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Wenn Puzzleteile fehlen - Wie die Gesellschaft auf Demenz reagiert

Heute leben in Deutschland etwa 1,5 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen. Ungefähr zwei Drittel davon leiden an der Alzheimer-Demenz. Ihre Zahl wird bis 2050 auf 3 Millionen steigen, sofern kein Durchbruch in der Therapie gelingt. Demenz ist heute und in den kommenden Jahren also keine Randerscheinung, die nur wenige Menschen betrifft. Diese Krankheit wird zur Volkskrankheit und rückt so in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte über eine moderne Pflege.

Die SPD Treptow-Köpenick ist mit ihrem Politischen Frühschoppen im wunderschönen Ratskeller im Rathaus Köpenick zum Thema „Wenn Puzzleteile fehlen - Wie die Gesellschaft auf Demenz reagiert" am 8. November 2015 am Puls der Zeit. Kein Wunder also, dass viele TeilnehmerInnen kamen, um ihre Sorgen und Nöte, um ihre Forderung nach mehr Aufklärung und Beratung der Politik auf allen föderalen Ebenen und FachexpertInnen gegenüber zu äußern. Was muss die Gesellschaft, was kann die jeweilige Pflegeeinrichtung unternehmen, um den erkrankten Menschen und ihren Angehörigen Halt und Hoffnung zu geben? Was passiert im Bezirk Treptow-Köpenick? Was unternimmt das Land Berlin? Womit können die Betroffenen aufgrund der neuen Gesetzeslagen aus dem Deutschen Bundestag insbesondere im Zusammenhang mit der Reform der Sozialen Pflegeversicherung rechnen?

Diese und weitere Fragen diskutierte Lars Düsterhöft, Stellv. SPD-Fraktionsvorsitzender der Bezirksverordnetenversammlung Treptow-Köpenick mit Magdalene Eilers, Leiterin des Vitanas Senioren Centrum Bellevue, Sybille Schliemann, Sprecherin der Initiative Demenzfreundliche Kommune Treptow-Köpenick Initiative, und mir als Berichterstatterin für die Soziale Pflegeversicherung der SPD-Bundestagsfraktion. Ich habe mich sehr gefreut, dass neben vielen BVV-Angehörigen auch Ellen Haußdörfer (MdA), stadtentwicklungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und Mitglied in den Ausschüssen „Stadtentwicklung und Umwelt“, "Bauen, Wohnen und Verkehr“ sowie "Gesundheit und Soziales" teilgenommen hat. Richtig ist nämlich: Ein würdevolles Leben zusammen mit an demenzerkrankten Menschen geht uns in allen Lebenswelten an. Schließlich kann Jede und jeder in unserer Gesellschaft des längeren Lebens in einigen Jahren auf eine entsprechende Unterstützungsstruktur angewiesen sein.

Vor allem an Demenzerkrankte profitieren von den Pflegestärkungsgesetzen

Insbesondere demenzerkrankte Menschen profitieren von der Einführung des Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes und dem dazugehörigen Neuen Begutachtungsverfahren. In meinem Impulsvortrag habe ich deutlich gemacht: Mit den Pflegestärkungsgesetzen (PSG) I, welches bereits seit dem 1. Januar diesen Jahres in Kraft ist, und dem PSG II, welches der Deutsche Bundestag am 13. November 2015 verabschieden wird, heben wir grundlegende Benachteiligungen von Menschen mit kognitiven und/oder psychischen Beeinträchtigungen auf. Wir sorgen für mehr Gerechtigkeit. Wir sorgen für einen besseren Zugang der an Demenz erkrankten Personen zu allen Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung.

Zur Betreuung von an demenzerkrankten Menschen gehören Zuwendung und Nähe

Die Einrichtungsleiterin Magdalene Eilers bestätigte die wesentlichen Fortschritte, verwies aber auch auf weitere Bedarfe in der Praxis:

Es muss überall mehr Aufklärung über Demenz und über das Verhalten von dementiell Erkrankten passieren. Die Aufklärung, Information und Beratung müsse auch deshalb ausgebaut werden, weil gerade Menschen, die alleine lebten, häufig „zu Hause verkümmern“, da niemand rechtzeitig genug erkenne, dass ggf. eine dementielle Erkrankung vorliegt. Aufklärung müsse auch deshalb erfolgen um das Verhalten von Demenzerkrankten besser zu verstehen. Sie bräuchten viel Raum - überall, in der Häuslichkeit, in den Einrichtungen sowie im Umfeld. Demenzerkrankte brauchen ein verständnisvolles Umfeld, in dem nicht jedes Mal die Polizei gerufen würde.

Sie wünscht sich für die Menschen, die letztlich nicht auf Dauer zu Hause betreut werden können, häufig eine frühere Überweisung in die stationäre Einrichtung, damit frühzeitiger mit speziellen Einübungen in der stationären Häuslichkeit begonnen werden kann. In den Einrichtungen seien die Menschen mit Demenz häufig die „Schwierigsten“, da sie eine 24-Stunden-Betreuung bedürften. Gerade bei Pflegebedürftigen, die zuvor in einem Single-Haushalt gelebt haben, fehle häufig ein familiales Netzwerk vor Ort, welches solche Unterstützungsaufgaben wahrnehmen könnte.

Frau Eilers wünscht sich mehr Flexibilität beim Pflegefachschlüssel. Dieser sei vorrangig auf die Behandlungspflege orientiert, weniger auf betreuerische Aufgaben.

Es sei sehr gut, dass die AlltagsbetreuerInnen nun für alle Pflegebedürftigen da seien. Häufig träten aber Kommunikationsschwierigkeiten mit den Angehörigen auf, die der Meinung seien, dass es auch möglich sein müsse, die anverwandte pflegebedürftige Person auch vier Stunden zur Ärztin zu begleiten. Sie würden ja „schließlich viel Geld bezahlen“. Dass dann die übrigen 19 Personen keine Betreuung hätten, würde nicht immer gleich wahrgenommen. Sehr bedauerlich sei, dass ÄrztInnen viel zu wenig in die stationäre Einrichtung kommen wollen. Die Kooperation mit umliegenden Schulen funktioniere sehr gut.

Sie sei dankbar für die vielen Ehrenamtlichen, die sich in der Betreuung engagieren. Sie sei auch sehr darauf angewiesen. „Für die Betreuung von Demenzkranken braucht es die Bereitschaft, Zuwendung zu geben, Menschen Nähe spüren zu lassen.“ Es brauche Empathie. Darüber kam es zu einer kurzen spannenden Diskussion. Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen, dazu gehört auch die Reaktion auf die Gefühle Anderer, wie zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz oder Hilfsimpuls. Grundlage der Empathie ist die Selbstwahrnehmung; je offener man für seine eigenen Emotionen ist, desto besser kann man die Gefühle anderer deuten.“ Diese soziale Kompetenz ist keineswegs bei allen Menschen - auch nicht bei allen Frauen - ausgeprägt. Gefühlsarbeit und Empathie sind Qualitätskriterien für Pflege als Profession.

Leben mit Demenz: „Zur Verbesserung der Versorgungssituation brauchen wir politische Unterstützung“

Anschließend stellte Sybille Schliemann, Sprecherin der Initiative Demenzfreundliche Kommune Treptow-Köpenick, die Initiative Demenzfreundliche Kommune Treptow-Köpenick vor. Sie zeigte auf, wie die Gesellschaft mit demenzerkrankten Menschen umgehen kann und sollte. Seit 2008 findet im Bezirk Treptow-Köpenick erfolgreich ein Gesundheitszielprozess statt. Auf Basis der bezirklichen Altersstruktur Treptow-Köpenicks begann Anfang 2010 im Netzwerk Leben im Kiez die Diskussion, das Projekt der demenzfreundlichen Kommune auf den Weg zu bringen. Die Initiative „Demenzfreundlich! Treptow-Köpenick“ entstand. Der Gründungsprozess wurde unterstützt durch die Teilnahme am vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Modellprogramm "Leuchtturmprojekt Demenz". Ziel ist die Verbesserung der Versorgungssituation von Menschen mit Demenz

Seither nimmt die durch die Schirmherrschaft von Herrn Oliver Igel, Bezirksbürgermeister für Treptow-Köpenick, unterstütze Initiative sich den Veränderungen der Lebensstile von älteren und dementen Menschen an. Selbstbestimmung und Teilhabe sind für Menschen mit Unterstützungsbedarf am besten erreichbar, wenn Angehörige, Nachbarn, bürgerschaftlich Engagierte und Fachkräfte im Wohnquartier gemeinsam Verantwortung für diese Menschen übernehmen. Zu den Zielen gehören die Entlastung von Angehörigen und eine generationsübergreifende Aufklärungsarbeit. Durch die Aufklärungsarbeit sollen zivilgesellschaftliches Engagement der BürgerInnen, Solidarität zwischen den Generationen und die Eigeninitiative der Betroffenen zur Gestaltung ihrer Lebenswelt gefördert werden. Folgende Projekte wurden/werden umgesetzt:

  • Die Erstellung der informationsreichen Homepage der Initiative www.demenzfreundlich-tk.de
  • In einem kostenlosen offline- und online-„Demenzkalender“ wird die vorhandene vor Ort-Angebotsstruktur rund um das Thema Demenz gebündelt und Anregungen für Betroffene, Angehörige und Fachkräfte gefördert.
  • Für eine bezirksweite Aufklärungsarbeit und Enttabuisierung zum Thema Demenz werden Schulungsangebote für Gewerbe, Handel, Polizei und Schulen angeboten.
  • Entwickelt wurde die Fotoausstellung „Wenn plötzlich Puzzelteile fehlen“ mit den Biografien von acht Menschen mit Demenz in Treptow-Köpenick. Der Gesamtkatalog ist sehens- und lesenswert.
  • Weiterhin werden Wandertage, Fachtage, VHS-Kurse und ein Tanzcafé durchgeführt.

Menschen mit Demenz sind in ihrer Selbstständigkeit und Würde zu stützen und zu fördern

Obwohl viel weiter als viele andere Bezirke ist die Versorgung für Menschen mit Demenz auch in Treptow-Köpenick noch keineswegs zufriedenstellend. Das ergab die sehr engagierte Diskussion. Hingewiesen wurde auf zahlreiche noch existierende Probleme, ein reger Informationsaustausch fand statt:

Ellen Haußdörfer verwies darauf, dass seitens der Senatsverwaltung Gesundheit und Soziales das Konzept „Gesundheitliche und pflegerische Versorgung hochaltriger Menschen - 80plus“ entwickelt wurde, dieses aber mit keiner Förderung für mehr Personal verbunden sei. Nach Aussagen von Frau Eilers sind die Bezirke bei der Entwicklung nicht einbezogen worden. Dafür bestehe aber eine sehr gute Zusammenarbeit mit Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V. http://www.gesundheitbb.de/

Die Berliner Abgeordnete verwies weiterhin darauf, dass „verwirrte Menschen“ zunehmend auch eine Herausforderung für Organisationen und Institutionen außerhalb des Gesundheits- und Pflegesystems sind, so zum Beispiel bei der Berliner Stadtmission. In dem Zusammenhang informierte Frau Eilers darüber, dass in den Berliner Bezirken in Kooperation mit der Polizei „Schutzräume“ eingerichtet werden, um Menschen mit Demenz und verwirrte Menschen vorübergehend aufzunehmen. Die Grundidee: Polizeibeamte bringen hilflose demenzkranke Menschen, die auf den Straßen angetroffen werden, nicht in der Polizeiwache sondern in ausgewählten Senioreneinrichtungen unter, wo sie von fachlich geschultem Personal in gesonderten Räumen betreut werden. Von dort werden die Betroffenen sobald als möglich in ihr Zuhause gebracht.

Eine Aufgabe des Gerontopsychiatrisch-Geriatrischen Verbundes Treptow-Köpenick ist die Verbesserung von „Überleitungen in alle Richtungen“. Dafür kooperieren zahlreiche DienstleisterInnen mit dem Ziel einer regionalen Qualitätssicherung von Versorgungsstrukturen unter den Aspekten Gesundheitsförderung, Sozialraumorientierung und Lebensweltenorientierung.

Für Betroffene und Angehörige erweist sich die Zusammenarbeit auch mit HausärztInnen als sehr schwierig. Eine Teilnehmerin erzählte, dass der langjährige Hausarzt eine weitere Zusammenarbeit strikt abgelehnt habe: „er betreue keine Demenzerkrankten“. Hingewiesen wurde auf die Hausarztakademie Treptow-Köpenick e.V., mit der eine gute Zusammenarbeit existiere.

Eine andere Teilnehmerin verwies auf zahlreiche Probleme, wenn Menschen mit Demenz ins Krankenhaus müssen. Das Personal sei im Umgang mit ihnen zumeist nicht adäquat ausgebildet. Verwiesen wurde auf das laufende Modellprogramm der Robert-Bosch-Stiftung „Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus“. http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/62538.asp Zu den geförderten Projekten gehören auch zwei Berliner Kliniken:

  • die Alexianer St. Hedwig Kliniken Berlin wollen die komplexen Abläufe in einer bereits bestehenden interdisziplinären Notaufnahme eines Akutkrankenhauses so organisieren, dass sie auf die spezifischen Bedürfnisse von Demenzerkrankten angemessen eingehen. Ein Standort befindet sich im Bezirk Treptow-Köpenick.
  • Das Evangelische Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge im Bezirk Lichtenberg widmet sich bereits seit dem Jahr 2007 verstärkt den Bedürfnissen von älteren Patienten mit kognitiven Einschränkungen. Innovative Ziele des Projektes "Akutkrankenhaus als 'window of opportunity' für nachhaltige Demenzbehandlung" sind unter anderem die Reduzierung der Risiken und Belastungen für PatientInnen mit Demenz durch die Etablierung von umfassenden Behandlungs- und Betreuungskonzepten im Akutkrankenhaus. Andererseits soll der Krankenhausaufenthalt auch als Chancen genutzt werden, die Kranken auch wegen der Demenz zu behandeln um eine nachhaltige Verbesserung der sozialen Teilhabe in der Häuslichkeit zu erreichen.

Rege diskutiert wurde die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen. Gefordert wurde, dass diese nicht ausgebeutet werden dürfen, andererseits stellt sich die Frage nach der Auswahl von Ehrenamtlichen und ihrer „Eignung“ für eine Arbeit mit Menschen mit Demenz. Entschieden werde oftmals nach „Bauchgefühl“.

In der Diskussion wurde mit Vehemenz mehr „Ordnung“ in den Abschlüssen unterhalb der dreijährigen Fachausbildung gefordert. Hier müsse das Land Berlin noch Hausarbeiten machen. Das kunterbunte Geschehen in der Praxis könne die Sicherheit von PatientInnen gefährden.

Der Fachkräftemangel in der Pflege führt zu einem Anstieg von Leasing-Firmen. Wie bereits MedizinerInnen arbeiten hier zunehmend mehr Pflegefachkräfte, da das Gehalt sehr viel höher ist. Außerdem sind sie auch nicht in vergleichbaren Maße in die betrieblichen Strukturen eingebunden, interessieren sich oftmals auch nicht für die Geschicke des jeweiligen Unternehmens. Beklagt wird, dass für entsandte Pflegefachkräfte „horrende“ Gehälter gezahlt werden müssten. Diese hätten die „Macht“, was aber angesichts der ausgehandelten Pflegesätze zu Lasten der eigenen MitarbeiterInnen gehe.

Ein Pflege-Dienstleister verwies auf das große Problem der fehlenden fachlichen Beratung für die BürgerInnen. Alles werde zunehmend komplexer, die Bevölkerung wüsste häufig aber gar nicht, dass es Pflegestützpunkte gibt und jede/r Einzelne einen Rechtsanspruch auf Beratung, ein Recht auf die Erstellung eines individuellen persönlichen Versorgungsplans hat. „Die Pflege muss gestärkt werden“, wir brauchen eine generalistische Ausbildung und auch eine Pflegekammer zur Vertretung der fachlichen Interessen.

Abschließend habe ich auf die großen Gesetze wie das in der letzten Woche verabschiedete Krankenhaus-Strukturgesetz und das Hospiz- und Palliativgesetz hingewiesen: In jedem hat die Pflege eine herausragende Rolle gespielt. Die Probleme sind erkannt, allerdings noch nicht gelöst.

Weitere Informationen

Das Förderprogramm „Zukunftswerkstatt Demenz des Bundesministeriums für Gesundheit“ hat das Ziel, bisher gewonnene Erkenntnisse aus dem "Leuchtturmprojekt Demenz" zu ergänzen und das vorhandene Wissen in die Versorgung umzusetzen. Mit insgesamt rund 3,3 Millionen Euro sind in den Jahren 2012 - 2015 wichtige Projekte in den Bereichen „Unterstützung der pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz“ und „Regionale Demenznetzwerke“ gefördert worden. Die vielen Beispiele guter Praxis, Erfahrungen und Hilfen, unter anderem einen „Werkzeugkasten Demenz“, wurden am 21. September, dem Weltalzheimertag, in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Mit dem Werkzeugkasten soll die Gründung von neuen Netzwerken angeregt und erleichtert werden.

Im Hinblick auf das noch nicht vorliegende PSG III ist zu sagen, dass es mittlerweile schon positive Erfahrungen im Hinblick auf die Ausgestaltung von „Kommunale Gestaltungsmöglichkeiten bedürfnisorientierter Pflegestrukturen“ gibt. Fakt ist: Der demografische Wandel gewährt uns noch ein Zeitfenster von 10 - 15 Jahren zur Entwicklung zukunftsfähiger Versorgungsstrukturen und struktureller Anpassungsprozesse. Nutzen wir die Zeit - im eigenen wohlverstandenen Interesse.

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Vortrag Mechthild Rawert Demenz PSG 1 PSG 2.pdf326.21 KB