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Die Zukunft der Pflege liegt im Quartier

Thema der Altenheim EXPO 2013 war „Die Zukunft der Senioren- und Pflegeimmobilien: Planen - Finanzieren - Betreiben“. Der jährlich ausgerichtete Kongress richtet sich an TeilnehmerInnen aus dem Bereich Heimmanagement, Heimträgern, Investoren und Architekten. Lebhaft diskutiert wurden Anforderungen zur Öffnung der stationären Einrichtungen und die Stärkung kommunaler Steuerungskompetenzen.

Über die Herausforderungen einer Politik zur Gestaltung der Zukunft der stationären Pflege in einem ambulantisierten Markt debattierten die DiskutantInnen aus der Pflegepraxis und -wissenschaft, aus Wirtschaft und Politik bei der abschließenden Podiumsdiskussion am 3. Juli im Hotel Intercontinental. Moderatoren waren Steve Schrader und Holger Göpel, Redaktion Politik & Markt, Vincentz Network Hannover, und Rolf Gennrich, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter des Institut für Altenwohnbau und Qualitätsmanagement GmbH (INFAQT). Mein erster Eindruck: Noch sind die mit der Altenheim EXPO angesprochenen Zielgruppen stark „in Männerhand“.

Mittels interaktivem TED-System gab das Auditorium zu Beginn der Diskussion den Aufschlag: Auf die Frage, inwieweit das von Schwarz-Gelb zum 01. Januar in Kraft gesetzte Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) positiv wahrgenommen werde oder ob sie von diesem ehr enttäuscht seien, antworteten nur 22 Prozent mit positiv wahrgenommen. 78 Prozent waren von diesem enttäuscht. Auf die Frage von welcher Regierungskonstellation in der kommenden Legislaturperiode für die Altenhilfe mehr zu erwarten sei, antworteten 8 Prozent von „Schwarz-Gelb“ und 17 Prozent von „Rot-Grün“. 73 Prozent antworteten mit „weder noch“.

Mit Fragen nach dem am 27. Juni vorgelegten und bereits stark kritisierten „Bericht des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ und der Einschätzung zum nicht erfolgten Pflegeberufegesetz ging´s gleich in media res. „Wir sind pflegepolitisch in dieser schwarz-gelben Legislaturperiode nicht weitergekommen. Für Pflegebedürftige, für pflegende Angehörige, für Pflegefachkräfte sind es vier verlorene Jahre“, dieser Bewertung meinerseits wurde nicht widersprochen. Der politische Handlungsdruck für jede kommende Regierung ist daher riesig.

Die SPD-Bundestagsfraktion hat das Konzept „Für eine umfassende Pflegereform: Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe stärken“ vorgelegt. Darin wird deutlich, dass es zum einen um die Finanzierung der Pflege geht, dass „Pflege und Teilhabe“ aber viel viel mehr ist. Die anstehenden Herausforderungen für eine inklusive Gesellschaft betreffen unter anderem föderale Fragen, betreffen die Stadtentwicklungs- und Wohnungsbauförderung, Ausbildungs- und Weiterbildungsstrukturen, betreffen die Organisation spezifischer lokaler Arbeitsmärkte und grundlegend auch die Schaffung attraktiver Arbeitsplätze auf allen Gebieten der Versorgung, Betreuung und Pflege.

Kommunen als Organisatoren sozialräumlicher Pflege
Gerade die Kommunen stehen vor der großen Herausforderung, eine sozialräumliche Pflege zu organisieren. Dafür müssen sie aber auch in die Lage versetzt werden, fordert Prof. Dr. Thomas Klie von der Evangelische Hochschule Freiburg. Es brauche einer Klärung von cure (Fachpflege, Medizin, Therapie) und care (Familie, Assistenz, Hauswirtschaft, Soziale Arbeit, Förderung der Teilhabe), von Pflege und Sorge. Es brauche der Klärung, was leisten Pflegefachkräfte, was leisten aber auch andere auf dem lokalen Arbeitsmarkt, was leisten ehrenamtlich Tätige? Wie kann Nachbarschaft gestärkt werden? Auch Dieter Hackler, Leiter der Abteilung 3 "Ältere Menschen" im BMFSFJ fordert: Pflege gehört in die Mitte der Gesellschaft. Pflegeinstitutionen müssen sich für diese öffnen.

Damit die Kommune ein aktiver Ort der Zivilgesellschaft werden und zum Ort einer lebendiger Bürgergesellschaft wird, braucht sie mehr Steuerungskompetenzen. Auch das Leistungsrecht muss neu geordnet werden - darauf verweist auch die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Positionspapier. Nur mit umfassenden Strukturreformen im Bereich der Pflege als auch der Teilhabe wird es Kommunen ermöglicht, eine öffentliche Infrastruktur zu schaffen, die den Herausforderungen des demographischen Wandels gerecht wird und eine inklusive Gesellschaft fördert.

Attraktive Arbeitsplätze für Pflegefachkräfte
Intensiv diskutiert wurden auch die Arbeitsbedingungen für Pflegefachkräfte. Ich will unser Konzept der „Guten Arbeit“ auch in der Pflege realisieren. Pflegefachkräfte wollen „Gute Pflege“ leisten, wollen lieber „besser pflegen als gut dokumentieren“, so auch Prof. Klie. Unstrittig ist: Jeder Bürger, jede Bürgerin hat einen Anspruch auf eine gute Fachpflege. Damit diese auch gewährt werden kann, schlägt Herr Hackler die Festlegung „typisierter Pflegeleistungen“ vor, die mit Kosten hinterlegt werden können. So kann berechnet werden, was „die Pflege“ koste, unabhängig davon, ob diese stationär oder ambulant erfolge.

Selbstkritisch wurde festgestellt, dass sich hinsichtlich Arbeitskultur und Arbeitsbedingungen in den Pflegeeinrichtungen noch viel zu wenig geändert hat. Nicht eine niedrige Bezahlung in der Altenhilfe führe in erster Linie zur Arbeitsplatzunzufriedenheit sondern unbefriedigende Arbeitsplatzstrukturen. Um jedem Menschen eine soziale Teilhabe zu ermöglichen, bedürfe es der „sorgenden Gemeinschaft“ (Hackler) in einer Einrichtung ebenso wie in der gesamten Gesellschaft. Dieses könne nicht von Pflegefachkräften alleine umgesetzt werden.

Aktive Bürgergesellschaft
Dr. Bodo de Vries, Vorstand des Evangelischen Johanneswerks, Bielefeld, formuliert als Erwartung an die Politik: Um den Wandel hin zur stärkeren ambulanten Pflege und Versorgung zu gestalten, müsse Politik sich für ein „Verbot der stationären Pflege“ aussprechen. Gemeint war der Neubau etc. von stationären Einrichtungen. Obwohl ich den schon von Ulla Schmidt, vormalige Bundesgesundheitsministerin (SPD), formulierten Grundsatz „ambulant vor stationär“ selber mit Überzeugung vertrete, habe ich mich gegen ein staatliches Verbot ausgesprochen. Zu unübersichtlich sind die Rechtsfolgen und die mit Sicherheit erfolgenden Klagen von Pflegeeinrichtungen betreibenden Trägern und Investoren.

Deutlich formulierte de Vries den Anspruch, dass Politik von den Älteren und Alten einen gesellschaftlichen Beitrag einfordern müsse. „Nachbarschaftshilfe als Verhaltenserwartung“ sei die notwendige Devise. Der Zugewinn gesunder Lebensjahre sei eine gesellschaftliche Ressource, auf die zurückzugreifen ist. Nur mit neuen Arrangements zwischen Fachkräften einerseits und Ehrenamtlichen, freiwillig Engagierten andererseits, nur mit starkem bürgerschaftlichen Engagement seien die demografischen und sozialen Herausforderungen zu bewältigen.

Den demografischen Wandel als Chance zu sehen und allen Teilhabe und eine würdevolle Pflege zu gewährleisten ist sozialdemokratische Haltung. Hierzu hat am 02. Juli Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (SPD) zusammen mit Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, das 10 Punkte-Programm „DIE DEMOGRAFISCHE CHANCE NUTZEN: Für eine gerechte Pflegereform“ vorgelegt. Uns geht es dabei darum, Pflege zu vermeiden und Selbstständigkeit und Teilhabe bis ins hohe Alter zu ermöglichen.

Axel Hölzer, Vorsitzender der Geschäftsführung Cura Unternehmensgruppe aus Berlin, schlug - nicht unwidersprochen - eine Bedarfsplanung für die Pflege vergleichbar der Bedarfsplanung der niedergelassenen ÄrztInnen vor. Pflegeleistungen müssten stärker lizenziert werden. Dafür seien Kriterien zur Qualitätssicherung zu entwickeln.

Mein Fazit: Zumindest auf dem Podium herrschte Einigkeit darüber, dass die stationäre Pflege nur dann eine Zukunftschance hat, wenn sie ihre Einrichtungen öffnet, offen für die Nachbarschaft ist. Ein Modell der Zukunft sind auch Genossenschaften. Partizipative Teilhabe ist nur vor Ort auf kommunaler Ebene möglich. Diese zu gestalten ist eine große Herausforderung für alle Ebenen der Politik.