten. Wer Vollzeit arbeitet, muss davon auch leben können.
Wer pflegt mich?
„Wer pflegt mich im Alter, wenn ich nicht von Familienangehörigen gepflegt werden kann oder will? Wo kann ich hin, wenn ich ein Pflegefall werde? Gehe ich zurück, bekomme ich die mir zustehenden Leistungen nicht. Bleibe ich hier, werde ich meiner Vereinsamung nicht entfliehen können.“ So lauteten viele Äußerungen. Mit dem derzeitigen Stand der Pflege bin auch ich nicht zufrieden. Pflegeberufe müssen endlich die gebührende Anerkennung in der Gesellschaft erhalten. Dazu gehört eine gute und faire Vergütung.
Die Pflege steht vor großen Herausforderungen. Die meisten Menschen möchten so lange wie möglich selbstbestimmt zu Hause leben. Die SPD möchte, dass viele Menschen diese Chance auch bekommen. Niemand darf gezwungen werden, in eine stationäre Einrichtung zu ziehen. Zukünftig werden auch Seniorinnen und Senioren mit Migrationshintergrund Pflegeeinrichtungen bewohnen. Damit dieses für alle mit Freude möglich ist, bedarf es der interkulturellen Öffnung der Pflegeeinrichtungen sowie der interkulturellen Ausbildung und Schulung der Beschäftigten. Um alle Aufgaben mit dem sich bereits jetzt vollziehenden Demografischen Wandel auch erfüllen zu können, müssen die Kommunen unterstützt werden.
Mein Dank an die GastgeberInnen
Nach über drei Stunden intensiver und lebhafter Diskussion wurde das „Wohnzimmer-Gespräch“ beendet. Mir hat dieser Abend großen Spaß gemacht und ich danke allen Beteiligten für den kurzweiligen Abend und den intensiven Austausch. Das nächste „Wohnzimmer-Gespräch“ findet in Tempelhof statt.