In Berlin lebten Ende 2013 22.490 Menschen mit vietnamesischem Migrationshintergrund, davon 14.241 vietnamesische und 8.149 eingebürgerte deutsche StaatsbürgerInnen. Viele von ihnen leben in Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg. In der öffentlichen Wahrnehmung tauchen VietnamesInnen nicht als eine mit Problemen belastete bzw. Probleme machende Gruppe auf. Sie sind unauffällig, Sie arbeiten hart. Sie schicken Geld nach Hause und ihre Kinder aufs Gymnasium. Und sie interessieren sich leider wenig für die Gesellschaft, in der sie leben. „Vietnamesen sind sehr anpassungsfähig“, …. „Das ist ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche. Sie geben sich sehr leicht auf. Wenn sie aber nicht gerade illegal hier eben, sind es die besten Deutschen.“, so eine Beschreibung in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit der Überschrift „Vietnamesen in Deutschland Aus einen unsichtbaren Land“. Welche der allgemeinen Zuschreibungen - fleißig und leise, und die Kinder sind gut in der Schule - stimmen oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis.
Erschrocken hat mich, dass mir nicht mehr bewusst war, dass es sich bei den rassistisch motivierten Angriffen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 sowohl um eine Zentrale Aufnahmestelle für AsylbewerberInnen als auch ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische VertragsarbeiterInnen gehandelt hat. An den Ausschreitungen beteiligten sich mehrere hundert teilweise rechtsextreme Randalierer und bis zu 3.000 applaudierende ZuschauerInnen. Das Wohnheim, in dem sich noch über 100 VietnamesInnen befanden, wurde damals mit Molotowcocktails in Brand gesteckt.
Vietnamesisches Berlin
In Berlin leben bereits seit einigen Jahrzehnten viele Menschen aus Vietnam. In den Achtzigern rekrutierte die DDR VertragsarbeiterInnen aus dem Norden Vietnams, die zumeist in den Fabriken arbeiteten. Eine Integration der ArbeiterInnen war nicht vorgesehen. Kaum Sprachkurse, wenig Ausbildung. Viele der heute Älteren über 60 Jahre sprechen ein gebrochenes Deutsch. Nach dem Mauerfall hatten viele lange Zeit keinen Aufenthaltsstatus.
Nach dem Vietnamkrieg wurde Nord- und Südvietnam 1975 zur Sozialistischen Republik vereint. Im Vorfeld flüchteten viele Menschen aus dem Süden aus Angst vor Repressalien nach West-Berlin und Westdeutschland, wo sie als die sogenannten „Boatpeople“ ankamen. Sie wurden als Asylberechtigte anerkannt, bekamen Sprachförderung und eine Arbeitserlaubnis. Eine Studie zur vietnamesischen Diaspora in Berlin im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit kam zu dem Schluss, diese ZuwandererInnen hätten sich „überwiegend reibungslos integriert“ .
Im wiedervereinten Berlin gibt es zwei vietnamesische Gemeinschaften. Sie haben eine gemeinsame Geschichte, die im Grunde viergeteilt ist: Zwischen Ost und West in Deutschland und Süd und Nord in Vietnam. Die Gräben des Vietnamkriegs sind selbst im heutigen Berlin nicht überwunden, eine einheitliche Community existiert nicht. Möglicherweise hat diese Geschichte zu einem hohen Anpassungsdruck geführt: „Seid fleißig, und fallt bloß nicht auf!“.
Die Gruppe der Vietnamesinnen und Vietnamesen wird erst seit Oktober 2005 näher in der sozialen Angebotsstruktur, vornehmlich in der Nachbarschaftsarbeit berücksichtigt. Seit 2007 werden Fachtage zu unterschiedlichen Themen Bildung, Ausbildung, Gesundheit und auch Älterwerden durchgeführt. Das „Vietnamesische Berlin“ versteht sich dabei als ein Forum des Austauschs, das sowohl an Fachkräfte aus dem Regelversorgungssystem, freie Träger im Sozial- und Gesundheitswesen als auch an Vereine und Akteure der vietnamesischen Community gerichtet ist.
Junge VietnamesInnen auf dem Weg zu MitbürgerInnen
Für Integrationsvereine wie die Reistrommel e.V., einem anerkannten Träger der freien Jugendhilfe, gibt es viel zu tun. Zielgruppe sind vietnamesische Kinder und Jugendliche, die im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen oder hier geboren wurden. Diese leben täglich in zwei unterschiedlichen Kulturen und haben oftmals Schwierigkeiten, die Widersprüche in ihren Lebensräumen zu erkennen und zu überwinden. Vietnamesische Kinder und Jugendliche müssen viel in der Familie helfen. Häufig gibt es an den Wochenenden, wenn sie frei haben, keine Freizeitangebote, die ihre Eltern akzeptieren. In diese Lücke zielt das Freizeit- und Bildungsangebot am Wochenende. Vereint werden Bildung und Freizeit, so dass die Eltern ihren Kindern den Besuch erlauben. Die Jugendlichen können Türöffner für die verbesserte Integration der ganzen Familie werden.
Modellprogramm NIAnova
Am 12. Februar 2015 besuchten mich Tamara Hentschel und Thi Lan Huong Nguyen, Reistrommel e.V., Nozomi Spengemann, Verband für interkulturelle Arbeit (VIA), Regionalverband Berlin/Brandenburg e.V., sowie Gerald Speckmann, QM und OE - Beratung für Migrantenorganisationen, im Deutschen Bundestag. Sie stellten das mehrstufige Modellprogramm NIAnova vor, das beim Verein Reistrommel angesiedelt ist. Zusammen mit verschiedenen Akteuren des Arbeitsmarkts wie Berliner Jobcenter, Bezirke, Senatsprojekte, zukunft im zentrum etc. will NIAnova der Verbesserung der Lebensbedingungen und der Vorbereitung auf ein nachhaltiges Empowerment durch Arbeit speziell für Menschen mit Migrationshintergrund dienen.
Die Menschen aus Vietnam, die heute nach Berlin kommen, bringen andere Migrationsbiografien mit: Es sind vor allem junge Menschen vom Land, die vor der Armut und der schlechten Bildung in den Dörfern ihrer Heimat flüchten und über Eheschließungen nach Deutschland kommen.
Zielgruppe von NIAnova sind vor allem die über 2000 Frauen, die über Schlepperbanden nach Deutschland gelotst wurden und häufig in sehr engen sozialen Verhältnissen in Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg leben. Um die Frauen aus diesen Verhältnissen rauszuholen, wurde ein deutsch-vietnamesisches Team von SozialarbeiterInnen, PädagogInnen und ArbeitsmarktexpertInnen von mehreren Trägern gebildet, die als erstes Arbeitsmarktprojekt mehrsprachige Aktivierungsmaßnahmen in familienfreundlicher Teilzeit anbieten. Mit dem Modellprojekt sollen richtungsweisende Erkenntnisse für ähnliche Projekte entwickelt werden.
Aktuelle Situation von Vietnamesinnen in Marzahn-Hellersdorf und Berlin 2014
Im Vorfeld des Programms wurde eine Studie durchgeführt. Die „Ergebnisse der Befragung zur Erfassung der aktuellen Situation von Vietnamesinnen in Marzahn-Hellersdorf und Berlin 2014“ wurden von Thi Lan Huong Nguyen vorgestellt:
Von den vietnamesischen MigrantInnen leben in Marzahn-Hellersdorf 3.439, davon 1.222 über 18jährige Frauen, von denen wiederum 714 alleinstehend sind. Der Anteil der Kinder, insbesondere der unter 6 Jahren, ist in beiden Bezirken hoch. Von den in Lichtenberg lebenden 6.461 MigrantInnen sind 2.393 über 18jährige Frauen.
Von den befragten Frauen sind über die Hälfte alleinstehende Frauen mit einem Mittelschulabschluss. Zweidrittel der von ihnen beziehen ALG I oder ALG II. Auffällig ist, dass ein großer Teil der Frauen keinen Zugang zu Regelangeboten sozialer Arbeit hat, auch der Besuch von Beratungsstellen ist gering. Allerdings verfügen rund 70 Prozent von ihnen über fast keine bzw. über sehr begrenzte deutsche Sprachkenntnisse. Die allermeisten Frauen unter 50 leben bereits seit über sechs bzw. 10 Jahren in Berlin leben. Das heißt aber wiederum nicht, dass sie über eine Niederlassungserlaubnis verfügen. „Sprache“ wird als häufigstes Problem genannt, gefolgt von Gesundheit und Arbeitslosigkeit.
Um diese Frauen an die bestehenden Regelangebote heranzuführen braucht es den Aufbau niedrigschwelliger kultursensibler Angebote.
Ich bin gerne bereit das Projekt NIAnova - Niedrigschwellige Integration und Aktivierung - mit seinen Einzelmaßnahmen zu unterstützen: Kultursensible Kompetenzerschließung und Training und die dazugehörige berufliche Erprobung sowie das Kultursensible Einzelcoaching.