„Wird Deutschland kurz vor dem Ende des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan immer noch am Hindukusch verteidigt?“ war die erste Frage nach den Ausführungen von Adrienne Woltersdorf zur politischen und wirtschaftlichen Situation in Afghanistan. Seit 2011 leitet Woltersdorf das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul. Die Journalistin, die lange für die taz (die tageszeitung) in Washington tätig war, berichtete Mitgliedern und FreundInnen des AFGHAN e.V. über die aktuelle Situation in Afghanistan. Der Afghanisch-Deutsche Förderverein für Gesundheit, Handwerk und Ausbildung - AFGHAN e.V. - in Berlin-Schöneberg unterstützt seit mehreren Jahren Schulprojekte in Afghanistan.
Zur internationalen Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) gehören der aktive Aufbau und die Konsolidierung zivilgesellschaftlicher und staatlicher Strukturen. Das bedeutet die Förderung des politischen Dialogs zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren, zwischen verschiedenen Kulturen und Gesellschaftsmodellen. Zentral ist die Stärkung freier Gewerkschaften. Auf diese Weise sollen Demokratie und soziale Gerechtigkeit gestärkt werden.
Adrienne Woltersdorf lebt mit ihrem Mann, der als Journalist tätig ist, in Kabul. Seit Anfang des Jahres ist alles durch strenge Sicherheitsvorkehrungen geprägt, ein freies Bewegen in der Stadt ist ebenso wie das Zusammensein zwischen „Internationalen“ und Einheimischen nicht mehr möglich. Die meisten Restaurants haben zugemacht. Zwar sei Kabul eine wohlgesicherte Stadt, ein Anschlag pro Tag finde aber dennoch statt. Die Skepsis gegenüber „dem Westen“ sei bei vielen gestiegen.
Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft
Das Jahr 2014 habe mit Hoffnung auf eine friedliche und demokratische Machtübernahme gestartet. Der Präsidentschaftswahlkampf ist beendet, hat aber kein eindeutiges Ergebnis erbracht. Erst nach langen Verhandlungen und dem Druck der internationalen Gemeinschaft haben sich die beiden Präsidentschaftskandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine „Regierung der nationalen Einheit“ geeinigt. Beide haben vereinbart, die Macht fair zu teilen, beide sind für den Prozess der Versöhnung, die Reintegration der „Aufständischen“ verantwortlich. Die Lösung wurde erst durch die Schaffung der neuen nicht in der Verfassung stehenden Funktion CIO, Chef der Administration, möglich.
Die Regierungsbildung in Kabul zeige auch, wie schwierig es ist, Demokratie zu lernen. Zur Demokratie gehört auch, dass nicht nur das Prinzip „the winner takes all“ zur Geltung kommt, sondern dass auch die Rechte der Minderheit gewahrt bleiben.
Nach dem Abzug der Kampftruppen 2014 wird sich die internationale Staatengemeinschaft im Rahmen einer zehnjährigen "Dekade der Transformation" für Afghanistan engagieren. Dabei geht es insbesondere um die Schaffung von wirtschaftlicher Stabilität. Seitens der Vertreter Afghanistans war schon 2011 auf der Bonner-Konferenz die Sorge mitgeteilt worden, dass das Geld, welches die internationalen Staaten zur Finanzierung der afghanischen Streitkräfte und der Polizei investiert haben, vor Ort fehlt. Ein Teil wird nun zumindest wieder vor Ort investiert. Die Staatengemeinschaft wird auch weiterhin finanzielle Hilfen zur Finanzierung des Sicherheitsapparates und der Behörden aufbringen (müssen).
Das ist auch nötig, da es in Afghanistan keine starke Wirtschaft gibt. Investoren würden aber da nicht investieren, wo es keine Sicherheit gibt. Der Truppenrückzug führt zu massiven Arbeitsplatzverlusten. In Afghanistan herrsche eine sogenannte „Bubble Economy“, nur ca. 7 Prozent des Landes habe eine Stromversorgung. Viele junge Menschen verdingen sich bei den Taliban, da diese ihnen u.a. aufgrund der Drogenökonomie ein Einkommen geben können. „Manchmal machen für eine Rekrutierung diese 100 Dollar den Unterschied.“
„To do-Liste“ der neuen Regierung
Die Afghanen haben für den Friedensprozess, an dessen Ende ein "souveränes, sicheres und geeintes" Afghanistan stehen müsse, die Federführung. Die politische Transformation ist ein komplexer Prozess. Angesichts der augenblicklichen Stärke der Taliban stellt sich die Frage „Warum sollten diese verhandeln?“. Bekämpft werden muss die Korruption und die Drogenökonomie. Die Wahlgesetze müssen alle noch reformiert werden. Eine Budgetreform muss stattfinden - viele der Distriktgouverneure hätten 1 Jahr lang kein Gehalt bekommen. Die Funktion der Polizei muss gestärkt werden - von vielen BürgerInnen werde diese eher als Bedrohung empfunden. Auch ist unklar, wie die Rentenzahlungen für die Witwen und Waisen gezahlt werden. Afghanistan muss auf der internationalen London-Konferenz am 25. November ein vollständiges Kabinett vorstellen.
Deutschland wird auch heute noch am Hindukusch verteidigt
Innerhalb Afghanistans sind 3-4 Millionen Menschen auf der Flucht. Der Winter naht - eine große Herausforderung auch für die internationale Staatengemeinschaft. Es fehlen gute Alphabetisierungsmaßnahmen und gute Berufsausbildungsstrukturen. Es fehlen strategische Investitionen insbesondere in den Energie- und Transportsektor.
In Deutschland muss darüber aufgeklärt werden, dass es nicht nur um Afghanistan, sondern um die gesamte krisengeschüttelte Region – u.a. China, Indien, Iran, Pakistan, Russland - geht. Afghanistan, ein aufgrund seiner Bodenschätze durchaus kein armes Land, habe zu fast allen Nachbarländern, die meisten Atommächte, schwierige regionale Beziehungen. Über das Bergbaugesetz werde aber seit Jahren gestritten. Wenn eine Wirtschaft funktionieren soll, muss Handel mit den Nachbarn ermöglicht werden. Afghanistan sei so was wie ein Schlussstein in einer instabilen Region. Wenn dieser falle, sind die Folgen unabsehbar.
Afghanistan ist ein Transitland. Eine der größten staatlichen Einnahmequellen sind die Überflugrechte. Die entsprechenden Radargeräte sind mit Hilfe Deutschlands installiert worden. Deutschland genießt in Afghanistan nach wie vor ein großes Vertrauen.
Sehr positiv sei die Mediengesetzgebung, die gerade ihren „Praxistest“ durchläuft. Es gibt zahlreiche unabhängige Medien. Auf dem Pressefreiheitsindex der Organisation "Reporter ohne Grenzen" liegt Afghanistan heute vor seinen Nachbarstaaten Indien, Pakistan und Usbekistan.
Adrienne Woltersdorf ist der Meinung: Ja auch heute noch gilt es Deutschlands Interessen am Hindukusch zu verteidigen - nicht militärisch, sondern als politischer Prozess.