Hauptmenü

Opfern von Unrecht und Ausbeutung in der Heimerziehung wirksam helfen

Millionen Zuschauer haben den vom ZDF gedrehten Film "Und alle haben geschwiegen" gesehen, haben das Schicksal von ehemaligen Heimkindern erlebt. Grundlage war das Enthüllungsbuch „Schläge im Namen des Herrn“ von SPIEGEL-Autor Peter Wensierski, der 2006 aus der Perspektive der Opfer beschreibt, wie es war, pädagogisch schlecht oder gar nicht ausgebildeten ErzieherInnen und AufseherInnen ausgeliefert zu sein. Viele Mädchen und Jungen wurden verprügelt, etliche waren sexueller Gewalt ausgesetzt.

Unter uns leben über eine Million Menschen - rund 800.000 in Westdeutschland, rund 300.000 in „Ostdeutschland“ - die als Opfer der Heimerziehung der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975 und der Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990 Unrecht und Leid erlitten haben. Wie leben diese Kinder jetzt? Welche Möglichkeiten einer Entschädigung haben die jetzigen RentnerInnen? Wo können sie hin, wo wird ihnen geholfen - Fragen über Fragen.

Bis Ende Juni 2013 wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen Bericht zum Stand der Umsetzung der Empfehlungen des „Runden Tisches Heimerziehung“ vorlegen. Das hat die Bundesregierung auf meine Schriftliche Anfrage „Entschädigung für ehemalige Heimkinder in Ost und West“ bestätigt. Schade, dass sich aufgrund der anstehenden Sommerpause und des Wahlkampfs niemand von uns intensiv mit diesem Bericht beschäftigen können wird. Dabei rennt den vielen sich mittlerweile im Rentenalter befindlichen Menschen einfach die Zeit davon, Entschädigungen zu beantragen oder sich zumindest mit wichtigen Phasen des eigenen Lebens auseinander zu setzen. Das darf so nicht bleiben.

Maßnahmenbündel zur Rehabilitierung für unschuldig erlittenes Leid der Heimkinder
Der Deutsche Bundestag hat sich zwischen 2006 und 2011 intensiv mit den zahlreichen Rechtsverstößen und dem unschuldig erlebten Leid der damaligen Heimkinder auseinandergesetzt. Viele leiden bis heute unter gesundheitlichen Schädigungen, der mangelnden Schul- und Berufsausbildung oder den Auswirkungen der ausbeuterischen Zwangsarbeitseinsätze ohne Renteneinzahlungen.

2009 wurde der Runde Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ (RTH) eingerichtet, der sich mit der Situation in allen Heimen auseinandersetzte. Abschließend schlug der RTH ein Maßnahmenbündel zur Rehabilitierung von Geschädigten vor. Die Empfehlungen des Runden Tisches „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ hat der Deutsche Bundestag im interfraktionellen Antrag „Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerziehung wirksam helfen“ vom 8. Juni 2011 (Drucksache 17/6143) zusammengefasst. Dazu gehören:

  • die „Einrichtung von niedrigschwelligen Anlauf- und Beratungsstellen“, wie es beispielsweise die „Berliner Anlaufstelle, Beratungsstelle und Treffpunkt für ehemalige Heimkinder“ in Friedenau ist;
  • die Einrichtung eines „Fonds-Heimerziehung“, der beispielsweise die Realisierung rehabilitativer Maßnahmen für Prävention und Zukunftsgestaltung umfasst sowie finanzielle Maßnahmen zugunsten der Betroffenen ohne Renteneinzahlungen und Transferleistungen, oder für überindividuelle Aufarbeitung, Prävention und Zukunftsgestaltung sowie die Einrichtung regionaler Anlauf- und Beratungsstellen für die Betroffenen beinhaltet.

„Berliner Anlaufstelle, Beratungsstelle und Treffpunkt für ehemalige Heimkinder“ in Friedenau
Die Berliner Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder ist verkehrsgünstig gelegen in der Fregestr. 38 A, 12161 Berlin-Friedenau. Träger ist die GskA, gemeinnützige Gesellschaft für sozial-kulturelle Arbeit mbH. Beraten werden hier ehemalige Heimkinder, die jetzt in Berlin wohnen. Neben der Beratung werden darüber hinaus in enger Absprache Angebote entwickelt, die es den Betroffenen ermöglichen, verborgene Wünsche zu identifizieren und gegebenenfalls zu realisieren. Zwischenzeitlich hat sich auch eine Selbsthilfegruppe gegründet.

Hier war ich am 7. Mai 2013 mit Dr. Herbert Scherer, dem Kommissarischen Leiter, verabredet - und es wurde ein sehr aufschlussreiches, ein für mich sehr eindringliches Gespräch. Hier einige der angerissenen Themen:

1) Mangelnde Personalressourcen führen zu einjährigen Warteterminen
Derzeit muss ein ehemaliges Heimkind, mittlerweile RentnerIn, ein Jahr auf einen Termin für die Beratung warten. Das liegt an mangelnden Ressourcen und ist nicht der Tatsache geschuldet, dass hier sowohl für den Fonds Heimerziehung Ost wie West-beraten wird.

Jetzt beantragte Termine für Erstgespräche finden folglich erst im Mai 2014 statt. Die Terminnot ist vorhanden, obwohl von den über 800.000 zwischen Kriegsende und 1975 in westdeutschen Heimen untergebrachten Mädchen und Jungen erst wenige Tausend Anlauf- und Beratungsstellen aufgesucht haben.

Die hauptamtlichen Ressourcen reichen nicht aus, dankenswerterweise arbeiten jetzt auch 12 Ehrenamtliche hier.

2) Antragsfristen der Entschädigungsfonds, West wie Ost, sind zu knapp bemessen
Beim Fonds „Heimerziehung West“, der mit einem Gesamtvolumen von 120 Millionen Euro ausgestattet ist, können betroffene Personen bis zum 31. Dezember 2014 Vereinbarungen treffen, Leistungen müssen bis zum 31. Dezember ausgezahlt werden.

Der Fonds „Heimerziehung Ost“ ist mit 40 Millionen Euro ausgestattet. Auszahlungsende ist hier der 30. Juni 2016. Die Stiftung soll dann beendet werden.

Herr Scherer bat darum, die Stiftungsdauer und vor allem die Antragsdauer für West grundsätzlich zu verlängern, mindestens aber an das Auszahlungsende Ost anzugleichen. Wenn dieses nicht geschähe, hätten Hundertausende keine Chance auf Beantragung und Auszahlung. Der Druck sei jetzt schon angesichts von tausenden AntragstellerInnen viel zu groß. Eine solche Angleichung würde auf keinen Fall den Topf sprengen und Angst vor einer neuen Neid-Debatte (West-Ost-Spannungen) brauche auch niemand zu haben.

3) Unzureichendes Matching zwischen den Anspruchsberechtigten und dem Leistungsangebot
Die erlittenen Unrechts- und Ausbeutungserfahrungen, sowie die vorenthaltenen Bildungschancen haben laut Herrn Scherer bei vielen dazu geführt, dass ihr Leben aus der Bahn geworfen wurde. Krisendienste, Obdacheinrichtungen, soziale und gesundheitliche KooperationspartnerInnen müssen für diese lebensbiographische Phase sensibilisiert werden. Denn ein signifikant hoher Anteil der Wohnungs- bzw. Obdachlosen sind ehemalige Heimkinder. Viele verdrängen diese Lebensphase, was sich so manches Mal an anderen Symptomen zeigt. Für diesen Identifizierungsprozess bedarf es wiederum kompetenter Personalressourcen.

Bei jedem dieser im Heim großgewordenen Kinder hat die damalige Form der Heimerziehung Spuren in der individuellen Identitätsentwicklung hinterlassen. Bei einigen äußert sich diese so, dass sie auf keinen Fall in ein Pflegeheim wollen. Aus Sicht von Herrn Scherer geht es daher insgesamt eher um Versöhnung als um Entschädigung.

4) Parallele Evaluationen der Lebensbiographien von AntragstellerInnen finden nicht statt
Die Heimerziehung in den Jahren der frühen Bundesrepublik hatte schon Anfang der 70 Jahre gesellschaftspolitische Brisanz. Erinnert wurde an den Film „Bambule“ von Ulrike Meinhof, der die autoritären Methoden der Heimerziehung brandmarkt.

Herr Scherer möchte eine „richtige Aufarbeitung“ mit einer qualitativen wissenschaftlichen Begleitung des Fondsgeschehens und die Einbeziehung der neuen Erkenntnisse aus den Tausenden Berichten von Betroffenen: Er möchte eine Aufarbeitung der Zeitgeschichte, möchte eine sozialwissenschaftlich, eine pädagogische Forschung, die unter anderem Antworten auf die kurz- und langfristigen Wirkungen der Fondsleistungen für die Betroffenen hat. Was sind nachhaltige Effekte?

5) Fragen über Fragen:

  • Was passiert nach dem Antragsschluss?
  • Welche Beratungsangebote bzw. Kommunikationsmöglichkeiten werden (müssen) über die Laufzeit der Fonds hinaus aufrecht erhalten, oder gibt es ein abruptes Ende?
  • Welche Angebote hat das Gesundheitswesen für die spezielle Gruppe zu gestalten?

Ich werde mich an die Bundesregierung mit weiteren Fragen, etc. wenden, um Antworten auf offene Fragen zu finden.