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Rede: Rechte intersexueller Menschen stärken

Am Vorabend des Internationalen Tages gegen Homophobie und Trans*phobie sind am 16. Mai im Deutschen Bundestag die Anträge der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke debattiert worden. Meines Wissens nach ist der Deutsche Bundestag weltweit das erste Parlament, in dem über ein explizites Verbot von medizinisch nicht notwendigen „geschlechtsändernden“ bzw. „geschlechtsangleichenden“ Operationen an inter-sexuellen Kindern und Jugendlichen debattiert wird. Operationen dürfen nicht ohne die ausdrückliche Zustimmung erfolgen.

In meiner Rede habe ich darauf hingewiesen, dass die bisherige Praxis elementar gegen das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde verstößt. Wir brauchen einen gesetzlichen Rechtsrahmen, der Schutz gewährleistet und Diskriminierungen und Benachteiligungen beendet.

Ich bedauere es, dass es im Vorfeld nicht möglich war, sich auf einen interfraktionellen Antrag zu verständen (alle Reden: Plenarprotokoll 17/240, Anlage 11, S. 30485 bis 30490). Aus diesem Grunde glaube ich leider nicht mehr, dass es noch in dieser Legislaturperiode zu einem entsprechendem gesetzlichen Regelwerk kommen wird. Ich kann Ihnen aber versprechen: Rot-Grün wird nach der Wahl am 22. September einen Rechtsrahmen schaffen, der das Selbstbestimmungsrecht von inter-sexuellen, von mehrgeschlechtlichen Menschen stärkt:

Rede am 16. Mai 2013 anlässlich der 1. Lesung der Anträge SPD „Rechte intersexueller Menschen stärken“ Antrag Linksfraktion „Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren“ Antrag Bündnis90/Die Grünen „Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren“:

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr Herr Präsident
werte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Anwesende auf den Tribünen und vor den Fernsehern,

heute geht es um ein sehr wichtiges Thema: Es geht darum, Diskriminierungen und Stigmatisierungen von intersexuell, von mehrdeutig geschlechtlich geborenen Menschen endlich zu stoppen. Es geht darum, für alle Bürgerinnen und Bürger das Recht auf Selbstbestimmung und auf die Anerkennung der eigenen sexuellen Identität zu gewährleisten. Ich bin dankbar, dass sich an diesem gesellschaftlichen Aufklärungsprozess alle drei Oppositionsparteien mit eigenen Anträgen beteiligen – auch wenn ich es bedauere, dass es nicht möglich war, sich im Vorfeld auf einen gemeinsamen interfraktionellen Antrag zu verständigen. Und an die CDU/CSU und FDP gewandt: „Mitgefühl“ reicht nicht aus, um einen adäquaten Rechtsrahmen zum Schutz und zur Selbstbestimmung zu schaffen. Wir sind hier im Deutschen Bundestag der Gesetzgeber. Die Menschen erwarten von uns Taten, erwarten konkrete Regelungen. Dass sie sich dieser Aufgabe bei diesem Thema entziehen, enttäuscht mich und andere.

Nichtsdestotrotz bin ich froh, dass es diese Debatte hier im Deutschen Bundestag überhaupt gibt.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten treten mit unserem Antrag „Rechte intersexueller Menschen stärken“ dafür ein, dass sowohl ein geeigneter Rechtsrahmen als auch die notwendige psychosoziale Infrastruktur geschaffen wird, mit der die bisherigen physischen und psychischen Eingriffe, Diskriminierungen und Stigmatisierungen gestoppt und die gesellschaftliche Akzeptanz intersexueller Menschen und ihrer Rechte gefördert werden.

Der Deutsche Ethikrat hat mit seiner am 23. Februar 2012 im Auftrag der Bundesregierung veröffentlichteten Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen in Deutschland die Debatte zur Verbesserung der Lebenssituation intersexueller Menschen sehr forciert. Der Deutsche Ethikrat ist der Auffassung, dass intersexuelle Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen. Zudem müssen sie vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt werden.

Ich empfehle Ihnen, diese Stellungnahme als auch die Diskussionen des Online-Dialoges nachzulesen. Gleiches gilt für die Stellungnahmen der Öffentlichen Anhörung des Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 25. Juni 2012, in der alle Sachverständigen festgestellt haben: „Intersexualität ist keine Krankheit“.

In der Vergangenheit hat die Haltung „Intersexualität ist eine Krankheit“ dazu geführt, dass zumeist schon sofort nach der Geburt radikale medizinisch geschlechtszuweisende Operationen erfolgten. Ziel war es, die Norm der Zweigeschlechtlichkeit von „männlich“ und „weiblich“ im wahrsten Sinne des Wortes „herzustellen“. Dadurch haben viele intersexuelle, mehrgeschlechtlich geborene Menschen großes physisches und psychisches Leid erfahren und leiden darunter auch noch heute. Mittels dieser geschlechtszuweisenden Operationen und der damit verbundenen langandauernden Hormonbehandlungen wurde das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung bei intersexuell geborenen Menschen verletzt. Dies wurde auf meiner Fraktion vor Ort-Veranstaltung „Intersexuelle Menschen anerkennen - Selbstbestimmung im Identitätsgeschlecht“ am 4. September 2012 mit vielen Bürgerinnen und Bürgern, mit Mitgliedern der LGBTI-Community und BetroffenenvertreterInnen in meinem Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg auch sehr deutlich.

Das Fazit war: Niemand hat das Recht jemandem ein Geschlecht zuzuweisen. Eine inklusive Gesellschaft muss auch mehrdeutig geschlechtliche, intersexuell geborene Menschen mit einschließen. Und: „Mit der richtigen politischen Einstellung ist alles möglich!“ - Pedro Muratián, der Beauftragte der argentinischen Regierung gegen Diskriminierung, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus (INADI). Auch in anderen Ländern kämpfen intersexuelle Menschen seit langem um Respekt und um gesellschaftliche Anerkennung. In Argentinien wird uns vorgemacht, wie die freie Wahl der Geschlechtsidentität gewährleistet werden kann:

Auf Grundlage eines Antidiskriminierungsplans wurde in Argentinien zunächst systematisch analysiert, wo gesellschaftliche Diskriminierungen stattfinden. Im Anschluss wurden eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, um Diskriminierungen auf allen Ebenen zu bekämpfen. So dürfen gleichgeschlechtliche Ehepaare heiraten und Kinder adoptieren - ein Ziel, welches wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für die Bundesrepublik noch nachdrücklich anstreben. Seit Mai 2012 gibt es in Argentinien das Gesetz „Das Recht des Menschen auf Geschlechtsidentität“. Dieses erhöht die öffentliche Wahrnehmung von intersexuellen Menschen als gleichberechtigte Mitglieder der argentinischen Gesellschaft. Es gibt keine kosmetischen OP´s im Säuglings- und Kindesalter mehr. Kinder werden nicht mehr zwangsweise einem Geschlecht zugeordnet. Jede Person entscheidet zu einem späteren Zeitpunkt des Lebens selbst welcher Eintrag im Pass vorgenommen werden soll. Möglich bleibt aber der Zugang zu Operationen und/oder Hormonbehandlungen, die für die Versicherten kostenfrei sind. Minderjährige haben das Recht, ihr Geschlecht, ihren Namen frei zu wählen. Auch Personen aus dem Ausland, die in Argentinien leben, können ihr Geschlecht oder ihren Namen ändern. 

In den vergangenen Monaten haben wir uns in der SPD-Bundestagsfraktion arbeitsgruppenübergreifend intensiv mit der Herausforderung der Gestaltung eines die Selbstbestimmung und das Recht auf körperliche Unversehrtheit gewährenden Rechtsrahmens sowie der Schaffung der notwendigen psychosozialen Infrastruktur für Intersexuelle beschäftigt.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern die Bundesregierung mit unserem Antrag „Rechte intersexueller Menschen stärken“ unter anderem dazu auf:

  • irreversible geschlechtszuweisende und geschlechtsanpassende Operationen an minderjährigen intersexuellen Säuglingen und Kindern vor deren Einwilligungsfähigkeit zu verbieten,
  • sicherzustellen, dass dem ausdrücklichen Wunsch intersexueller minderjähriger Jugendlicher nach geschlechtszuweisenden Operationen Rechnung getragen wird, unter der Voraussetzung der Einwilligungsfähigkeit,
  • zügig für eine Präzisierung des vom Deutschen Bundestag am 31. Januar 2013 verabschiedeten Personenstandsrechts-Änderungsgesetz (Drs. 17/10489) zu sorgen,
  • bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass die Fristen für die Aufbewahrung der Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich auf mindestens 40 Jahre ab Volljährigkeit verlängert werden und intersexuellen Menschen ein ungehinderter Zugang zu ihren Krankenakten gewährleistet wird,
  • bei den Ländern außerdem darauf hinzuwirken, dass das Thema Intersexualität fester Bestandteil der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern und vor allem in allen Gesundheitsfachberufen wird,
  • sicherzustellen, dass intersexuelle Menschen stets in ein qualifiziertes interdisziplinäres Kompetenzzentrum zur Diagnostik und Behandlung vermittelt werden,
  • eine Forschungsstudie in Auftrag zu geben, die das an intersexuellen Menschen begangene Unrecht dokumentiert,
  • dem Bundestag bis zum 31. Dezember 2015 ein Bericht vorzulegen ist.

Wir alle müssen lernen, dass nicht jedes Kind eindeutig als „weiblich“ oder „männlich“ geboren wird. Die Norm der Zweigeschlechtlichkeit ist zu überwinden. Als Gesellschaft tragen wir Verantwortung dafür, dass Säuglingen unnötige geschlechtszuordnende Operationen erspart bleiben. Den Eltern muss von Anfang an mit begleitender Beratung Unterstützung angeboten werden. Ärzte und Ärztinnen brauchen bessere Informationen. Nur mit vielfältigen differenzierten Maßnahmen wird eine Enttabuisierung gelingen, die Benachteiligung und Diskriminierung intersexueller Menschen zu stoppen, Vielfalt zu akzeptieren, sie zu fördern und zu lieben.

Ich freue mich auf die Diskussionen in den Ausschüssen und lade Sie alle dazu ein, diese intensiv zu begleiten.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.