Abgegebene Stimmen: 548. Davon mit Ja: 548 Stimmen. Ein solch 100 Prozent-Ergebnis kannte auch Wolfgang Thierse (SPD), Bundestagsabgeordneter seit 1990 und Vize-Präsident des Deutschen Bundestages, noch nicht. Was ist an diesem Freitag, den 09. November, geschehen?
In namentlicher Abstimmung hat der Deutsche Bundestag heute überfraktionell die Praxisgebühr abgeschafft. Ab dem 01. Januar 2013 müssen weder bei der ÄrztIn noch bei der ZahnärztIn 10 Euro „Eintrittsgebühr“ bezahlt werden.
Wer glaubt, dieses „einmalige Ereignis“ beruhe auf der Überzeugungskraft der schwarz-gelben Bundesregierung, irrt! Erst vor einigen Wochen wurde die Abschaffung der Praxisgebühr im Plenum diskutiert und von den CDU/CSU- und FDP-Fraktionen abgelehnt. Seit Monaten schmorten die Anträge der Oppositionsparteien im Ausschuss - und die schwarz-gelben Koalitionsfraktionen haben immer wieder eine Beschlussfassung verhindert. Kein Wunder: Deutlich geworden wäre der unüberwindbare Graben zwischen Schwarz und Gelb. Erst der Kuhhandel auf dem Koalitionsgipfel am 04. November hat es möglich gemacht: Die FDP bekommt ihre „Praxisgebühr“, die CSU ihr unsinniges Betreuungsgeld. Die CDU schluckt die Kröten, hat sie doch andere Deals gemacht.
Misstrauisch macht mich: Obwohl Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) die Unsinnigkeit der privat zu zahlenden Praxisgebühr einsieht, verweist er in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag zeitgleich darauf, "dass es auch im Gesundheitswesen sinnvolle Eigenbeteiligungen braucht". Ich befürchte, er plant weitere einfach nur andere private Zuzahlungen, wie es mit der „Kopfpauschale“, mit den Individuellen Gesundheitsleistungen ja bereits geschieht. Wer also glaubt, die FPD sei plötzlich im besten Sinne sozial und liberal geworden sei, unterliegt einer täuschenden Nebelkerze.
Fachlich gilt: Die 2004 - nach der „glücklichsten Nacht“ von Horst Seehofer - eingeführte Praxisgebühr hat nicht die erwartete Steuerungswirkung gezeigt. Zudem gilt sie vielen als zu bürokratisch. Außerdem wurde das Ziel, mit der Eigenbeteiligung der PatientInnen die Arztbesuche zu reduzieren nicht erreicht. Die Krankenkassen sollen jetzt die mit der Praxisgebühr erwirtschafteten zwei Millionen Euro aus dem Gesundheitsfonds erhalten.
Der heutige Beschluss zur Abschaffung der Praxisgebühr muss noch den Bundesrat passieren. Mit einer Zustimmung ist aber zu rechnen.