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Der Regenbogenkiez muss weiterleben - Die Corona-Pandemie offenbart die Verletzbarkeit queerer Strukturen

Berlin gilt nicht umsonst als „Stadt der Freiheit und Toleranz“. Die Berliner queere Szene ist riesig. Insbesondere im Schöneberger Norden meines Wahlkreises Tempelhof-Schöneberg gibt eine Vielzahl an Shops, Bars, Clubs, Kinos, Museen, Beratungsstellen und spezifischen LGBTIQ*-Events. Der Nollendorfkiez gilt als größte zusammenhängende Homosexuellenszene Europas. Nun bedroht die Corona-Pandemie zahlreiche Initiativen und Projekte. Insbesondere Selbständige, deren Beschäftigte und freie Mitarbeiter*innen in der Gastronomie, dem Veranstaltungsmanagement, der Kunst- und Verlagsszene sehen sich in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht.

Was bedeutet Corona für die LGBTIQ*-Community im Schöneberger Norden und wie kann Politik helfen? Diese Frage stand bei meiner „Regenbogenkiez-Tour“ am 21.10.2020 und den Gesprächen mit zahlreichen Akteuren der Szene im Vordergrund. Sarah Friedeberg und Mario Grotjohann, Mitglieder meines Teams, und ich wurden dabei begleitet von Melanie Kühnemann-Grunow, queerpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Jan-Pierre Richter, Co-Vorsitzender der AG SPDqueer Tempelhof-Schöneberg und Manuela Harling, Sprecherin für Frauen-, Queer- und Inklusionspolitik der SPD-Fraktion Tempelhof-Schöneberg.

Intensiver Austausch in der Szenebar „Incognito“

Erster Gesprächsort schon am frühen Morgen war die für ihre Unterhaltungs- und Travestieshows bekannte Szenebar „Incognito“ mit ihrer Chefina „Tina de Vinta“. Mit dabei waren Sylvio Jaskulke, Geschäftsführer der Gay-Bar „Scheune“ und die Travestie-Künstlerin Margot Schlönzke. Für den intensiven Austausch bedanke ich mich sehr herzlich.

Seit Beginn der Corona-Krise Mitte März ist der gesamte Gastronomie- und Veranstaltungsbereich finanziell schwer getroffen. Bis Anfang Juni musste das „Incognito“ schließen, Einnahmen fielen gänzlich weg.  Trotz Lockerungen der Corona-Schutzauflagen im Sommer kehrte die Vor-Corona-Normalität nicht zurück. Derzeit gelten Berlinweit auch für die Gastronomie umfangreiche Schutz- und Hygienevorschriften. Für das „Incognito“ bedeuten die Kontaktbeschränkungen, die Abstandsgebote etc., dass für die wenigen noch stattfindenden Shows nicht mal die Hälfte der üblicherweise abgesetzten Eintrittskarten verkauft werden. Den geringeren Einnahmen stehen Fixkosten gegenüber, die auch durch die aufgelegten Förderprogramme zur Kurzarbeit, für Selbständige, etc. nicht aufgefangen werden. Finanziell stark beeinträchtigende Wirkungen für das „Incognito“ und die „Scheune“ hat auch die vom Berliner Senat kürzlich verhängte „Sperrstunde“ von 23 Uhr bis 06 Uhr. Der dahinterstehende Schutzgedanke wird selbstverständlich unterstützt, nach anderen Möglichkeiten müsse dennoch gesucht werden.

Unveränderte Mietzahlungen verstärkten die prekäre Situation für viele noch, so Sylvio Jaskulke. Er wünscht sich eine faire Verteilung der Corona-bedingten Risiken zwischen Mieter*innen und Vermieter*innen. Genau das will auch die SPD Bundestagsfraktion, will auch ich. „Wir brauchen ein Äquivalent zur Mietpreisbremse auch für Gewerbe“, das habe ich erst jüngst in meiner Rede im Deutschen Bundestag gefordert. Dieses Ansinnen scheitert an der Union, scheitert insbesondere am Tempelhof-Schöneberger CDU-Bundestagsabgeordneten Jan-Marco Luczak.

Die finanzielle Lage des „Incognito“ und der „Scheune“ ist typisch für zahlreiche Gastronomiebetriebe in Zeiten der Corona-Pandemie. Viele haben kaum noch finanzielle Rücklagen und stehen so gut wie vor dem Aus. Angesichts der Debatte um einen Shutdown mit einer Schließung von Restaurants und Bars werden wohl begründete Maßnahmen verlangt, die eben nicht zum Aus für die Branche führen. Wenn die Einhaltung der Hygienemaßnahmen gesichert sei, wäre ein Schließungsgebot völlig unverhältnismäßig.

Queere Szene-Bars als „safe spaces“

Die Situation von gastronomischen Betrieben wie das „Incognito“ oder die „Scheune“ darf keineswegs nur unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet werden. Sie gehören beispielhaft zu einer in den letzten Jahrzehnten aufgebauten queeren Infrastruktur der LGBTIQ*-Community (LGTBQI= Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuellen, Transgender, intersexuelle und queere Menschen), in der mensch „unter Gleichen“ weilt, in der die gesellschaftliche Minderheit die Mehrheit ist. Diese Orte sind daher mehr als bloße Angebote zur Freizeitbeschäftigung. Sie dienen auch als Anlaufstellen und Rückzugsorte, sind für Mitglieder der LGBTIQ*-Community „safe spaces“. Denn Homo- und Transphobie ist nach wie vor in unserem gesellschaftlichen Alltag vorzufinden. Viele LGBTIQ*-lerinnen erleben immer noch Bedrohungen und im schlimmsten Fall auch körperliche Gewalttaten aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität bzw. sexuellen Orientierung. Diese Freizeitangebote in der queeren Infrastruktur geben Halt und Sicherheit. Ein Schließen dieser kulturellen Orte verstärkt bei vielen Menschen Einsamkeit und Isolation. Die Corona-Pandemie offenbart somit auch die Verletzlichkeit queerer Strukturen in Schöneberg, in Berlin, in ganz Deutschland.

Der Regenbogenkiez muss weiterleben

Der Nollendorfkiez im Norden Schönebergs ist mit seinen LGBTIQ*-freundlichen Kneipen, Restaurants, Cafés, Hotels und Geschäften international als Regenbogenkiez bekannt. Zwar ist auch hier das Leben für die LGBTIQ*-Community keineswegs problemfrei. Dennoch ist dieses Quartier ein unverwechselbarer Ort der Vielfalt, Solidarität und Toleranz.

Szenebars und -clubs hatten es schon in den letzten Jahren vor der Corona-Krise schwer, sich im Regenbogenkiez zu halten. Bedingt durch Gentrifizierung, steigende Gewerbemieten und die Verdrängung durch Investoren sehen sich immer mehr Betreiber*innen gezwungen, ihre Läden aufzugeben. Die Corona-Pandemie verschärft die ohnehin schon für einige problematische Situation, da sowohl die Reisegäste als auch die Berliner*innen in größerem Umgang fehlen. Der Regenbogenkiez wirbt daher verstärkt für sich – will mehr Berliner*innen anlocken. So entstand u.a. die Idee von Touren durch den Schöneberger Regenbogenkiez, im deren Rahmen auch den Berliner*innen, die sonst vielleicht nicht so häufig in diesem Viertel verkehren, ein „Blick hinter die Kulissen“ der queeren Szene ermöglicht wird. Margot Schlönzke, Ades Zabel und Biggy van Blond sind dabei die Gesichter der Tour, wechseln sich ab mit den Führungen. Ein Ziel neben dem Kennenlernen neuer gastronomischer Angebote ist auch die Stärkung der Solidarität der Berliner*innen mit „ihrem Regenbogenkiez“. Im Juni 2020 wurde zudem aus dem Regenbogenkiez heraus eine Initiative zur Rettung der Berliner Bars und Clubszene und bezogen auf Tempelhof-Schöneberg zur Rettung der Bar- und Clubszene mit ihrer langen Tradition im Regenbogenkiez gegründet. Derzeit ist noch völlig offen, wie das Leben der LGBTIQ*-Community im Regenbogenkiez „nach“ Corona aussehen wird. Je länger die Corona-Krise andauert, desto mehr wird eine Erosion der queeren Kultur befürchtet.

(Fotos: Mechthild Rawert, MdB)