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Arbeitsbedingungen und Perspektiven in der Flüchtlingsarbeit

Die Zahl geflüchteter Menschen steigt an. Da weder der Krieg in Syrien noch die Verfolgung in anderen Staaten beendet sind, ist auch ein Ende in die Bundesrepublik flüchtender und sich um Asyl bewerbender Menschen nicht in Sicht. Nach Meinung des ver.di Bundesvorstandes hängt die Frage „wie schaffen wir das?“ maßgeblich davon ab, ob es gelingt, neben der Förderung einer Willkommenskultur mittel- und längerfristig auch die dafür notwendigen Strukturen vor allem in den öffentlichen Einrichtungen zu stärken. Mitte Oktober hatte das Ressort Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Migration und Teilhabepolitik das Flugblatt „Kippt die Stimmung- oder wird sie gekippt?“ in der Reihe sopoaktuell veröffentlicht.

In der Veranstaltungsreihe sicht.weisen standen am 18. November 2015 die „Arbeitsbedingungen und Perspektiven in der Flüchtlingsarbeit“ im Mittelpunkt. Das Interesse an der in der ver.di Bundesverwaltung stattfindenden Veranstaltung war hoch. Gekommen waren MitarbeiterInnen verschiedener Verwaltungen auf bezirklicher als auch Landesebene um Antworten auf die von ver.di gestellten Fragen „Wie haben sich die Bedingungen in der Flüchtlingsarbeit in jüngerer Zeit verändert? Worin bestehen die größten Herausforderungen? Was muss in den öffentlichen Einrichtungen getan werden, um der Situation gerecht zu werden? Welcher Rahmenbedingungen und Anknüpfungspunkte bedarf es aus Sicht ehrenamtlich Helfender?“ zu erhalten. Eine weitere in der Diskussion deutlich werdende Fragen lautete: Was können wir tun? Wo können wir helfen?

Eingangsstatements zur Situation der Beschäftigten und ehrenamtlich Tätigen am LaGeSo

Jeweils einen Impuls gaben zu Beginn Marco Olbrich, Mitglied der ver.di-Betriebsgruppe des Landesamts für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) und Mitarbeiter der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAA) Berlin, und Joanna Hassoun, ehrenamtlich in der medizinischen Hilfe am LaGeSo als auch hauptberuflich aktiv in der Unterstützungsarbeit für (queere) Flüchtlinge und Projektleiterin beim Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg. Die Moderation hatte Michael Fischer, Bereichsleiter Politik und Planung, ver.di Bundesverwaltung, inne.

Mitte August hatte u.a. die auch anwesende Astrid Weigert, Personalratsvorsitzende des LaGeSo, in einem öffentlichen „Brandbrief“ dargelegt, dass es den politisch Verantwortlichen, aber auch den Medien gut zu Gesicht stehen würde, den Generalverdacht schlampiger Arbeitsergebnisse von Lageso-MitarbeiterInnen zu nehmen, sie in ihren Aufgaben zu unterstützen und vor allem die Arbeitsbedingungen weiter zu verbessern. Seitdem hätten sich die Arbeitsbedingungen verbessert, dennoch fehle es trotz Neueinstellungen, viele davon anfänglich befristet, die meisten dann entfristet, an Personal, so Marco Olbrich. Es öffnet sich eine Schere: das langsame Ansteigen der Beschäftigten einerseits, das schnelle Ansteigen der Geflüchteten andererseits.

Jede der letzten drei Generationen ihrer Familie habe eigene Fluchterfahrungen, berichtete Joanna Hassoun. Sie habe in Berlin auch mehrere Jahre in einer Übergangseinrichtung gelebt. Da sie gut integriert sei, hätten diese Lebenserfahrungen aber lange Zeit gar keine entscheidende Rolle gespielt - bis immer mehr Flüchtlinge nach Berlin gekommen seien. Sie habe einfach helfen, habe sich einfach engagieren müssen. Das macht die Moabiterin nun seit rund 18 Monaten: Sie ist die ehrenamtliche Koordinatorin für die medizinische Erstversorgung von ‚Moabit hilft‘. Sie befürworte das hohe ehrenamtliche Engagement der vielen Menschen, dieses dürfe aber nicht für die Gewährleistung öffentlicher Daseinsvorsorge notwendige hauptberufliche Stellen ersetzen. Obgleich es ihr persönlich immer noch gelinge, für ihre Projekte ausreichende Spenden zusammenzubekommen, beobachte sie, dass “die Spenden- und Hilfsbereitschaft abgenommen hat, sie ist aber nicht weg“. Joanna Hassoun machte darauf aufmerksam, dass keineswegs jeder Mensch mit der guten Absicht des helfen Wollens, auch tatsächlich eine wirkliche Hilfe sei.

Für ihr Engagement hat Joanna Hassoun am 1. Oktober vom Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, den Verdienstorden des Landes Berlin verliehen bekommen.

„Lehren“ ziehen

Meiner Meinung nach wurde in der Veranstaltung - zusätzlich zu den hohen Anforderungen - deutlich:

  1. Es gibt zu wenig Kommunikation und Transparenz zu den neuen politischen Regelungen. Der Grund dafür: jede und jeder „säuft in der vielen Arbeit“ ab, die MitarbeiterInnen ebenso wie die Führungskräfte. So ist vielen die „Ruckrede“des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD) entgangen. Ebenso der daraus resultierende Maßnahmenkatalog sind nicht allen bekannt: Schnellere Beschaffung von Unterkünften, Änderung des Allgemeinen Zuständigkeitsgesetzes (AZG), mehr MitarbeiterInnen für Registrierung und Leistungsberechnung, Schaffung eines überregionalen Bürgeramtes für Flüchtlinge, Sammelausschreibungen für leichtere Personalbeschaffung, schnellere Bezahlung von Betreiberfirmen, Flughafen Tempelhof als Großeinrichtung, mehr Anreize für PensionärInnen, Änderung der Berliner Bauordnung, für die unter anderem auch verschiedene Gesetze geändert werden müssen. Ebenso das Zurückholen von „politischen PensionärInnen“ als AnsprechpartnerInnen für ganz spezielle Herausforderungen, zum Beispiel für besonders Schutzbedürftige wie es die unbegleiteten minderjährigen Kinder und Jugendlichen sind.

Gewünscht wird eine Abteilung, welche die gesetzlichen Neuregelungen für die jeweilige Arbeit „übersetzt“ und deutlich macht, welche Entscheidungen und Handlungen nun die Richtigen sind.

2. Positive Beispiele für aktuelles politisches Handeln:

Beispiel 1: Das personalisierte BVG-Ticket für Flüchtlinge ist für alle Verkehrsmitteln von BVG und S-Bahn Berlin sowie allen anderen Verkehrsunternehmen im Tarifbereich Berlin AB gültig.

Beispiel 2: Für die Tätigkeiten mit besonders schutzbedürftige Menschen wird ein erweitertes Führungszeugnis https://www.berlin.de/buergeraktiv/engagieren/fuer-fluechtlinge/ benötigt. Dieses Führungszeugnis ist bereits seit dem 11. Mai für die sich ehrenamtlich engagierenden BerlinerInnen kostenfrei. Außerdem werden diese Anträge bevorzugt bearbeitet.

Die Kenntnis solcher Regelungen hilft Ehren- und Hauptamtlichen einzuschätzen, dass die „Politik“ - entgegen mancher in der Veranstaltung geäußerten Annahme - doch sehr an der Unterstützung der Ehrenamtsarbeit interessiert ist.

3. Das Motiv Helfen reicht im beruflichen Kontext allein nicht aus, um gut arbeiten zu können. Für gute Arbeit „für Flüchtlinge“ bedarf es auch struktureller Unterstützung: Viele MitarbeiterInnen der Bezirke wollten sich freiwillig „für die Arbeit mit Flüchtlingen“ abordnen lassen. Wenn aber die Zeit für eine sachgerechte Einarbeitung fehlt, sie daher „nur ZuarbeiterInnen“ sind, entsteht Frustration und das Bedürfnis, an den eigenen Arbeitsplatz zurückzukehren. Das hat aber auch positive Konsequenzen: Nachdem die Geflüchteten registriert sind, sind viele der anstehenden Aufgaben durch die MitarbeiterInnen der Bezirksämter zu erledigen. „Die Arbeit kommt doch in die Bezirke.“ In den öffentlichen Einrichtungen wird sich durch den Zuzug der Geflüchteten ein Wandel ergeben (müssen).

4. Die Frage nach der „Politisierbarkeit“ der Situation ist leichter gestellt als beantwortet: Ich finde es richtig, sich dafür einzusetzen. Zu klären ist aber auch, ob wir für eine konstruktive „Politisierung“ nicht neue Mechanismen entwickeln müssen, das Ziel haben, eine Spaltung unserer Gesellschaft zu verhindern. Möglichweise brauchen wir auf diesem Hintergrund eine neue Kultur der Vertretung der Interessen der jeweils „eigenen Gruppierung“.

Ich finde es richtig, politische Forderungen zu formulieren, die alle Beteiligten in den Blick nehmen:

  • Anerkennung und gute Arbeit für diejenigen, die hauptamtlich zur Registrierung aber auch zur Integration der vielen Geflüchteten beitragen.
  • Anerkennung und gute Rahmenbedingungen für die vielen Freiwilligen.
  • Menschenwürdige Bedingungen von Anfang an: zum Beispiel bei der Registrierung; gute Beratung beispielsweise bei der „Arbeitsmarktintegration von Asylsuchenden und Flüchtlingen“ (Broschüre der IHK Berlin), Integration durch aus Ausbildung beispielhaft durch das Pilotprojekt ARRIVO, durch gute Bezahlung der in der Integration tätigen Fachpersonen und vieles mehr.

Allgemein wurde die Meinung geteilt, dass die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen eine wachsende Anerkennung bedarf. Um eine Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden, braucht es einen professionell und personell gut aufgestellten Öffentlichen Dienst. Dies gilt besonders in Zeiten, wo es darauf ankommt, die gestiegenen Flüchtlingszahlen unter Wahrung von Solidarität und einer stimmungsmäßig positiven Willkommens- und Anerkennungskultur „auf Augenhöhe bearbeiten“ zu können. Eine stabile Akzeptanzkultur braucht gute Arbeitsbedingungen gerade im Öffentlichen Dienst.