Die Bundesregierung hat in der laufenden Legislaturperiode mit dem Rentenpaket, dem Pflegestärkungsgesetz und dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz bereits einige Vorhaben auf den Weg gebracht, die sich auch auf die medizinische Rehabilitation auswirken. Das alleinige Fortführen des insgesamt bewährten Rehabilitationsmodells - die mehrwöchige einrichtungsgebundene Komplexleistung - reicht angesichts des demografischen Wandels, Fachkräftemangel und neuer Forschungsergebnisse nicht aus. Auch neue Konzepte zur medizinischen Reha sind gefragt.
Die Diskussion zu bewährten und neuen Rahmenbedingungen als auch Konzeptionen standen daher im Mittelpunkt des von der DEGEMED - Deutsche Gesellschaft für medizinische Rehabilitation - organisierten Hauptstadt-Dialogs „Medizinische Rehabilitation 2020“ am 14. April 2015 im Science Center Berlin (Otto Bock). Die Veranstaltung wurde moderiert von Ulrike Steinecke, langjährige Vorsitzende des Deutschen Verbandes für Physiotherapie - Zentralverband der Physiotherapeuten/Krankengymnasten (ZVK) e. V.
Aus Sicht der DEGEMED bestehen für die zukunftsgerichtete Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation in Deutschland vier zentrale Aufgabenfelder in der medizinischen Rehabilitation:
„1. Zugangsbarrieren zur medizinischen Rehabilitation bei der Gesetzlichen Krankenversicherung durch ein Direktverordnungsrecht der niedergelassenen Ärzte beseitigen.
2. „Reha vor Pflege“ stärken durch Beseitigung der Schnittstellenprobleme zwischen Gesetzlicher Krankenversicherung und Sozialer Pflegeversicherung.
3. Bedarfsgerechte Versorgung in der Gesetzlichen Rentenversicherung sicherstellen - derzeitige Budgetsystematik verändern.
4. Leistungsgerechte und transparente Vergütung schaffen“.
Erfordernis einer Partnerschaft auf Augenhöhe
In seiner Eröffnungsrede verwies Prof. Bernd Petri darauf, dass Partnerschaft auf Augenhöhe in der Rehabilitation zwischen allen Akteuren eine dringende Notwendigkeit sei: Die Renten-, Kranken- und Unfallversicherung müssen ihr Leistungsversprechen gegenüber den Versicherten einlösen. Petri ist Mitglied der Geschäftsführung der gesetzlichen Unfallversicherung VBG und Vorsitzender von DEGEMED. Es komme darauf an, für die Versicherten schnellstmöglich hochwertige medizinische Reha-Leistungen bereitzustellen. Deshalb sind Reha-Träger und Reha-Einrichtungen - unabhängig von ihrer öffentlichen, frei-gemeinnützigen oder privaten Trägerschaft - aufeinander angewiesen. Dafür brauche es stabile, auch gesetzliche, Rahmenbedingungen, um die notwendigen Leistungen in den Einrichtungen zu organisieren.
Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zu einem transparenten Teilhaberecht
Den aktuellen Sachstand der Reformvorhaben des Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellte Dr. Rolf Schmachtenberg vor: das Bundesteilhabegesetz und der dazugehörige Aktionsplan, die Neugestaltung des Sozialen Entschädigungsrechts (SER), die Reform der Schwerbehindertenvertretung, das Behindertengleichstellungsgesetz. Gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) müssen sich alle Sozialgesetzbücher weg von der Fürsorge hin zu mehr Teilhabe orientieren. Das Ziel, dass alle Menschen mit und ohne Behinderungen von Anfang an gleichberechtigt und selbstbestimmt miteinander leben können, sei allerdings nicht mit einem großen Schritt zu erreichen.
Er verwies auf den grundlegenden Zielkonflikt der Bundesregierung: Erhöhung des Selbstbestimmungsrechts im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) einerseits und das Brechen der finanziellen Ausgabendynamik andererseits. Die Brutto-Ausgaben der Eingliederungshilfe sind vom Jahr 1994 bis zum Jahr 2012 von 6,3 Milliarden Euro um 8,8 Milliarden auf 15,1 Milliarden Euro gestiegen. Dies entspricht einer Steigerung von rund 130 Prozent. Ein Ende des Anstiegs aufgrund der ebenfalls rasant ansteigenden Zahl von EmpfängerInnen - u.a. bedingt durch die demographische Entwicklung - ist derzeit nicht abzusehen.
Leistungen für Menschen mit Behinderungen sind in nahezu allen Sozialgesetzbüchern geregelt. Die Praxis zeigt uns: In vielen Fällen geht wichtige Zeit für die Betroffenen verloren, weil die Regelungen zur Zusammenarbeit des SGB IX nicht hinreichend greifen. Trotz eines § 14 SGB IX werden Zuständigkeitsstreitigkeiten nach wie vor auf dem Rücken der betroffenen Menschen mit Behinderungen ausgetragen. Hier muss mit einem Bundesteilhabegesetz u.a. durch neue Zuständigkeitsregelungen und neue Bedarfsfeststellungsverfahren Abhilfe geschaffen werden.
Die Eingliederungshilfe muss zu einem transparenten Teilhaberecht weiterentwickeln werden, in der der Mensch mit seinen behinderungsspezifischen Bedarfen im Mittelpunkt steht. Im SGB IX bedarf es einer größeren Verbindlichkeit und Verlässlichkeit insbesondere in der Umsetzung bei trägerübergreifenden Fallgestaltungen. Reibungsverluste an den Schnittstellen zwischen den Reha-Trägern müssen abgebaut und das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen gestärkt werden.
Ein weiteres Ziel der Reform ist die Entlastung der Kommunen durch den Bund. Über den finanziellen Betrag und über die Form finden noch zahlreiche Diskussionen statt. Derzeit wird über 580 Millionen Euro - ohne Einkommens- und Vermögensausgleich - debattiert.
Die Chancen der Realisierung des im Koalitionsvertrag enthaltenen Prüfauftrags für ein sogenanntes „Bundesteilhabegeld“ - eine bedürftigkeitsunabhängige und nicht auf andere Sozialleistungen anrechenbare einheitliche Geldleistung - sieht Rolf Schmachtenberg skeptisch. Unabhängig vom Finanzrahmen ist dieses auch in Bezug auf die Bestimmung des anspruchsberechtigten Personenkreises nicht konfliktfrei zu bewältigen.
Das BMAS nimmt den Anspruch der Zivilgesellschaft „Nichts ohne uns über uns!“ sehr ernst. Daher sind etliche Beteiligungsprozesse organisiert worden, um gemeinsam Grundlagen für Gesetzesarbeiten zu entwickeln. Am 14. April 2015 hat die Arbeitsgruppe Bundesteilhabegesetz, der VertreterInnen von Verbänden, Leistungsträgern, Sozialpartnern, Bund, Ländern und Kommunen angehören, zum neunten und letzten Mal getagt. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe sind öffentlich zugänglich. Noch in dieser Legislaturperiode soll die Eingliederungshilfe mit einem Bundesteilhabegesetz reformiert und die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen gemäß der UN-BRK verbessert werden.
Die laufenden Diskussionen über den Ansatz und die Reichweite des beabsichtigten personenzentrierten Vorgehen, über Rahmenbedingungen für ein trägerübergreifendes Denken und über „Reha regional“ prägen die Rahmenbedingungen für eine Rehabilitationsmaßnahme. Deshalb sei ein Austausch wie heute von hoher Bedeutung.
Bessere Qualität durch mehr Vernetzung
Am Beispiel der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR) erläuterte Thomas Keck, dass ein personenzentriertes Verfahren mehr Vernetzung zwischen den verschiedenen Sozialversicherungsträger und den Reha-Einrichtungen erfordert. Keck ist erster Direktor der Deutschen Rentenversicherung Westfalen. Gefordert sei eine „Zusammenarbeit auf Augenhöhe“, in der alle Beteiligten das Ziel verfolgen sollen, die versicherte Person gemäß der individuellen Bedürfnisse zu begleiten bis diese wieder im Erwerbsleben angekommen ist. Die Bedeutung der Reha steigt - unter anderem aufgrund der demografischen Entwicklung und der daraus resultierenden Notwendigkeit, Menschen ein längeres und gesünderes Arbeiten zu ermöglichen. Die aktuelle „Säulenorientierung“ der einzelnen Leistungsträger sei häufig ein Hemmnis.
(Zur Information: Die medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation (MBOR) stellt eine spezifische Form der medizinischen Rehabilitation dar, welche in Diagnostik und Therapie über den gesamten Rehabilitationsprozess hinweg auf die konkrete Arbeits- und Berufswelt von Rehabilitanden mit besonderen beruflichen Problemlagen ausgerichtet ist. Diese Weiterentwicklung des traditionellen Rehabilitationsangebotes weist zwei Grundfunktionen auf. Primäres Bestreben ist die wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der bereits geminderten Erwerbsfähigkeit. Sofern dieses Ziel nicht erreicht werden kann, also bereits im Verlauf der Rehabilitation erkennbar wird, dass der bisherige Arbeitsplatz trotz der MBOR-Kernangebote nicht wieder eingenommen werden kann, steht die möglichst nahtlose Überleitung in erforderliche nachfolgende Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Vordergrund.)
Thomas Keck mahnte, dass eine medizinische Rehabilitation mehr ist als die klassische dreiwöchige Intervention. Eine moderne Reha-Maßnahme müsse eingebettet werden in eine Behandlungskette, an der viele Akteure beteiligt sind. Hier spielt die Koordination die entscheidende Rolle. Einzelne Modellprogramme verdeutlichen: Wenn die versicherte Person keinen nachhaltigen persönlichen Nutzen wie beispielsweise eine Arbeitsfähigkeit oder ein höheres Selbstwertgefühl für sich in der Reha-Maßnahme erkennt, führen die durchgeführten Leistungen häufig zu keiner Wirkung hinsichtlich einer Lebensstiländerung. Manche Erkrankte seien „lebenslang zu rehabilitieren“, wichtig sei, dass die erkrankte Person im gesellschaftlichen (arbeits-)Prozess verbleibe, die einzelne Person dürfe nicht in die „Separation“ geraten. Dies erfordere ein gutes Case-Management, Nachsorge, Berufliche Integration und weitere Versorgung.
Es gilt die Reha-Ziele „Reha vor Rente“ und „Reha vor Pflege“ dauerhaft zu erreichen und nachhaltig zu sichern. Es braucht „KümmerInnen“. Hier sind die Leistungserbringer besonders gefordert. Sie müssen bereits während der Leistung die Integration und die weitere Versorgung im Anschluss an die Reha organisieren.
Prävention vor Reha vor Pflege
Der Grundsatz „Prävention vor Reha vor Pflege“ ist sozialrechtlich verankert. Das machte ich in meinem Impulsreferat deutlich. So lange wie möglich leistungsfähig zu sein, ist wichtig – für uns Einzelne, aber auch in der volkswirtschaftlichen Rechnung. Jeder Mensch will gute Lebensqualität, will so lange wie möglich gesund leben und an der Gesellschaft teilhaben.
Maßstab ist ein solidarisches Miteinander. Dies zu fördern, liegt in der geteilten Verantwortung der Beteiligten: der verschiedenen Berufsgruppen wie ÄrztInnen, PhysiotherapeutInnen, Pflegekräfte sowie der Rehaträger, der Kostenträger, des Medizinischen Dienstes, der Politik.
Notwendig ist die Erhöhung der Inanspruchnahme von Reha-Maßnahmen, eine bessere und einfachere Organisation der Zugänge zur Versorgung. Dort, wo Menschen nicht von allein in der Lage sind, sich alles zu organisieren, muss mehr aufsuchende bzw. aktivierende Arbeit seitens der Sozialversicherungsträger geleistet werden.
Eine besondere Verantwortung tragen wir alle gemeinsam hinsichtlich der Leistungsausweitungen für die zunehmend größer werdende Gruppe der MigrantInnen der 1. Generation. Gerade für sie ist eine stärker „aufsuchende und aktivierende Arbeit“ von hoher Bedeutung.
Einigen Forderungen aus dem Koalitionsvertrag ist die Politik im Mai 2014 mit dem „Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz)“ schon nachgekommen: So wurde das Reha-Budget unter Berücksichtigung des demografischen Wandels angepasst, damit die gesetzliche Rentenversicherung in Zukunft die notwendigen Rehabilitations- und Präventionsleistungen an ihre Versicherten erbringen kann. Auch mit dem Pflegestärkungsgesetz1 und dem geplanten Pflegestärkungsgesetz 2 mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und dem neuen Begutachtungsassessment wird die Rehabilitation ebenfalls gestärkt. Gleiches gilt für das sich in der parlamentarischen Beratung befindliche GKV-Versorgungsstärkungsgesetz und das Präventionsgesetz.
Wir prüfen die Schnittstellen zwischen SGB V und SGB XI im Hinblick auf die konsequente Umsetzung der Grundsätze ambulant vor stationär und Prävention vor Rehabilitation vor Pflege. Wir wollen die Finanzierungsverantwortung dort verorten, wo der Nutzen entsteht. Wir prüfen die Beteiligung der Pflegeversicherung an den Kosten der geriatrischen Rehabilitation. Dass derjenige Sozialversicherungsträger, der von einer Vermeidung der Pflegebedürftigkeit profitiert, sich an den Kosten beteiligt, halte ich für sachgerecht. Verschiebebahnhöfe sind zu beseitigen.
In meiner BürgerInnensprechstunde höre ich immer viel Kritik zu den Reha-Empfehlungen. Ein Vorwurf lautet, der Medizinische Dienst würde zu wenige Empfehlungen aussprechen. Auch ich bin der Meinung, dass der Anteil der Empfehlungen für eine Rehabilitation bei den Pflegebegutachtungen steigerungsfähig ist. Der MDK hatte diesbezüglich selber ein Gutachten von Prof. Rothgang erstellen lassen - "Reha XI - Erkennen rehabilitativer Bedarfe in der Pflegebegutachtung des MDK; Evaluation und Umsetzung“. Das Gutachten zielte darauf ab, mehr Transparenz über das Vorgehen bei der Erkennung rehabilitativer Bedarfe in der Pflegebegutachtung des MDK zu gewinnen, Stärken und Schwächen des derzeitigen Vorgehens herauszuarbeiten und Ansatzpunkte für Verbesserungsmöglichkeiten in einen Gute-Praxis-Standard zu integrieren. Dieses hat gezeigt, dass Optimierungsmöglichkeiten bei der praktischen Umsetzung im MDK bestehen - bei der Schulung der Ärzte und bei der Organisation zwischen Ärzten und Pflegekräften. Vieles sei mehr ein Umsetzungsproblem als ein Problem der gesetzlichen Vorgaben.
Forschung zu den Wirkungen einer Reha
Prof. Dr. Edwin Toepler referierte Ergebnisse eines Forschungsprojektes zum Outcome von Reha-Maßnahmen. Es geht um die Hebung von Qualitätspotentialen, die Steigerung der Wirksamkeit von Reha-Maßnahmen und die Entwicklung und Umsetzung von Innovationen. Vorgetragen wurden auch Effekte der Rehabilitation hinsichtlich der Entwicklung der Rentenversicherungsbeiträge.
Fragen waren unter anderem
- wie der weitere Verlauf der Beitragsmonate für die untersuchte Rehabilitandenstichprobe aussieht, ob die Beitragsquote im zweiten Jahr nach der Reha wieder ansteigt,
- wie der Reha-Nutzen aus PatientInnensicht erhöht werden kann und ob es Unterschiede hinsichtlich patientInnenbezogener Prozesse bei den Kliniken mit hohem/weniger hohem subjektivem PatientInnennutzen gibt.
Anschließende Diskussion
- Um berufliche Erfolge nach einer MBOR abzusichern, braucht es ein Case-Managing.
- Beklagt wird, dass sich die Umsetzungen der verschiedenen Sozialgesetzgeber ehr mehr auseinandergehen anstelle eine gemeinsame Philosophie und Umsetzungsstrategien zu entwickeln.
- „Reha vor Pflege“ finde viel zu wenig statt.
- Die Zahlen der geriatrischen Reha gehen zurück
- Es bedürfe eines Fallmanagements zur Klärung der Rolle der Leistungsträger einerseits und der Leistungserbringer andererseits
- Beklagt wird, der MDK sei nicht unabhängig sondern „Sachverwalter der Kassen“. Vorgeschlagen wird, den MDK direkt aus dem Gesundheitsfonds zu finanzieren.
- Eine Reha lohnt sich.
- Auszubauen ist eine „präventive Rehabilitation“, auszubauen ist eine aktivierende soziale Sicherung.
Immer wieder wurde auf die Notwendigkeit einer stärkeren Vernetzung und Zusammenarbeit hingewiesen. Gerade im Rahmen des Entlassmanagements sind durch ein besseres Fallmanagement der passgenaue Übergang von Akutkrankenhaus zu einer Reha-Einrichtung und zum anderen der reibungslose Weg von der Reha zurück ins alltägliche Leben und in die Berufswelt zu stärken. Nur so kann eine dauerhafte Qualitätsverbesserung in der Betreuung für PatientInnen und Versicherte an der Nahtstellen Akutkrankenhaus / Reha-Klinik erreicht werden.
v.l.n.r. Thomas Keck, Ulrike Steinecke, Prof. Bernd Petri, Dr. Rolf Schmachtenberg, Mechthild Rawert und Prof. Dr. Edwin Toepler