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Art. 12 Absatz 2 UN-Behindertenkonvention: Alle Menschen mit Behinderung sind rechts- und handlungsfähig

Mit Erreichen der Volljährigkeit ist für viele Menschen mit schweren Behinderungen und komplexem Unterstützungsbedarf die Bestellung eine*r rechtlichen Betreuer*in erforderlich. Das Betreuungsrecht hat deshalb für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen eine hohe Bedeutung. Wichtig ist, dass das Selbstbestimmungsrecht dabei gewahrt bleibt.

Ich begrüße es sehr, dass nach einem langen vom Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz organisiertem Dialogprozess, der von den Betroffenenverbänden als sehr konstruktiv erlebt wurde, die Bundesregierung ihren beschlossenen Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts am 25.09.2020 an den Bundesrat übersandt hat.
Der Bundesrat hat nun seine Stellungnahme der Bundesregierung überreicht. Die Äußerung der Bundesregierung hierzu ist für Mitte November geplant. Die parlamentarische Beratung im Deutschen Bundestag beginnt voraussichtlich am 26.11.2020 mit der 1. Lesung und der Überweisung u.a. an den federführenden Ausschuss Recht und Verbraucherschutz. Möglicherweise werden wir bereits am 16.12.2020 die Öffentliche Anhörung durchführen. Ich bin gespannt auf die Berichterstattungsgespräche mit meinen Kolleg*innen von CDU und CSU. Ich erwarte von uns Parlamentarier*innen eine Verabschiedung des Gesetzes noch in dieser Legislatur.

Cooperative Mensch eG: Genossenschaftlich, Zusammenwirkend, Zusammenarbeitend

Als Berichterstatterin der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages für den Gesetzentwurf zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts besuche ich seit einiger Zeit Institutionen und Vereine, die strukturell mit der Umsetzung des Vormundschafts- und Betreuungsrechtes zu tun haben. Am 10.11.2020 habe ich die Geschäftsstelle der Cooperative Mensch eG, ein freier Träger der Berliner Behindertenhilfe, aufgesucht. Betreut werden hier überwiegend Menschen mit cerebralen Bewegungsstörungen sowie Körper- und Mehrfachbehinderungen. Die Genossenschaft ist Träger von Einrichtungen und Diensten mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe zu unterstützen.

Meine Gesprächspartner waren Georg Dudaschwili, Vorstandsmitglied, und Sieghard Gummelt, Öffentlichkeits- und Pressesprecher. Beide betonen, dass die Dienstleistungen der Cooperative Mensch eG (gegründet als Spastikerhilfe Berlin eG) auf einem ganzheitlichen Menschenbild basieren, welches die Zugehörigkeit einer jeden Person zur Gesellschaft und das Recht auf lebenslange Persönlichkeitsentwicklung umfasst. Die Mitarbeiter*innen unterstützen, begleiten und beraten die Menschen mit Behinderung entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse und jeweiligen Behinderungen bei der Bewältigung des Alltags.

Rund 50 Prozent der in Einrichtungen der Cooperative Mensch eG lebenden Menschen hätten Angehörige, in der Regel die (betagten) Eltern, als rechtliche Betreuer*innen. Festzustellen sei, dass diese mit der rechtlichen Betreuung vielfach überfordert seien. Bei der übrigen Hälfte handele es sich um vom Amt bestellte rechtliche Betreuer*innen.

Die Modernisierung des Betreuungsrechtes ist dringend geboten

Um die Rechts- und Handlungsfähigkeit ausüben zu können, benötigen Menschen mit Behinderungen entsprechende Unterstützung. Rechtliche Betreuung müsse daher in erster Linie Unterstützung in Form der unterstützten Entscheidungsfindung sein und nur in eng begrenzten Ausnahmefällen tatsächlich die gesetzliche Vertretung der rechtlich betreuten  Person. Die Verpflichtung der Betreuer*in bestehe darin, dem rechtlich betreuten Menschen mit Behinderung im Rahmen der angeordneten Aufgabenbereiche dabei zu assistieren, eigene Entscheidungen bei der Teilnahme am Rechtsverkehr zu treffen. Alle Formen einer unterstützten Entscheidungsfindung müsse Vorrang haben vor einer ersetzenden Entscheidungsfindung, so Dudaschwili und Gummelt.

Sie sehen große Bedarfe u.a. hinsichtlich folgender Herausforderungen:

  • Die Gewinnung von ehrenamtlichen rechtlichen Betreuer*innen wird immer schwieriger – unabhängig davon, ob diese aus der Familie kommen oder nicht. Seit Jahren sei bei der Erstbestellungen von Betreuer*innen ein Rückgang zu beobachten. Sehr notwendig ist der Ausbau der Qualifizierung von Ehrenamtlichen. Begrüßt wird eine Verberuflichung und Professionalisierung dieses Aufgabengebietes.
  • In der Praxis müssten auf Länderebene „Schnittstellenprobleme“ bearbeitet werden, so unter anderem zur Eingliederungshilfe.
  • Sehr häufig seien bei politischen Entscheidungen mehrfachbehinderte Menschen, deren Kommunikation reduziert ist, nicht im Blick, so dass gerade diese viel zu oft
    „durch´s Raster“ fallen. Es brauche eine Stärkung der „unterstützten Kommunikation“.
  • Derzeit würden noch viele mittlerweile selbst schon betagte Menschen mit Behinderungen in der Häuslichkeit der zumeist hochbetagten Eltern leben.

Geboten ist der Ausbau von sozialen Hilfen. Es sei sehr bedauerlich, dass „das Soziale“ so stark von restriktiven Finanzierungsmöglichkeiten eingeschränkt sei.

(Fotos: Mechthild Rawert)