Mit der „Wertekonferenz Gerechtigkeit“ hat die SPD ihre Perspektivdebatte zur Entwicklung des Wahl- und Regierungsprogrammes für die Bundestagswahl 2017 eingeleitet. Was ist das Versprechen der SPD auf eine gerechte Zukunft? Wohlstand und Sicherheit auch in den kommenden Jahren - in Deutschland und in Europa. Ein modernes und erfolgreiches Land. Was muss ein Solidarprojekt leisten für gleiche Bildungschancen, für gute Arbeit, für Geschlechtergerechtigkeit, für ein würdiges Leben auch im Alter und bei der Pflege? Unsere sozialdemokratischen Antworten auf diese und andere Fragen sind entscheidend für die gemeinsame Zukunft in Deutschland. Für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Für eine offene und gerechte Gesellschaft.
In sieben Perspektiv-Arbeitsgruppen zu den Themen
- Wirtschaft, Bildung, Investitionen, und Finanzen
- Arbeit, Digitales, Aus- und Weiterbildung und Rente
- Leben und Familie
- Frieden und Europa
- Neue Gerechtigkeit und Zukunft des Sozialstaats
- Umwelt, Klimaschutz und Verbraucherschutz
- Recht, Demokratie und Teilhabe
werden bis zum Herbst 2016 Mitglieder des SPD-Parteivorstands, Abgeordnete sowie VertreterInnen aus den Ländern, Kommunen und der europäischen Ebene, ExpertInnen von Gewerkschaften, Wissenschaft und Fachorganisationen programmatische Impulse und konkrete Ideen entwickeln. Diese und die Ideen und Vorschläge von vier regionalen Programmkonferenzen werden auf einem Modernisierungskongress im Herbst 2016 gebündelt.
Die Inhalte des Programmentwurfs werden anschließend in einem Verbände- und BürgerInnendialog diskutiert - und weiterentwickelt. Die SPD beteiligt - wie schon 2013 - auf dem Weg zum Programm für die Bundestagswahl 2017 erneut wieder viele Menschen an ihren programmatischen Entscheidungen. Danach liegt der Ball erneut bei den Mitgliedern: Sie werden 2017 zu zentralen Fragen des Wahlprogramms verbindlich befragt. Das Wahl- und Regierungsprogramm wird dann auf einem Bundesparteitag im Frühjahr 2017 beschlossen.
Das SPD-Fundament: Soziale Gerechtigkeit
Bei der „Wertekonferenz Gerechtigkeit“ am 9. Mai 2016 im Willy-Brandt-Haus diskutierte die SPD gemeinsam mit ExpertInnen aus Wissenschaft, Verbänden und Gewerkschaften und vielen BürgerInnen die Fragen „Wie gerecht geht es bei uns zu?“, „Warum wird die viel beschworene Chancengleichheit der sozialen Marktwirtschaft heute immer stärker als Ungerechtigkeit empfunden?“ Obwohl oder auch gerade weil Deutschland ein reiches Land ist, haben immer mehr Menschen den Eindruck, dass Vermögen, Bildung und Macht im Land nicht gerecht verteilt sind. Der Glaube, dass mit Fleiß, Leistung und frei zugänglicher Bildung jeder und jedem in einer gerechten Gesellschaft der wirtschaftliche und soziale Aufstieg offen stehen, ist brüchig.
Eröffnungsrede von Sigmar Gabriel
Auch aufgrund des am Sonntag vom „Focus“-Herausgeber Helmut Markwort verbreiteten schrägen Gerüchtes hinsichtlich eines Rücktritts von Sigmar Gabriel und der miesen Umfragewerte von nur noch 20 Prozent für die SPD war die Eröffnungsrede von Sigmar Gabriel mit großer Spannung erwartet worden. Das Gerücht war Quatsch, der SPD-Parteivorsitzende ging auch gar nicht darauf ein.
Rückgewinnung der sozialen Gerechtigkeit für die SPD
Gabriel beschäftigte sich mit der Frage: Werden die SozialdemokratInnen noch gebraucht? Vor dem Hintergrund ihres großen geschichtlichen Anspruchs sei es ein Alarmsignal, wenn in Umfragen nur noch 32 Prozent der BürgerInnen der SPD hier eine Kompetenz zuschreiben. Dieser Vertrauensverlust in Gerechtigkeitsfragen, in Lösungen zu Herausforderungen der sozialen Gerechtigkeit sei für die SozialdemokratInnen „existenziell“. Daher wolle die SPD über das Thema soziale Gerechtigkeit in den kommenden an vielen Stellen öffentlich diskutieren. Er sei davon überzeugt, dass Gerechtigkeit „der Schlüssel im Kampf um die demokratische Mitte unseres Landes“ ist. Den deutschen und europäischen SozialdemokratInnen geht es auch um weit mehr als um den Gewinn der nächsten Wahl - es gehe um einen Gestaltungsanspruch. Die SPD dürfe sich daher auch nicht mit einzelnen Reformen zufriedengeben.
In seiner Grundsatzrede räumte Sigmar Gabriel strategische Fehler seiner Partei ein. Die Sozialdemokratie brauche wieder „ein tiefergehendes Verständnis für das, was um uns herum passiert“, müsse sich noch stärker der Aufgabe „Zeitdiagnose“ stellen.
Manchmal wirke sie wie eine «emotional ermüdete Partei» im Hamsterrad der Sozialreparatur. Eingeübte Rituale müssten nun infrage gestellt werden: «Wir sind ein bisschen zu viel Staat, und zu wenig soziale Bewegung.»
In der Steuerpolitik schlug Gabriel einen ersten Pflock ein. Er kündigte an, die SPD wolle nach der Wahl 2017 bei einer erneuten Regierungsbeteiligung die pauschale Abgeltungsteuer von 25 Prozent abschaffen. Damit greift Gabriel eine zentrale Forderung der Parteilinken auf, die zu seinen schärfsten Kritikern zählt. Die Abgeltungsteuer war unter dem SPD-Finanzminister Peer Steinbrück eingeführt worden.
Einer Erhöhung des Rentenalters von 67 auf 70 Jahre, wie Teile der Union ins Spiel gebracht haben, erteilte Gabriel erneut eine Absage: «Wir werden diesen Irrsinn verhindern.»
Aufstieg durch Bildung
„Uns Sozialdemokraten war dabei immer klar: Den Versuch, ein gelungenes Leben zu führen, muss jeder Mensch selbst in die Hand nehmen. Weder eine Partei noch ein Staat kann das ersetzen. Aber Bedingungen dafür zu schaffen, dass jedes Leben prinzipiell gelingen kann, das war und ist die Aufgabe sozialdemokratischer Politik.“ Damit markierte Gabriel in der Gerechtigkeitsdebatte noch einmal die Messlatte sozialdemokratische Politik. Die Basis dafür: die Chance für alle auf sozialen Aufstieg durch Bildung – nicht vorbestimmt durch Einkommen der Eltern, Herkunft oder Geschlecht.
Ein universeller Anspruch. „Aber genau da haben wir in den westlichen Demokratien, das müssen wir wohl zugeben, versagt“, räumte Gabriel ein. „Denn die sogenannten Flüchtlingskrisen zeigen uns ja täglich, wie weit wir von der universellen Teilhabe und dem Anspruch auf Selbstbestimmung und Freiheit entfernt sind.“
Die SPD arbeite an konkreten sozialen Problemen, in Bund, Ländern und Kommunen, hob Gabriel hervor. Denn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sei Protest nie genug. Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, Mindestlohn, Kampf gegen den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen, Mietpreisbremse, Milliardenprogramm für die Kommunen, abschlagfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren, verantwortungsvolle Integrationspolitik für die Flüchtlinge im Land: all das sei sozialdemokratische Regierungsarbeit.
"Hamsterrad der Sozialreparatur"
„Soziale Reformpartei zu sein, das ist der Stolz der SPD.“ Gabriel verwies selbstkritisch jedoch auf eine Kehrseite: „Wer die kleinen Schritte geht, kann die Richtung aus den Augen verlieren. Wer das Machbare tut, kann das augenblicklich Machbare mit dem grundsätzlich Notwendigen verwechseln.“
Angesichts der neuen sozialen Frage wirke die SPD zu sehr als eine emotional ermüdete Partei im Hamsterrad der Sozialreparatur, so die Analyse Gabriels. Und da stecke auch „die größte Herausforderung für die deutsche aber wohl auch für die europäische und internationale Sozialdemokratie.“
Der Zorn über Ungerechtigkeit hat nicht nur in Deutschland zugenommen. „Europa droht zu zerbrechen an der Massenarbeitslosigkeit von jungen Leuten und an den antieuropäischen Protestbewegungen, die das hervorgerufen hat“, mahnte der Vizekanzler. Und er stellt Fragen, auf die Antworten gefunden werden müssten: Wie kommt es, dass wachsender Wohlstand mit zunehmender Unsicherheit der Menschen einhergeht? Woher kommt diese Nervosität und Gereiztheit der Bürger, die sich im Internet Bahn bricht und von der rechte Parteien profitieren? Seine Vermutung: „Modernisierungsspannungen und der Innovationsstress haben alle entwickelten Gesellschaften erfasst.“
Kampf gegen die neuen Rechten
Hinzu kommen die internationalen Krisen und Kriege. „Mit dem Zuzug der Flüchtlinge wird uns dramatisch vor Augen geführt, dass wir die Aufgabe der Integration für alle Menschen bestehen müssen“, so die Einschätzung Gabriels. Es sei der große Betrug der Rechtspopulisten, dass sie den Menschen vormachten, die Flüchtlinge seien an der sozialen Frage Schuld. Ursachen und Wirkungen der Ungleichheit habe es vorher schon gegeben – die Situation habe sich durch den Zuzug aber zugespitzt.
Deshalb forderte Gabriel eine umfassende Gesellschaftspolitik der sozialen Integration – ein auf zehn Jahre angelegtes Programm der sozialen Investitionen. Das sei die wahre Entscheidungsfrage im Kampf gegen die neuen Rechten in Europa.
Gestaltungsanspruch in Europa – und darüber hinaus
„Wir brauchen also ein tiefergehendes Verständnis für das, was um uns herum passiert“, so der Appell des SPD-Vorsitzenden. Es gebe einen tiefen Vertrauensverlust, der die SPD ganz besonders hart treffe. „Für die Sozialdemokratie aber sind Gerechtigkeitsfragen konstitutiv.“
Deshalb stellt sich die SPD der Debatte. Der „Wertkongress Gerechtigkeit“ war dafür der Auftakt. Die SPD wird die Gerechtigkeitsfragen, die zugleich Glaubwürdigkeitsfragen an die SPD sind, in den nächsten Wochen und Monaten weiter öffentlich diskutieren.
Und Sigmar Gabriel machte deutlich, dass es ihm und der Partei um weit mehr als die Aussichten für die kommende Bundestagswahl gehe: „Es geht um den Gestaltungsanspruch für unsere Gesellschaften in Europa und darüber hinaus.“