„Vielfalt ist unsere Zukunft, freundschaftliches Aufeinanderzugehen unsere große Chance“, so der Tenor der Teilnehmer*innen meines Sommerfrühstücks „Mechthild will‘s wissen“ zum Thema Migration, Vielfalt und Respekt am 13. Juli 2017 im HUZUR Nachbarschaftstreffpunkt. Zusammen kamen Menschen mit sehr viel Know How und Innovationsvermögen, die an ganz unterschiedlichen Stellen in Tempelhof-Schöneberg aktiv.
So berichtete Lina Ganama, dass sie ihre Idee, Beratung über „Whatsapp“ anzubieten, in die Tat umgesetzt habe. Lina Ganama ist Mitarbeiterin des Projekts Al Nadi, das seit 1979 existiert und eine zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für arabische Frauen aus ganz Berlin ist. Lina Ganama ist spezialisiert auf die Beratung bei Häuslicher Gewalt und hat über das Medium „Whatsapp“ ein sehr niederschwelliges Beratungsangebot geschaffen. Dieses werde aktuell vor allem von geflüchteten Frauen aus Syrien, dem Irak, aber auch aus Libyen, dem Libanon, und aus Marokko und Ägypten genutzt. Die Frauen kommen aus allen Altersgruppen (20 bis 60 Jahren) und allen Bildungsschichten (Analphabetin bis Akademikerin). Viele haben Häusliche Gewalt bereits in den Heimatländern erfahren und nutzen das Beratungsangebot gern.
Von Kidöb, dem Schwesterprojekt, das ebenso wie Al Nadi vom Stadtteilverein Schöneberg e.V. getragen wird, war Ayfer Özcoban gekommen.Im Kidöb haben schon seit 1981 insbesondere türkeistämmige Frauen die Möglichkeit, sich zu treffen, sich zu informieren und Erfahrungen auszutauschen, an den zahlreichen Kursangeboten wie Deutsch-, Alphabetisierungs-, Gesundheits-, Saz-, Mal- und Nähkursen teilzunehmen und sich weiterzubilden. Ayfer Özcoban berichtete von den Problemen, die vor allem ältere türkische Frauen haben. Diese sind als Arbeiterinnen nach Deutschland gekommen, haben gearbeitet und die Familie versorgt. Im Alter sind sie jetzt oftmals allein - ohne ihren Familienverband - und leiden unter Einsamkeit. Ihre Strickgruppe ist mittlerweile für die Frauen eine Art Selbsthilfegruppe, um mit der Vereinsamung und auftretenden psychischen Problemen klarzukommen.
Wolfgang Siebert arbeitet ehrenamtlich im Projekt ARRIVO. Mit der Initiative ARRIVO BERLIN hat sich der Berliner Senat der Aufgabe gestellt, geflüchtete Menschen mit Arbeitserlaubnis unkompliziert und zügig in Kontakt mit Berliner Unternehmen zu bringen. Mit dabei ist ab September 2015 das Netzwerk Großbeerenstraße in Tempelhof mit seinem RingPraktikum. Das erfolgreiche Konzept des Netzwerks Großbeerenstraße setzt den Fokus auf Industrieberufe. Über systematische Praktika, die gezielt berufliche Vorerfahrungen, Qualifikationen, vorhandene Potentiale und Interessen berücksichtigen, werden geflüchtete Menschen in Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse vermittelt. Wolfgang Siebert weiß, dass die Geflüchteten im Beruf nur Fuß fassen können, wenn sie sich die deutsche Sprache aneignen. Er hat viele Geflüchtete kennen gelernt und fordert, dass die Integrationskurse differenzierter für die unterschiedlichen Zielgruppen ausgerichtet sein müssen. Es gäbe unter den Geflüchteten sowohl Hochqualifizierte als auch Geringqualifizierte und auch Analphabet*innen. Es sei notwendig, das der Kurs zum Bildungsstand der Teilnehmer*innen passt.
Hier hakte Dirk Heinke, Fachstelle für Integration und Migration Tempelhof-Schöneberg des AWO-Landesverbandes gleich ein. Als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege sei es Aufgabe der AWO, aktiv an der Gestaltung der Einwanderungsmetropole Berlin mitzuwirken. Daher biete sie in ihren Fachdiensten für Integration und Migration qualifizierte Beratung und individuelle Integrationsbegleitung für Migrant*innen an. Aber auch für den Fachdienst sei es schwierig einen Überblick über die Integrationskurse zu bekommen Er bemängelte den schier unübersichtlichen Wildwuchs bei den Integrationskursen. Dieser erschwere es, einen „passenden Kurs“ für die Migrant*innen zu finden, so dass oftmals einfach nach den sich räumlich in der Nähe befindlichen Angeboten geschaut würde. Auf meine Nachfrage, ob es denn im Land Berlin einen Kursüberblick gibt, konnte er lediglich auf die Kursangebote der Volkhochschulen, die alle aufgelistet sind, verweisen.
Dirk Heinke stellte fest, dass es neben den Geflüchteten eine zweite Gruppe von Migrant*innen gäbe, die vermehrt in die Beratungen kämen. Das seien die EU-Bürger*innen, zum Beispiel aus Großbritannien, die sich nach dem Brexit in Deutschland einbürgern lassen wollen.
Migration sei auch ein großes Thema im Mehrgenerationenhaus Kiezoase, berichtete Monika Fröhlich. Sie koordiniert rund 140 Ehrenamtliche, die in der Flüchtlingsarbeit aktiv sind. Seit langem erfolgreich sei das Sprachcafé. Hinzugekommen ist nun das „Tandemprojekt“. „Wir haben dieses Programm Tandem-Projekt getauft, weil sich immer je ein*e freiwillig engagierte Berliner*in und ein*e Neuberliner*in mit Fluchterfahrung zusammenschließen. Mit professioneller Begleitung durch unsere hauptamtliche Koordinatorin Simone Baumer treffen sich die Tandems regelmäßig vor allem in den sechs Nachbarschafts- und Familienzentren des Pestalozzi-Fröbel-Haus, um zum Beispiel Bewerbungsunterlagen zu erstellen, Sprachkenntnisse zu verbessern, gemeinsame Behördengänge oder weitere Aktivitäten zur Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation von Geflüchteten zu planen.“
Herausforderungen mit dem Erlernen der deutschen Sprache schilderte Monika Sperlich, die ehrenamtlich in der Gemeinschaftsunterkunft Georg-Kriedte-Haus tätig ist. Die ehemalige Lehrerin, die während ihres Erwerbslebens eine Zusatzausbildung DAF (Deutsch als Fremdsprache) absolviert hatte, unterstützt nun Geflüchtete beim Erlernen der deutschen Sprache. Ihr Einsatz reicht von der Alphabetisierung über den Deutschkurs bis zur Unterstützung der Gewaltschutzpräventionsbeauftragten der Einrichtung. Bei vielen Geflüchteten stünde vor dem Integrationskurs erst einmal die Alphabetisierung.
Sprache ist der Schlüssel zur Identifikation
Das Erlernen der deutschen Sprache ist das A und O, darin waren sich alle Teilnehmenden einig. Auch bei Kidöb würden die Frauen auf den Integrationskurs vorbereitet. Frauen, die mit den Sprachkenntnissen A1 und A2 zu ihnen kommen, würden „gemischt“, damit mehr in deutscher Sprache untereinander kommuniziert wird, erläutert auch Ayfer Özcoban von Kidöb.
Erfahrungen mit den Anerkennungen von Schul- und Ausbildungsabschlüssen
Mich interessierten auch die Erfahrungen mit den Berufsanerkennungen bei Geflüchteten bzw. die Hindernisse, da viele der Geflüchteten oftmals ja keine Schul- oder Ausbildungsabschlüsse nachweisen könnten.
Für AkademikerInnen gebe es gute Nachrichten, berichtete Dirk Heinke. Die Hochschulrektorenkonferenz habe beschlossen die Vorbildung zu testen und damit das Problem der fehlenden Abschlüsse zu beheben. Wer angebe, im Heimatland einen Studiengang begonnen oder abgeschlossen zu haben, müsse fachspezifische Kenntnisse haben, die dann auf diese Weise glaubhaft gemacht werden könnten.
Das größere Problem existiere in den dualen Ausbildungsberufen, da unsere Berufe hier häufig nicht den Berufen im jeweiligen Heimatland entsprechen. Gefordert wird hierfür eine „individuelle Berufsfindungsberatung“, um das individuelle Können und Interesse und damit die entsprechenden Berufe zu identifizieren.
Wie erfahren Neu-Berliner*innen von Beratungsangeboten?
Die Haupt- und Ehrenamtlichen verweisen unisono darauf, dass es keiner neuen Flyer über vorhandene Beratungsangebote bedarf. „Die persönliche Ansprache ist entscheidend.“ Das Informationsverhalten sei je nach Heimatland sehr unterschiedlich. Dirk Heinke fordert auch hierzu mehr Migrationsforschung. Seit kurzem ist nun in Berlin das neugeschaffene Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung beheimatet. Deren konkrete erste Aufgabenstellungen werde ich abfragen.
Austausch Politik und Projekte weiter stärken
Ich freue mich, dass gewünscht wird, weitere Runden dieser Art durchzuführen, ggf. auch noch zu spezielleren Themenkomplexen. Es bestehe noch ein Mangel an Austausch zwischen den einzelnen Beratungseinrichtungen und dem sie umgebenden regionalen Sozialraum. Ausgebaut werden müssten auch die Kontakte zwischen alteingesessenen und neuen Migrant*innen.
Es war ein intensiver und erkenntnisreicher Austausch, der mich in meiner Haltung bestärkt hat, beschlossenen Gesetzen in der praktischen Umsetzung nachzuspüren. Dafür danke ich allen Teilnehmer*innen.