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Pflege als genderpolitische Herausforderung in Deutschland

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Frauen die Familien- und Pflegearbeit so oft alleine leisten. Frauen steht ein gerechtes Stück vom Kuchen zu, von den Löhnen und von den Karrierechancen. Es braucht eine bessere Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, aber auch eine Ausweitung formeller Angebote, welche die Angehörigen weiter entlasten. Das machte ich bei der Veranstaltung „Frauen in der Pflege“ der Berliner Frauenbund 1945 e.V. deutlich. Der Berliner Frauenbund 1945 e.V. , einer der ältesten Frauenverbände Berlins, hatte mich am 21. Oktober 2015 eingeladen. Und wie üblich wurde die Diskussion sehr informativ und lebhaft. Dies liegt an der hohen Motivation und dem großen Engagement der Anwesenden, die über hohe Kompetenzen und ein breites Erfahrungsrepertoire in der Beratung bzw. dem Management in sozialen Dienstleistungsberufe verfügen. Einige haben selbst auch viele Erfahrungen als pflegende Angehörige gesammelt.

Care Work ist Teil der Wirtschaft

Dass es biologische und soziale Geschlechterunterschiede gibt, ist ein alter Hut - dass diese Unterschiede zumeist zu Lasten der Frauen gehen, leider auch. Denken wir nur an die breite Themenpalette, auf die wir anlässlich der jährlichen Internationalen Frauentage, dem Equal Pay Day oder dem internationalen Aktionstag für Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen aufführen. Dabei wird immer wieder auf die Ungleichheiten, mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung und ungerechte Entlohnung hingewiesen.

„Geschlechtergerechtigkeit in herausfordernden Zeiten“ lautete das Thema der 24. Jahreskonferenz der Internationalen Gesellschaft feministischer Ökonominnen (IAFFE) vom 16.-18. Juli 2015 an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin-Schöneberg. Über 380 ÖkonomInnen und WissenschaftlerIinnen aus aller Welt diskutierten in über 150 Vorträgen und interdisziplinären Diskussionsrunden die ganz großen Fragen der Weltpolitik: die Euro-Krise, Griechenland, ökologische Krisen und damit verbundene gesellschaftspolitische Herausforderungen in Schwellenländern, Migration und Flucht - und eine Vision vom guten Leben für alle, nicht zuletzt für Frauen.

Zu den großen Themen gehörten auch die Transformation des Wohlfahrtsstaates und der demographisch bedingte Pflegenotstand. Die international renommierte amerikanische Wissenschaftlerin Dr. Joan Tronto, Professorin für Politik und Geschlechterstudien an der University of Minnesota, stellte in ihrem Vortrag „Migrant Care Work & the Global Political Economy“ die besondere Bedeutung der Pflege- und Fürsorge als ökonomisches und soziales Projekt heraus. „Frauen verlassen arme Länder, um Leute im reichen Westen zu pflegen“, es gebe einen „Care Drain“, eine „Pflege-Abwanderung“. Die Migrationsströme der Moderne seien ein ethisches und ein ökonomisches Problem. Pflege brauchen alle Menschen auf der Welt. Was also laut Tronto tun? „Wir müssen uns endlich dekolonisieren. Die demokratischen Staaten müssen Verantwortung für Care als soziale Aufgabe aller für alle übernehmen.“

Fakt ist: Care, also das Sorgen für die Bedürfnisse von Menschen, kostet. Leider werde Care als zentraler Bestandteil der Ökonomie von der herkömmlichen Wirtschaftswissenschaft geleugnet. Dabei liegen nach Meinung vieler Ökonominnen heute hier gerade die entscheidenden Konflikte: Wer trägt die Kosten der Care-Arbeit? Wer leistet diese Arbeit unter welchen Bedingungen? Die gesellschaftliche Herausforderung reicht viel weiter als nur bis zur familiären Umverteilung zwischen den Geschlechtern. Es gehe beispielsweise auch um die Umverteilung zwischen privaten Haushalten und öffentlichen Institutionen oder zwischen Armen und Reichen. 

Care als genderpolitische Herausforderung in Deutschland

Hierzulande wird noch immer allzu selbstverständlich angenommen, dass die Pflegebranche auch in Zukunft ein Frauenbeschäftigungssektor bleibt. Diese Annahme bewirkt eine trügerische Sicherheit. Ja, derzeit leisten Frauen die meiste Pflegearbeit: als pflegende Angehörige, als ehrenamtlich Tätige, als professionelle Pflegefachkräfte. Auf einen biologisch sicheren Zugang sollte sich unsere Gesellschaft aber nicht verlassen. Es sind folglich auch überwiegend Frauen, die diesen Sektor bereits nach wenigen Jahren den Rücken zukehren. Auch die jungen Frauen bemängeln die Rahmenbedingungen in der Pflege, bemängeln eine unzureichende Umsetzung ihrer Fachlichkeit, bemängeln generell mangelnde Karrieremöglichkeiten. Der Männeranteil in der Pflegeausbildung steigt erfreulicherweise. Während diese anschließend vorwiegend im Akutpflegebereich und als Führungskräfte arbeiten, wird die Langzeitpflege überwiegend von Frauen ausgeübt. Auch die pflegenden Angehörigen die in der Pflege tätigen Ehrenamtlichen sind zumeist Frauen.

Herausforderung: soziale Sicherung für Frauen als pflegende Angehörige

In der Angehörigenpflege erleben viele Frauen der sogenannten Sandwich-Generation einen Spagat zwischen Erwerbsarbeit, Kindern und der Pflege von Angehörigen - mit psychischen und sozialen Folgen sowie Folgen für die berufliche Karriere. Zwar steigt die Zahl der Männer, die Verantwortung in der Pflege übernehmen, aber in der Regel erst, wenn sie bereits selbst das Rentenalter erreicht haben. Außerdem pflegen Männer zumeist ihre PartnerInnen, Frauen sind auch schon in der Rolle als „liebende (Schwieger-) Tochter“ intergenerativ tätig:  

  • Laut einer Allensbach-Studie sind die Frauen der Sandwich-Generation zwischen 40-59 Jahre alt; leisten erst „Hotel Mama“, dann „Residenz Tochter“ - mit allen Konsequenzen auch für die spätere eigeneständige Rente.
  • Es handelt sich um rund eine Million Frauen.
  • Etwa 66 Prozent der Frauen erledigen die Familienarbeit mehr oder weniger allein, kommt die Aufgabe der Pflege hinzu, verschärft sich die Situation: 82 Prozent der pflegebedürftigen Angehörige werden von Frauen gepflegt.

Mit den Pflegestärkungsgesetz I und II - unternehmen wir Verbesserungen sprich Entlastungen gerade die pflegenden Angehörigen. Die Inanspruchnahme formeller Angebote in der Pflege wird aller Voraussicht nach zunehmen. Gerade mit dem sich noch in der Beratung befindlichen PSG II wird die Pflegeversicherung künftig für einen deutlich größeren Personenkreis Rentenbeiträge entrichten (Mehrausgaben von 407 Mio. Euro pro Jahr) und auch in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Trotz der umfangreichen Verbesserungen, die wir in dieser Legislaturperiode zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf vornehmen – auch mit dem Familienpflegezeitgesetz- bleibt diese in der Gesellschaft des längeren Lebens eine politische Daueraufgabe. Angehörigenpflege darf nicht überfordern. Sie muss sowohl in den eigenen Lebenslauf als auch in den Alltag integrierbar sein.

Im Laufe des politischen Beratungsprozesses zum Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf hat auch KOBRA, ein Projekt des Berliner Frauenbundes, eine Stellungnahme unter Bezugnahme auch der Berliner Situation abgegeben. Zu dem am 1. Januar 2015 in Kraft getretenen Familienpflegezeitgesetz und Pflegezeitgesetz wird festgestellt: „Gesetzliche Grundlagen verändern eine Situation für die Betroffenen nur dann, wenn sie auch in Anspruch genommen werden können. Aktuell bleibt zu befürchten, dass Unternehmen das Gesetz nicht ausreichend akzeptieren werden, weil es nicht für alle Beschäftigten gilt. Deshalb empfehlen wir die familiäre Pflege so zu behandeln, wie die Zeiten der Kinderbetreuung nach der Geburt. Das Ziel ist es, einen Erwerbsausstieg, Arbeitslosigkeit und Wiedereinstieg zu vermeiden. Wir befürworten, während der 2-jährigen Familienpflegezeit eine Lohnersatzleistung analog zum Elterngeld einzuführen". Zwar sind wir von der Lohnersatzleistung analog zum Elterngeld noch weit entfernt, dennoch ermöglichen diese Gesetze:

  • ein Pflegeunterstützungsgeld: für Akutfälle, für eine kurzfristig Pflege, Rechtsanspruch auf 10 Tage bezahlte Auszeit von der Berufstätigkeit; vgl. das Kinderkrankengeld
  • eine Pflegezeit: unbezahlte Freistellung für Pflege bis zu 6 Monaten. Gilt für Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten
  • ein Rechtsanspruch auf Freistellung: Pflege eines nahen Angehörigen in häuslicher Umgebung, bis zu 24 Monaten, verbleibende Mindestarbeitszeit 15 Std. pro Woche, für Betriebe mit mehr als 25 Beschäftigte
  • eine Begleitung in der letzten Lebensphase: Rechtsanspruch auf Begleitung schwerstkranker Angehöriger von bis zu drei Monaten
  • ein zinsloses Darlehen (Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben)

Frauen im Ehrenamt

Auch im Ehrenamt zeigen traditionelle Rollenbilder immer noch Wirkung. Frauen engagieren sich laut Freiwilligensurvey der Bundesregierung lieber in der Kirche oder in der Altenhilfe, während Männer sich überwiegend bei der Feuerwehr oder beim Rettungsdienst engagieren. Selbstverständlich wertschätze ich beides. Diese Faktenlage belegt aber wiederum, dass Pflegearbeit im Fremd- als auch im Selbstverständnis quasi automatisch den Frauen zugeordnet wird.

Karriere in der Pflege

Auch in der Pflege existiert ein Gender Pay Gap, d. h. der geschlechterspezifische Lohnabstand: er liegt bei den KrankenpflegerInnen bei 9,4 Prozent, in der Altenpflege bei 4,5 Prozent. In der Altenpflege verdienen beide Geschlechter erheblich weniger als die anderen Pflegeberufe und nochmals weniger als die anderen Fachberufe im Durchschnitt.

Gründe des Gender Pay Gaps liegen im Wesentlichen in der unterschiedlichen Positionierung in der beruflichen Hierarchie, bei Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit durch Familienarbeit und damit bedingter geringere Berufserfahrung, durch die höhere Beschäftigung von Frauen in kleinen Betrieben ohne Tarifbindung. Auch in der Pflege gilt wie in anderen typischen „Frauenberufen“: Es wird untertariflich entlohnt. In der frauendominierten Pflegebranche gibt es besonders viele Teilzeitbeschäftigte: Etwa jede zweite Pflegefachkraft ist teilzeitbeschäftigt, bei den HelferInnenberufen in der Pflege beträgt der Teilzeitanteil sogar 60 bis 70 Prozent. 90 Prozent der Teilzeitbeschäftigten in der Pflege sind Frauen. Zum Vergleich: In den männerdominierten handwerklichen Berufen beträgt die Teilzeitquote nur 8 Prozent. All diese Faktoren (niedriger Lohn, niedrige Position, Teilzeit) bewirken für Frauen später entsprechend niedrige Rentenzahlungen. Aufgrund der häufig familienunfreundlichen Arbeitszeiten, den hohen körperlichen und psychischen Belastungen kommt es häufig zum Berufsausstieg, bevor das Renteneintrittsalter erreicht wird.

Für 2016 plane ich zusammen mit der Berliner Krankenhausgesellschaft eine Veranstaltung zum Themenkomplex „Frauen an der Spitze der Pflege. Wo ist Pflege in der Spitze personell vertreten?“. Ich plädiere dafür, dass politisch erreichte Erfolge, wie zum Beispiel das im Land Berlin nun existierende Prüfverfahren zur Entgeltgleichheit der Geschlechter im öffentlichen Dienst mittels des Instruments „eg-check“, auch in der Frauendomäne Pflege gelten sollte.

Am Schluss und wieder beim Anfang

Ich erwarte, dass mit dem demografischen Wandel der politische Druck für tiefer greifende Reformen zugunsten der Frauen und der Pflegebedürftigen noch weiter ansteigen wird. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Frauen die Familien- und Pflegearbeit so oft alleine leisten. Frauen steht ein gerechtes Stück vom Kuchen zu, von den Löhnen und von den Karrierechancen. Es braucht eine im Lebenslauf bessere Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, aber auch eine Ausweitung formeller Angebote, welche die Angehörigen weiter entlasten. Dies ist nicht zuletzt eine Finanzierungsfrage: Deswegen bleibt es dabei: Wir brauchen eine Bürgerversicherung in der Pflege, auch für mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Care ist eine zutiefst gleichstellungspolitische und gleichermaßen Bildungs- und wirtschaftspolitische Herausforderung. Denn unsere bisherigen gesellschaftlichen Vorstellungen von Privatheit und Sozialstaat werden herausgefordert – so wie Gender und Gleichstellung grundsätzlich tradierte Rollenbilder infrage stellen.