„Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“, heißt es im Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Der Schutz von Menschenrechten ist das Hauptanliegen der parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Am 11. Januar 2017 diskutierten rund 30 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 26 Jahren mit mir im Paul-Löbe-Haus. Sie alle sind Teilnehmer*innen des Freiwilligen Sozialen Jahres im Politischen Leben/in der Demokratie (FSJ in der Politik/Demokratie, FSJ-P) in Trägerschaft der Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste (ijgd). Mit dabei war auch Helena Weber, die ihr FSJ-P in meinem Bundestagsbüro absolviert. Die FSJ Pler*innen nutzen mit diesem Jahr die Chance, durch ihr Engagement in zahlreichen zivilgesellschaftlichen und politischen Organisationen und Initiativen, Einblicke in politische Prozesse zu gewinnen und an ihnen teilhaben.
Sie baten mich, ihnen über meine Arbeit in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PV ER) zu berichten. Ein ungewöhnlicher Wunsch, umso größer die Freude meinerseits.
Der Europarat: Wahrer von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
Anders als häufig angenommen hat der Europarat wenig mit der Europäischen Union zu tun. Während die EU nur 28 Mitgliedstaaten vereint, sind in der parlamentarischen Versammlung des Europarats 47 Staaten vertreten.
Er wurde am 5. Mai 1949 von zehn europäischen Staaten gegründet und ist damit die älteste zwischenstaatliche Organisation Europas. Bis zum Ende des Kalten Krieges erhöhte sich die Mitgliederzahl auf 23, seither hat sie sich durch den Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten auf 47 erhöht - alle europäischen Flächenstaaten mit Ausnahme von Belarus und Kosovo.
Ordentliches Mitglied des Europarats kann jeder europäische Staat werden, der für fähig und willens befunden wird, die Grundsätze von Rechtsstaatlichkeit anzuerkennen, die Grundfreiheiten und Menschenrechten zu gewähren sowie bei den Zielen des Europarates tatkräftig mitzuarbeiten.
Auch nichteuropäische Länder können, indem sie Beobachter zu den Expertenausschüssen und Fachministerkonferenzen entsenden, mit dem Europarat zusammenarbeiten, sofern auch sie die grundlegenden Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkennen. Sie können sich dort in Sitzungen zu Wort melden und „mitmischen“, lediglich die Abstimmung ist ihnen verwehrt. Sechs Staaten haben einen Beobachterstatus im Europarat: der Heilige Stuhl, Israel, Japan, Kanada, Mexiko und die Vereinigte Staaten.
Die Aufgabe: Gemeinsame Werte fördern
Geschaffen wurde der Europarat unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges. Der Sitz ist Straßburg. Der Europarat hat die Aufgabe, einen engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern zu verwirklichen, um die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe sind, zu schützen und zu fördern und um ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu begünstigen (Art. 1 der Satzung des Europarats). Seine Kernmission sind der Schutz und die Förderung der Menschenrechte sowie von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in ganz Europa.
Der Europarat erfüllt seine Aufgaben zu einem wesentlichen Teil durch die Ausarbeitung und Beschlussfassung von Abkommen, Vereinbarungen und Konventionen, die nach Beratung durch die Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PV ER) vom Ministerkomitee des Europarates verabschiedet werden. Konventionen sind völkerrechtliche Verträge, die der Unterzeichnung und in der Regel Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten bedürfen. Der Schwerpunkt der mittlerweile über 200 Konventionen liegt bei den Menschenrechten und dem Minderheitenschutz. Die bekannteste Konvention ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Einhaltung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg überwacht wird.
Wie wird mensch Mitglied der PV ER?
In der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PV ER) arbeiten 318 Parlamentarier*innen und ihre 318 Stellvertreter*innen aus den nationalen Parlamenten zusammen. Jeder Mitgliedsstaat entsendet gemäß der aktuellen nationalen Wahlergebnisse vor Ort gewählte Volksvertreter*innen.
Der deutschen Delegation der PV ER gehören 18 sogenannte Vollmitglieder und ihre 18 Stellvertreter*innen an - derzeit von CDU/CSU: 9, SPD: 5; Die Linke: 2; Bündnis 90/Die Grünen: 2. Ein FSJ-ler möchte wissen, wer im Deutschen Bundestag entschieden habe, dass ich in den Europarat gehe?: Ich wurde von der SPD-Fraktionsspitze gefragt und habe zugesagt, da mich die europäische Herausforderung sehr gereizt hat. Gewählt wurde ich dann vom Deutschen Bundestag.
Wie funktioniert die parlamentarische Arbeit im Europarat?
Vier Mal im Jahr kommen wir in Straßburg für jeweils eine Sitzungswoche zusammen.
Die Parlamentarische Versammlung ist beratend tätig in allen Bereichen, für die der Europarat zuständig ist: Die PV ER gibt Empfehlungen zu vielen politischen Themenstellungen:
- zu Maßnahmen gegen neonazistische Erscheinungsformen,
- zur aktuellen Menschenrechtslage in der Türkei,
- zu optimalen Brustkrebsdienstleistungen in Europa,
- zum Schutz von Menschen mit psychosozialen Behinderungen vor ungerechtfertigten Menschenrechtsverletzungen,
- zur Diskriminierung von Trans*Menschen in Europa,
um nur einige Beispiele zu nennen.
Die PV ER beobachtet die Einhaltung der beim Beitritt eines Staates zum Europarat eingegangenen Verpflichtungen, wählt die Generalsekretär*in und die Menschenrechtskommissar*in, sowie die Richter*innen für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wir arbeiten in neun Fachausschüssen. Ich habe mich für die Mitgliedschaft im Ausschuss für Gleichstellung und Nichtdiskriminierung entschieden. In dem dazugehörigen Unterausschuss für Menschen mit Behinderungen hatte ich 2014/15 den Vorsitz inne.
Auch sind wir in „politischen Familien“ organisiert - ich selber gehöre der Sozialistischen Gruppe (SOC) an.
Wir wollen eine inklusive Gesellschaft – in Deutschland, in Europa
In Europa leben 80 Millionen Menschen mit Behinderungen. Viel - aber noch nicht genug - wurde bereits getan, um allen Menschen, also auch Menschen mit Behinderungen, die Teilhabe am politischen, sozialen und beruflichen Geschehen zu ermöglichen. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) legt ausdrücklich fest, dass die Schlüsselkonzepte Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion gerade auch für Menschen mit Behinderungen gelten, nämlich für Personen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“. Packen wir diese Aufgabe intensiv an! Es ist noch viel zu tun.
Ich habe mich dafür stark gemacht, dass ich Berichterstatterin für den Report “Die politischen Rechte von Menschen mit Behinderung: eine demokratische Herausforderung“ werde. Ich möchte die politische Partizipation und die politischen Rechte von Menschen mit Behinderungen stärken. Dafür habe ich einen sogenannten Fact-Finding-Visit nach Österreich gemacht und an einem internationalen Expert*innenseminar in Helsinki teilgenommen. In meinem Podiumsbeitrag habe ich als größte Barrieren hinsichtlich der Ausübung des Wahlrechts von Menschen mit Behinderungen identifiziert:
- Zugänglichkeit: Wahllokale aber auch alle vorherigen Wahlinformationen und -programme müssen für alle zugänglich sein: Gebärdensprache, Leichtes Lesen sowie Untertitel sind erforderlich.
- Vielfalt: Die Vielzahl möglicher Behinderungen erfordert eine Vielfalt an Maßnahmen.
- Unterstütztes Wählen: Unterstützt werden soll der Wahlakt. Die Entscheidung, wer gewählt wird, darf nicht beeinflusst werden. Am besten werden dazu z.B. für die Wahlvorstände, entsprechende Schulungen zusammen mit Menschen mit Behinderungen durchgeführt.
- Geschäftsfähigkeit: Das staatsbürgerliche Recht zu wählen und gewählt zu werden, soll nicht verbunden sein mit der Geschäftsfähigkeit eines Menschen.
- Bewusstseinsmachung und Aktionen durch Parteien: Sowohl der Öffentlichkeit, den Parteien als auch allen Parlamentarier*innen ist zu erläutern, dass ein inklusives Wahlrecht und der Abbau von Barrieren einfach zur politischen Landschaft dazugehört. Bei der Umsetzung spielen Parteien eine Schlüsselrolle, da sie die Türöffner sind, damit Menschen mit Behinderungen Funktionen und Mandate übernehmen können. Sie entscheiden über die Kandidat*innenaufstellung, Listenplätze, etc.
Die vorletzte Etappe zur Beratung und Beschlussfassung ist die Sitzung des Ausschusses für Gleichstellung und Nichtdiskriminierung am 24. Januar 2017 in Straßburg.
Zur Wahl gehen und gewählt werden - ein Grundrecht
Das allgemeine, freie und geheime Wahlrecht muss auch für alle Menschen mit Behinderungen gelten. Mein Ziel ist es, Parteien, Politiker*innen als auch Zivilgesellschaft dazu zu bringen, sich dafür einzusetzen, dass alle Bürger*innen in den 47 Mitgliedsstaaten des Europarates ihr aktives und passives Wahlrecht ausüben können - auch alle Menschen mit Behinderungen.
Unser Grundgesetz besagt im Artikel 38 Absatz 2 eindeutig: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.” Die Wahlberechtigung und Wahlhandlung einer jeden einzelnen Staatsbürger*in ist eine der tragenden Säulen unserer repräsentativen parlamentarischen Demokratie.
Ich stimme Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, zu: Sie hält den gesetzlich festgelegten Wahlrechtsausschluss (§ 13 Bundeswahlgesetz: Ausschluss vom Wahlrecht) für eine “nicht hinnehmbare Diskriminierung“. Daher fordert sie die umgehende Abschaffung des Wahlrechtsausschlusses für die zumeist unter Betreuungsrecht stehenden Menschen mit Behinderung(en).
Es gehört zum Wesen der Demokratie, die Wahlhandlung einer jeden Person zu akzeptieren. Auch die BRK-Allianz, ein Zusammenschluss von 78 verschiedenen Behindertenverbänden will die Abschaffung des Wahlrechtsausschlusses. Gesehen wird das Problem der ggf. gegebenen Nicht-Wahlfähigkeit. Es müsse aber andere Wege geben, als den grundsätzlichen Ausschluss.
Auch Deutschland hat kein inklusives Wahlrecht
Obwohl das Wahlrecht zu den politischen Grundrechten gehört, gibt es auch in Deutschland kein inklusives Wahlrecht. Derzeit sind gut 80.000 Staatsbürger*innen vom aktiven, freien und geheimen Wahlrecht ausgeschlossen. Das geht aus dem jüngst erschienenen Forschungsbericht „Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen“ hervor, der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016 herausgegeben wurde.
Die Studie beschäftigt sich mit den Voraussetzungen und Grenzen der in § 13 Nr. 2 und 3 Bundeswahlgesetz (BWG) geregelten Wahlrechtsausschlüsse. Sie betreffen u.a. Menschen, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten eine Betreuer*in nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist. Ihnen wird derzeit nicht „zugetraut, dass sie wahlfähig sind, dass sie eine politische Entscheidung selbstbestimmt treffen können.
Die FSJ-ler*innen möchten wissen, was denn für wen nun genau gelte? Menschen, die nach einer ärztlichen Untersuchung und einem Richterbeschluss für geschäftsunfähig erklärt werden, erhalten eine gesetzliche Betreuer*in. Es gibt die Betreuung in Teilbereichen, wie der Gesundheit, den Finanzen oder der Aufenthaltsbestimmung, oder aber auch in allen Angelegenheiten. Betreuer*innen werden bei Gericht bestellt. Häufig wird ein Familienmitglied benannt, das die zu betreuende Person von dem Zeitpunkt an, rechtlich und geschäftlich vertritt.
Doch dass diesen Menschen aufgrund der Betreuung gar das Wahlrecht entzogen wird, ohne vorher die Wahlfähigkeit zu überprüfen, ist eine Diskriminierung. Um die gleichen Rechte hinsichtlich des Wählens und Gewählt Werdens herzustellen, muss noch einiges getan werden und dafür setze ich mich ein.
Kampf gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus
Der Europarat und die Verteidigung der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaates werden angesichts des dramatischen Erstarkens nationalistischer, rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien und Gruppierungen immer wichtiger. Das gilt auch für die Bedeutung des Europäischen Gerichtshofes, dem Wächter über die Einhaltung und Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention mit ihrem Katalog von Grundrechten und Menschenrechten. Zunehmend wird dessen Rechtsprechung von einigen Staaten aus nationalistischen Gründen derzeit offen in Frage gestellt.
Trägerorganisation ijgd
Das FSJ in der Politik/ Demokratie wird von Internationale Jugendgemeinschaftsdienste (ijgd) - Freiwilligendienste in der ganzen Welt durchgeführt und dauert in der Regel 12 Monate. Es ist eine Vollzeitbeschäftigung bei einem Anspruch auf mindestens 26 Urlaubstage. Die „Freiwilligen“ erhalten ein festgelegtes Taschengeld (300 Euro) und sind sozialversichert. Fester Bestandteil des Programms sind fünf einwöchige Bildungsseminare zu bildungspolitischen Themen und Inhalten. Neben den politischen Inhalten steht bei den Seminarwochen das soziale Lernen und Selbstorganisation im Mittelpunkt. Säulen einer jeden Seminarwoche sind: Emanzipation der Geschlechter, Ökologisches und Soziales Lernen sowie Interkulturelles Lernen.
Ich habe mich sehr über das rege Interesse und die vielen Fragen gefreut. Ich wünsche den FSJ-Pler*innen alles Gute und ermuntere nochmals: geht wählen!