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Gläserne Decke mal 2 - Potentiale von Frauen mit Beeinträchtigungen nutzen - Zusammenfassung

Digitaler Polittalk zum Internationalen Frauentag am 08.03.2021
mit und von Mechthild Rawert, MdB

frauentag2021.mechthild-rawert.de

Vorspann

Der nachfolgende Text zur Online-Veranstaltung „Gläserne Decke mal 2 - Potentiale von Frauen mit Beeinträchtigungen nutzen“ beruht auf der simultanen Mitschrift der Schriftdolmetscherin Margret Meyer während der als Livestream auf You Tube gesendeten Veranstaltung. Hierfür wurde das Online-Instrument ZUMpad genutzt. Es handelt sich also nicht um die wortgetreue sondern um eine sinngemäße Wiedergabe der Beiträge der einzelnen Frauen. Die Video-Clips sind untertitelt. Nicht aufgeführt sind die zu Beginn und während der Veranstaltung gemachten Erläuterungen zur Förderung der digitalen Barrierefreiheit. Die einzelnen Beiträge sind den Rednerinnen zugeordnet.

Veranstaltungsablauf

I. Einführende Erläuterungen zum Internationalen Frauentag und zur „Gläsernen Decke“
II. Drei Videos zu betrieblichen Handlungsaufgaben aus verschiedenen Perspektiven
III. Politiktalk zu persönlichen Erfahrungen bei der gesellschaftlichen, beruflichen und politischen Teilhabe mit Frauen mit Beeinträchtigungen


I. Einführende Erläuterungen zum Internationalen Frauentag und zu der „Gläsernen Decke“

Mechthild Rawert

Liebe Mitstreiter*innen für die Rechte von Frauen,

ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu dieser digitalen Veranstaltung anlässlich des Internationalen Frauentages 2021. Ich freue mich sehr, dass Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen zugeschaltet sind.

Schon seit 110 Jahren gehen Frauen auf die Straße, um für mehr Rechte und Gleichstellung für Frauen zu protestieren. Wie kam es überhaupt zu diesem Weltfrauentag? Auf der Frauenkonferenz der Sozialistischen Internationalen beschlossen 1910 Frauen aus 17 Ländern die Einführung eines Frauentages. Der Vorschlag dazu kam aus der deutschen Delegation. Die deutsche Sozialistin Clara Zetkin hatte mit der Forderung "Keine Sonderrechte, sondern Menschenrechte" für Frauen auf dem Kongress für Zustimmung geworben. Und schon 1911 folgten rund eine Million Menschen in Deutschland, Österreich, Dänemark und der Schweiz dem ersten Aufruf von Gewerkschaften, Sozialdemokrat*innen und Sozialist*innen zu diesem "Ehrentag“ für Frauen.

Von den Forderungen der Frauen 1911 nach gleichen Rechten wie Männer im Arbeitsleben und nach mehr politischer Teilhabe ist bisher nur die dritte Forderung, das Wahlrecht für Frauen, erfüllt. Wählen dürfen die Frauen in Deutschland seit 1918 - dennoch kämpfen wir heute um die Parität in den Parlamenten.

Gerade durch den Einsatz vieler Sozialdemokrat*innen hat sich seitdem vieles in die richtige Richtung gewandelt. Dennoch steht der Internationale Frauentag immer noch im Ringen um rechtliche, politische und wirtschaftliche Gleichstellung: mehr Selbstbestimmung für Frauen in allen Lebensbereichen, eine eigenständige Erwerbstätigkeit und Alterssicherung, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und vor allem gleiche Löhne. Auch die faire Aufteilung von Haus- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern ist noch nicht gelungen. 19 Prozent Unterschied in den Gehältern zum Nachteil der Frauen sind einfach ein Skandal.

Wir greifen nun das Thema der „gläsernen Decke“ auf.

Was ist das? Einige kennen diesen Begriff, andere nicht. Die gläserne Decke ist ein Sinnbild für eine Barriere, ein Hindernis. Frauen stoßen im Erwerbsleben und ihrer beruflichen Karriere oft an Decken, die nicht für alle sichtbar sind. Sie ist häufig durch individuelle Anstrengungen auch nicht zu durchbrechen. Gläserne Decken sind strukturelle Barrieren in den Betrieben und in der Gesellschaft. Frauen haben also nicht die gleichen Chancen, in Führungspositionen zu kommen.

Wissenschaftliche Studien nennen Gründe: Bereits beim Berufseinstieg erhalten Frauen häufiger ein geringeres Gehalt als Männer und sie verbleiben im jeweiligen Betrieb auch häufiger in den niedrigeren Gehaltsstufen. In Betrieben gibt es oft Netzwerke, wo Frauen nicht vertreten sind. Das führt dazu, dass der Mann, Thomas nennen wir ihn, bei Beförderungen eher den Mann Thomas vorschlägt als die Frau Nina. Es gibt unbewusst immer noch die Haltung, dass nur Männer eine Vollzeitstelle ausfüllen können, da Frauen ihre Erwerbstätigkeit oft unterbrechen. Weiterhin existieren auch noch die Vorurteile, Frauen sind nicht so durchsetzungsstark, wobei nicht erkannt wird, wie wichtig soziale Empathie ist, oder Frauen seien nicht so leistungsstark – dabei sind die Bildungsabschlüsse von Mädchen und jungen Frauen häufig besser als die der jungen Männer.

Auch Frauen mit Beeinträchtigungen begegnen vergleichbaren defizitorientierten Stereotypen. Da ist sie wieder, die gläserne Decke. Damit Frauen mit Beeinträchtigung weniger auf gläserne Decken stoßen, muss sich in den Unternehmen und Betrieben noch Vieles ändern.

II. Drei Videos zu betrieblichen Handlungsaufgaben zur Förderung der Inklusion  

Mein Team und ich haben mit Vertreterinnen aus drei Unternehmen gesprochen. Was ist zu tun für gleiche Chancen, gleichen Respekt und gleiche Rechte für alle? Beleuchtet werden jeweils unterschiedliche Aspekte und Perspektiven.

Video 1: Alexianer St. Hedwig Kliniken Berlin

Für ihre Gesprächsbereitschaft und Informationen danke ich Ina Jarchov-Jadi, Pflegedirektorin im St. Hedwig Krankenhaus, Sabrina Roßius, Stationsleitung der Intensivstation im Krankenhaus Hedwigshöhe und Angelika Dahl-Dichmann, Schulleiterin der Alexianer Akademie für Gesundheitsberufe Berlin/ Brandenburg. Der Dank geht auch an Güllü Kuzu, die zeitgleich als Integrationsbeauftragte bei den Alexianern und in meinem Team tätig ist und die Kontakte vermittelt hat.

Von den Männern mit Behinderung sind nur ein Drittel erwerbstätig, sogar nur ein Fünftel der Frauen mit Beeinträchtigungen. In dem Video wird auf erfolgreiche Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen mit Beeinträchtigungen verwiesen - das ist ermutigend. Wichtig ist es auch, in einem solch großen Unternehmen von einem Betrieblichen Eingliederungsmanagement zu hören, welches entsprechende Strukturen schafft. Wichtig finde ich den gemachten Vorschlag, stärker nach außen mit einer Unternehmenskultur zu werben, die vielfältigsten Potentiale von Menschen mit Beeinträchtigungen auch kennenlernen und sie für die Arbeitswelt nutzen zu wollen.

Video 2: Vertrauensperson in einem industriellem Großunternehmen

Im zweiten Video steht uns Britta Ballhause, gewählte Vertrauensperson der Schwerbehindertenvertretung, zur Verfügung. Deutlich wird, wie bedeutsam diese Interessensvertretung für Menschen mit Behinderungen im betrieblichen Alltag ist. Es existiert ein spezielles Jobportal, auf dem Menschen mit Behinderungen sich bewerben können. Bedeutsam ist auch der Hinweis an Menschen mit Beeinträchtigungen, immer die eigenen Stärken herauszustellen. Wer trotz Berechtigung keinen Schwerbehindertenausweis beantragt, hat häufig Angst, hierdurch benachteiligenden Stereotypen zu begegnen und damit nicht zu „den Normalen“ zu gehören.

Diese Angst, anders zu sein, geht weit über ein einzelnes Unternehmen hinaus und gehört gesellschaftspolitisch diskutiert. Als Frauen-, Gleichstellungs- und Genderpolitikerin verweise ich darauf, dass bei ausschließlichen Diversity-Ansätzen in Unternehmen, die Förderung von Frauen oft in Gefahr ist, unter die Räder zu geraten.

Video 3: Frauenbeauftragte des FSD Lwerk Berlin Brandenburg gGmbH.

Das dritte Video gibt ein Gespräch mit Kerstin Lorenz, Frauenbeauftragte im Lwerk, und Christin Rüß, Vertrauensperson der Frauenbeauftragten, wieder. Das Lwerk ist ein soziales Handwerks- und Dienstleistungsunternehmen und Träger einer anerkannten Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Um Trigger zu vermeiden, der Hinweis: Es wird auch das Thema sexualisierte Gewalt angesprochen.  

Deutlich wird das Engagement der Frauenbeauftragten bei der Aufgabe Ansprechpartnerin für die weiblichen Beschäftigten zu sein. Aufgrund des bestehenden Vertrauensverhältnisses haben weibliche Beschäftigte die Möglichkeit Themen, wie z.B. sexualisierte Gewalt, anzusprechen. Im Video werden auch Erfolge von Frau Lorenz als Interessensvertreterin in den regelmäßigen Sitzungen mit dem Werkstattrat und der Geschäftsleitung erwähnt. Auf ihre Anregung hin wurden neue betriebliche Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre in der Corona-Pandemie eingeführt.

Hintergrundinformation: Frauenbeauftragte in Einrichtungen der Behindertenhilfe existieren seit der Einführung des Bundesteilhabegesetzes 2017. Ein Beweggrund für diese gesetzliche Vorschrift war die durch wissenschaftliche Studien belegte Erkenntnis, dass Frauen mit Beeinträchtigungen noch häufiger der Gefahr sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind als Frauen ohne Beeinträchtigungen. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sind große Unternehmen, in denen zudem die Chancen zur aktiven Mitbestimmung und Mitwirkung durch Frauen ausgebaut werden.

III. Politiktalk zu persönlichen Erfahrungen bei der gesellschaftlichen, beruflichen und politischen Teilhabe mit Frauen mit Beeinträchtigungen

Mechthild Rawert

Sie sehen auf dem Bildschirm tolle Frauenköpfe. Zwei von uns, Sarah Friedeberg und ich, sind die interviewenden Moderatorinnen. Unsere Gesprächspartnerinnen sind Anieke Fimmen, SPD Pankow, Emma Sheymann, SPD Mitte, Regine Laroche, SPD Friedrichshain-Kreuzberg und Sasa Raber, SPD Marzahn-Hellersdorf. Wir wollen uns unterhalten über Empowerment, Rollenklischees und über Stereotype, individuelle und strukturelle Barrieren, mehr Inklusion - und das auch in und durch die SPD. In der SPd existiert eine eigene Arbeitsgemeinschaft für Menschen mit Behinderungen: die AG Selbst Aktiv. Die Beteiligten stellen sich in Reihenfolge der Vornamen selbst näher vor.

Der auf dem Bildschirm sichtbare Unterschied der sechs Frauen ist vielleicht: War frau schon bei der Friseur*in oder nicht. Wer von uns, wie viele von uns Beeinträchtigungen haben, sehen Sie nicht. Die persönliche Vorstellung soll daher verbunden werden mit der Frage nach der Bedeutung von sichtbaren und unsichtbaren Beeinträchtigungen und welche Rolle dieser Unterschied im eigenen Leben spielt.

Anieke Fimmen
 
Ja, hallo, ich bin Anieke und bin 40 Jahre alt, Juristin und seit 2005 in der SPD. Man sieht es jetzt nicht, aber ich habe eine Behinderung seit meiner Geburt. Für mich war das eigentlich schon so, dass es mein ganzes Leben eine Beeinträchtigung war, weil ich immer das Gefühl hatte, mich mehr beweisen oder erklären zu müssen. Ich habe dann Jura studiert, bin erwerbstätig, habe aber einige Barrieren erfahren. So viel zu mir, ich gebe weiter in die Runde. Vielen Dank.

Emma Sheymann

Ich bin Emma Sheyman und in der SPD Mitte aktiv. Ich habe das Tourette-Syndrom. Das ist eigentlich eine sichtbare Erkrankung. Mein Problem ist, dass man mir das nicht ansieht, da ich es gut unterdrücken kann, was aber mit Schmerzen einhergeht. Oft verstehen oder glauben Menschen mir nicht. Ich bin im Alltag daran gehindert, Dinge zu tun, die ich gerne tun würde. Ich habe vor kurzem meinen Schwerbehindertenausweis beantragt. Ich möchte besser an der Gesellschaft teilhaben und weiß, ich kann alles genauso schaffen wie jemand ohne Behinderung. Daher bin ich auch in der SPD, um Menschen mit gleichen Problemen helfen zu können.

Regine Laroche

Ja, hallo, vielen Dank erstmal für die Einladung in diese tolle Runde heute. Einige kennen mich ja nicht persönlich. Ich bin Regine Laroche, 40 Jahre alt und bin in Friedrichshain-Kreuzberg aktiv. Wir versuchen die Gründung einer AG Selbst Aktiv voranzubringen für die Barrierefreiheit. Seit vorgestern bin ich auch Kandidatin für das Berliner Abgeordnetenhaus nach mehreren Runden. Ich habe Germanistik studiert und bin derzeit als Pressesprecherin tätig für den Behindertenbeauftragten der Bundesregierung.

Seit 2017 bin ich Mitglied der SPD. Beruflich beschäftige ich mich seit 6, 7 Jahren mit dem Thema Behinderung. Vorher wollte ich gar nicht so viel damit zu tun haben. Ich habe eine nicht sofort sichtbare Behinderung. Mir fehlen Finger an einer Hand, ich habe viel dafür getan, das immer zu verstecken. Ich wollte immer besser sein, man hatte immer das Gefühl, das doppelte Manko Frau und Behinderung ausgleichen zu müssen. Das ist mir alles erst später klargeworden, dass es Strukturen gibt, in die ich mich immer eingepasst habe. Mir wurde klar, wenn ich mit dieser kleinen Behinderung solche Probleme habe, geht es anderen noch viel anders. Die SPD hat das ja auf der Agenda, aber das muss noch stärker werden in der Partei. Das Thema treibt mich an. So viel von mir.

Sasa Raber

Auch von mir vielen Dank für die Einladung. Ich bin 34 Jahre alt und komme aus dem Kreisverband Marzahn-Hellersdorf. Wir gründeten vor 2 Jahren die AG Selbst Aktiv. Ich bin Stellv. Landesvorsitzende bei der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF), setze mich innerhalb der SPD für Inklusions- und Gleichstellungspolitik ein. Ich erwarte mein erstes Kind gerade und bin PR-Managerin beim Verband cannabisversorgender Apotheken. Ich habe keine Behinderung von Geburt an sondern habe Morbus Bechterew und aufgrund dessen eine Gehbehinderung. Die Begleiterscheinungen führen zu immer mehr Problemen, so dass ich nicht richtig laufen kann und irgendwann im Rollstuhl sitzen werde.

Ich kann nur bestätigen, was alle sagten, dass einem oft Mitleid entgegenschlägt und einem grundsätzlich weniger zugetraut wird. Man leistet doppelt so viel, als behinderte Frau musst du 150% leisten. Bei mir ist damit zu rechnen, dass Dinge nicht funktionieren und nicht klappen je offensichtlicher meine Erkrankung wird. Das sollte nicht zu mehr Mitleid und weniger Zutrauen führen. Ich bin zwar behindert, will aber in der Gesellschaft tun, was ich tun möchte. Künftig sollte es anders werden: Die Gesellschaft soll uns nicht mehr behindern. Weder Behinderung noch Geschlecht soll eine Rolle spielen, sondern das, was man kann. So viel von mir aus, vielen Dank.

Mechthild Rawert

Herzlichen Dank. Bei aller Unterschiedlichkeit der Lebensläufe, Wohnorte in Berlin ist eines deutlich: Das Erleben der gläsernen Decken ist da. Was macht eigentlich der Betrieb, die Organisation SPD selbst? Ich übergeben für Fragen an Sarah Friedeberg.

Sarah Friedeberg

Ich bin Sarah, arbeite seit einem dreiviertel Jahr bei Mechthild Rawert und mache dann meinen Master in Politikwissenschaft.

Die erste Frage lautet: Begegnet ihr in der SPD  oder bei Eurem Engagement zweifachen gläsernen Decken, also einmal dass ihr Frau seid und dann eine Behinderung habt? Habt ihr solche Erfahrungen schon mal gemacht? Wenn ja, könnt ihr diese bitte erläutern. Ich würde die Reihenfolge nach Alphabet bzw. Vornamen angehen.

Anieke Fimmen

Ja, sehr gerne. Ich bin seit 2005 in der SPD. Sagen wir mal so, ich wäre auch gerne früher in die SPD eingetreten, komme aber aus einem strukturschwachen Ort. Da war es nicht möglich, dass ich zu den Jusos gehen konnte, das war alles nicht rollstuhlgerecht. Dann habe ich festgestellt, es wird schwierig, dass wir immer einen rollstuhlgerechten Ort finden. Wegen mir Umstände machen, fand ich auch doof. Es war dann so, dass ich zum Studium nach Münster ging. Dort wurde es besser, weil es eine Großstadt ist. Aber ich war in der Runde immer die einzige junge Frau oder Studentin mit einem Problem – so auch das Problem, wo treffen wir uns, wo kann ich teilnehmen? Dabei fühlt man sich schlecht und ich habe mich auch zurückgezogen. Es brauchte immer neuen Mut, das anzugehen. Ich dachte, da muss es eine Lösung geben.

Jetzt bin ich seit einem Jahr in Berlin. Auch hier in Berlin ist es nicht ganz einfach. Ich arbeite als wissenschaftliche Mitarbeiterin, da ist es von den Räumlichkeiten her besser, aber auch nicht ganz problemfrei. Man muss sich immer neu motivieren, anders als andere Menschen ohne Beeinträchtigung. Ich habe das Gefühl, dass es gefestigte Rollenbilder gibt. So ist es halt, und das ist schwierig. Ich habe in der Vorstellung gesagt, dass ich über Jahre das Problem hatte, das offen anzusprechen. Ich wollte meine Leistung bringen und nicht über meine Behinderung reden. Ich finde es schade, dass es so ist, dass man sich schämt für seine Behinderung. Ich hoffe auf ein Besserwerden, da ist noch viel Luft nach oben. Ich gebe mal weiter in die Runde. Vielen Dank.

Sarah Friedemann

Ein erster ehrlicher Eindruck.

Emma Sheymann

Ich kann an vieles nur anknüpfen. Die Rollenklischees waren meine eigene Barriere, und dass ich eine Frau bin. Mein persönliches Klischeebild - man merkt das oft in Diskussionen, dass viele Männer geradeheraus sprechen, dass ich als Frau erst einmal 4-5 Mal nachdenke, ob ich was sagen will oder nicht, oder auch, habe ich überhaupt die Expertise dafür? Viele muten mir nicht viel zu und ich mir selbst dann auch nicht mehr. Ich habe versucht, solchen sozialen Gefällen immer aus dem Weg zu gehen.

Ich fühle mich in der SPD willkommen, wo ich als Mensch gesehen werde und nicht mit meinen Beeinträchtigungen. Ich wollte mich nie aufdrängen, aber ich brauche Pausen, um meine Ticks rauslassen zu können. Das mag man nicht zugeben, dass man eine Pause braucht, aber an einer gesellschaftlichen und politischen Debatte auch teilhaben will. Die Angst, durch die Behinderung beeinflusst zu sein, das möchte ich nicht. Ich kenne Tage, wo ich nichts machen kann, und es gibt Wochen, da muss ich im Bett liegen. Ich traue mich meist nicht, das auszusprechen. Ich würde gerne viel mehr leisten als ich kann, das ist zum Heulen. Aber ich bin froh in einer Partei zu sein, wo das akzeptiert wird.

Sarah Friedemann

Danke, Emma, für die spannenden Impulse. Liebe Sasa, nun bist du dran.

Sasa Raber

Ich kann daran anknüpfen, individuelle Erfahrungen in die Runde geben. Also ich persönlich habe noch nicht so mit Barrieren zu kämpfen gehabt in meinem parteipolitschen und ehrenamtlichen Engagement. Politik erfordert häufig Schnelligkeit und ein Durchgetaktet sein. Der Politikbetrieb ist alles andere als inklusiv. In der Politik, auf Ortsvereinsebene usw., da ist immer ein Wille und eine Offenheit da, jemanden willkommen zu heißen, der bestimmte Bedürfnisse hat. Aber wenn man ein Mandat oder Amt anstrebt, wird es schwierig.

Frauen mit Behinderung haben im Alltag mit so vielen Hürden zu kämpfen, von denen gesagt wird, die sind nicht ins politische Amt einzubringen. Erwähnt sei nur das Thema gesundheitliche Versorgung: Es ist so wie schwierig, eine barrierefreie Praxis zu finden, das ist aufwendig, kostet viel Zeit und Energie. Es geht nicht nur um Barrieren in der Partei und Politik, sondern auch im Umfeld, damit alle die Möglichkeit haben sich zu engagieren. Ich erlebe im Kreisverband oder Ortsverein, dass man bemüht ist, barrierefreie Örtlichkeiten zu finden. Aber zum Teil ist es eine Katastrophe, wenn der Aufzug ausfällt oder nicht vorhanden ist. Dann stehe ich vor den Treppen und frage mich, wie ich die rauf- oder runterkommen soll.

In diesen Corona-Zeiten habe ich mich gefreut, dass viel in Online-Meetings stattfand. Ich freue mich natürlich auch, Genoss*innen in echt wieder sehen zu können. Aber Arbeitstreffen könnten weiterhin digital sein, weil mir das mehr Teilhabe ermöglicht. Mein Krankheitsverlauf ist ja so, dass ich immer weniger die Möglichkeit habe, vor Ort präsent zu sein. Der ganze Alltag muss ja organisiert werden – Ärzt*innen, Physiotherapie, was alles Kraft raubt, und dann noch zu Sitzungen zu fahren.

Gläserne Decken habe ich deutlich gemerkt, als ich in Marzahn-Hellersdorf bekannt gab, für den Bundestag kandidieren zu wollen – ich wurde dann nicht gewählt. Ich wurde oft gefragt, ob ich mir das überhaupt zutraue. Die Frauenperspektive konnte ich dann noch mal kennenlernen, als ich sagte, dass ich Nachwuchs erwarte. Ich habe nach der Mitgliederentscheidung nicht wenige Nachrichten bekommen: Sei doch froh, dass es nicht geklappt hat als junge Mutti im Rollstuhl mit Baby im Arm. Warum soll ich meinen Alltag nicht einbringen können im Deutschen Bundestag? Da habe ich erfahren, es gibt massive Vorbehalte, die auf mein Geschlecht und meine Erkrankung zurückzuführen sind.

Ich merke immer wieder, auch in meinen Frauennetzwerken, auch in der SPD, es sind im Wahlkampf vor allem Männernetzwerke stark. Bei der jüngeren Generation sieht es anders aus, aber ich erlebe doch oft, dass Männer Frauen nicht zu Wort kommen lassen. Manche Genossen schaffen es nicht, auch mal die Frauen reden zu lassen. Es gibt natürlich auch positive Menschen, die sagen, ich halte mal die Klappe. Das finde ich vorbildlich. Davon müsste es mehr geben, da ist noch viel Arbeit zu leisten.

Sarah Friedeberg

In der SPD gibt es die Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv. Möchtet ihr dazu noch was sagen?

Regine Laroche

Ich kann gerne anfangen. Mir war es wichtig in Friedrichshain-Kreuzberg das Thema Gründung einer bezirklichen AG Selbst Aktiv auf die Tagesordnung zu setzen. Es ist meine Erkenntnis, dass Behindertenpolitik sonst zu kurz kommt, auch in der Partei. Es gibt bei uns aber auch Personen, die alles daran setzen, um im SPD-Landeswahlprogramm das Thema Barrierefreiheit stärker zu setzen.

In Friedrichshain-Kreuzberg sind wir relativ weit. So gibt es in unserer Bezirksverordnetenversammlung (BVV) den Ausschuss für Frauen, Gleichstellung, Inklusion und Queer – wobei ich nicht so recht weiß, ob das so sinnvoll ist, all die damit verbundenen Aufgaben in einen Ausschuss zu packen. Ich hatte das Gefühl, es geht da immer um parteipolitische Dinge. Ich hoffe, dass wir mit der bezirklichen Gründung der AG Selbst Aktiv auch Agenda Setting betreiben können, so erstmal die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), dann schauen wir mal weiter.

Sarah Friedeberg

Danke, Regine, jetzt geht an Sasa noch mal das Wort. Vielleicht könntest du noch 1, 2 Sätze allgemein zur AG Selbst Aktiv sagen.

Ja, zur AG Selbst Aktiv, Mechthild ist ja deren Landesvorsitzende. Selbst Aktiv ist eine Arbeitsgemeinschaft für Menschen mit Behinderungen in der SPD. Viele Mitglieder haben selbst eine Behinderung und ihr politischer Schwerpunkt ist die Behindertenpolitik. Wir sind die Lobby für unsere Themen und wollen, dass unsere Positionen auch gesehen werden. Klasse, dass ihr das auch in Friedrichshain-Kreuzberg machen wollt, so wie wir es in Marzahn-Hellersdorf schon getan haben. Das Thema schwingt immer mit, aber nicht so wirklich. Ein Agenda Setting muss möglich sein.

Wir hatten zum Beispiel die Forderung nach Mindestlohn in den Werkstätten. Diese Forderung steht nun im Wahlprogramm. Je mehr Wumms dahintersteckt, desto mehr geht natürlich auch. In unserem bezirklichen SPD-Wahlprogramm wird es nun ein eigenes Kapitel zu Inklusion und Barrierefreiheit geben.

Sarah Friedeberg

Anieke und Emma - welche Rolle spielt die AG Selbst Aktiv für euch? Wie wichtig ist es, dass ihr Teil der AG Selbst Aktiv seid und euch dafür einsetzt, dass Menschen mit Behinderungen noch mehr in die Partei inkludiert werden?

Emma Sheymann

Ich würde mal darauf antworten. Ich fühle mich dadurch gesehen, gehört und wahrgenommen. Wie schon öfter gesagt wurde, Menschen mit Beeinträchtigungen sind so bunt wie die Welt. Es gibt viele Formen, auch psychische Beeinträchtigungen, die nicht gesehen werden. Ich fühle mich supported und gesehen. Ich möchte, dass Selbst Aktiv überall in den Bezirken gegründet wird, damit auch kommunal die Menschen mit Behinderungen mehr gesehen werden. Jede Partei sollte sowas haben, weil so Menschen und Frauen, vor allem Frauen mit Beeinträchtigungen eine Lobby haben. Wir können den Kampf nicht alleine führen, das schaffen wir nicht. Dass wir nicht alleine gelassen werden, das hört sich schon gut an und ich bin dafür dankbar.

In Mitte kämpfen wir auch für die Gründung einer bezirklichen AG Selbst Aktiv. Ich bin zuversichtlich, dass das auch passiert und wir anderen Menschen, die das im Ehrenamt machen, beratend zur Seite stehen können. Die Ehrenamtlichen wissen oft nicht, wie sie eine Veranstaltung barrierearm gestalten sollen. Das ist ja auch nicht billig und da muss man sich reinfuchsen. Ich bin froh über die AG Selbst Aktiv, die auch die Unterstützung von Expert*innen, von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen hat. Frauen wollen nicht auch alleine kämpfen, sondern als Gesellschaft.

Sarah Friedeberg

Danke. Anieke möchte sich noch anschließen.

Anieke Fimmen

Ich wusste lange nicht, dass es eine solche Arbeitsgemeinschaft gibt in unserer Partei. ich fragte mich dann irgendwann, ob ich so ein Extragremium überhaupt gut finde, ob ich es gut finde, so offensiv mit meiner Behinderung umzugehen, Aber ich merke jetzt, was die AG Selbst Aktiv als Sprachrohr erreichen kann. Gut, dass auch in die Gesellschaft rein getragen wird, welche Schwierigkeiten Menschen mit Behinderung haben. Das von mir.

Sarah Friedeberg

Ich würde jetzt Mechthild das Wort geben, um über die Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft durch die SPD zu sprechen.

Mechthild Rawert

Als Landesvorsitzende der AG Selbst Aktiv freut es mich, dass wir auch in Tempelhof-Schöneberg eine bezirkliche AG Selbst Aktiv gründen. Zur Durchsetzung von Interessen müssen wir Interessenvertreter*innen sein, wir müssen Druck machen. Von alleine ändern sich Strukturen nicht, egal ob es sich um eine Partei, einen Betrieb oder die Gesellschaft handelt.

Bleiben wir beim Thema Interessenvertretung. Zur Zeit werden die Wahlprogramme geschrieben und zwar für die Kommunen, was in Berlin die Bezirke sind, für das Land Berlin und für den Bund. Eure Äußerungen, ob jemand im Rollstuhl abgehalten wird sich zu engagieren, weil es keine Räumlichkeiten gibt, zeigt: Es darf keine nicht-barrierefreien Neubauten geben. Es geht nicht nur darum eine Wohnung zu finden, ich möchte ja auch meine Freunde und Freundinnen in ihren Wohnungen besuchen können. Es betrifft ja nicht nur die Partei, sondern jedes andere Engagement auch: Ich muss immer einen Zugang haben, sonst bin ich vom Engagement ausgeschlossen. Ich setze mich stark dafür ein dafür Sorge zu tragen, dass mehr Gebäude aber auch das jeweilige Umfeld barrierefrei werden. Es nützt ja nichts, wenn die Wohnung im 5. Stock vielleicht erreichbar ist, aber ich erst gar nicht ins Haus komme. Wir brauchen grundsätzlich mehr Barrierefreiheit.

Zu einem anderen Beispiel, das sogenannte Barrierefreiheitsgesetz. Dieses soll in einigen Jahren Geltung erlangen. Hierzu ein Beispiel: Was nutzt mir ein Bankomat, wenn ich da nicht rankomme. Oder denken wir an einen blinden Menschen: Wie kommt der an sein Geld? Es gibt viele Situationen, wo sich Menschen ohne Beeinträchtigungen keine Gedanken machen und denken, ihre Perspektive ist die allumfassende, ist sie aber nicht. Wir müssen perspektivenreicher denken und handeln.

Wichtig ist zu wissen: Nur 3% der Beeinträchtigungen sind angeboren oder zeigen sich bereits im ersten Lebensjahr. Alle anderen 10 Millionen Menschen mit Schwerbehindertenausweis haben ihre Beeinträchtigungen im Laufe ihres Lebens erworben.

Nun wollte ich noch mal diskutieren, wie die SPD als Inklusionspartei nach draußen wirkt. Eine der wichtigen Aufgaben von Parteien ist, durch gesetzliche Strukturen dafür Sorge zu tragen, dass alle Aspekte der UN-BRK oder auch der Istanbul-Konvention umgesetzt werden. In welchem Bereich möchtet ihr, dass die SPD sich jetzt sofort für Gleichstellung einsetzt?

Regine Laroche

Du hast es eigentlich schon gesagt, die Barrierefreiheit. Die privaten Anbieter sind verstärkt in die Pflicht zu nehmen. Würde das Barrierefreiheitsgesetz umfassend umgesetzt, wäre das ein Riesenschritt für die Inklusion. Es gibt in anderen Ländern - die USA sind ein gutes Beispiel - ja gute Vorbilder. Die gute Umsetzung der Regelungen des European Accessibility Act (EAA) wäre ein Meilenstein. Wir dürfen hier nicht nachlassen.

Wichtig ist auch das Thema Arbeitsmarkt: Wir reden seit Jahren über die Ausgleichsabgabe, und man hört immer: Wir dürfen die arme Wirtschaft nicht belasten. Das sind zwei Themen, wo wir nicht nachlassen und uns nicht einwickeln lassen dürfen. Die richtige Umsetzung würde so viel bewegen für die Inklusion in Deutschland.

Sasa Raber

Ich kann auch in das Horn blasen, Barrierefreiheit im privaten Sektor ist wichtig, weil das Leben sich ja auch im privaten Bereich abspielt. Wichtig ist, dass es mehr Informationen in Leichter Sprache gibt. Ich finde auch, die Breite der Behinderungen, die es in unserer Gesellschaft gibt, dass diese so gar nicht wahrgenommen werden. Das muss auf jeden Fall besser werden. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es in anderen Ländern besser geht. Daher bin ich optimistisch, dass wir das auch schaffen können. Deshalb mache ich in der SPD auch mit. Inklusion ist immer noch ein großes Thema.

Ein großer Wunsch von mir ist, dass jeder Neubau barrierefrei sein muss. Er muss einen Aufzug haben, da ich anders nicht klarkomme, anders kann ich vieles im Alltag nicht wahrnehmen. Wichtig ist auch eine barrierefreie Verwaltung. Wenn ich überlege, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, da kann ich viele Tätigkeiten nicht aufnehmen, weil ich keine Treppen steigen kann. Auch hier muss bezüglich der Leichten Sprache noch mehr getan werden. Es ist ein großer Batzen, wo Politik stark in der Verantwortung steht.

Und ein weiterer Punkt, der mir wichtig wäre, ist aus geschlechterspezifischer Sicht das Thema: Medizin für alle. Im Forschungsbereich werden Frauen in Studien oft ganz ausgeschlossen, weil sie teuer sind, da sie schwanger werden können. Das ist eine Sache, die auch bei uns im Bundewahlprogramm stehen sollte. Das ist wichtig, weil so viele Medikamente uns Frauen in der Prüfungsphase ausschließen. Wir sind somit im Anschluss ein bisschen wie Testobjekte. Frauen sollten in den Forschungen genauso vertreten sein wie Männer.

Mechthild Rawert

Ich kann das alles nur unterschreiben. Das sind wichtige und große Felder, die es zu ändern gilt. Es ist richtig zu sagen und viele tun dieses auch: „Ich bin nicht behindert, ich werde durch das Umfeld behindert“.

Wir haben zeitlich nun leicht überzogen, aber die Diskussion war es wert. Ein weiteres für alle Interessensvertreter*innen wichtiges Credo lautet: „Nichts über uns ohne uns“. Seien wir mutig, bringen wir in unser politisches und gesellschaftliches Umfeld die Interessen von Menschen mit Beeinträchtigungen ein. Auch andere agieren als Interessensvertreter*innen. ich freue mich auf den weiteren guten Verlauf des Frauentages 2021.

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