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Mehr Anerkennung und Akzeptanz für intergeschlechtliche Menschen

Mehr gesellschaftliche Anerkennung, Akzeptanz und Empowerment von intergeschlechtlichen Menschen stand auf der Agenda von zwei hochkarätigen Veranstaltungen. Dafür warb Caren Marks, Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Caren Marks unterstrich auf beiden Tagungen den gestiegenen Stellenwert des Themas für die Bundesregierung.

Sowohl auf der Fachtagung als auch beim Fachaustausch zum Thema Intergeschlechtlichkeit wurde das große Interesse der Teilnehmenden an Empowerment, Beratungs- und Vernetzungsbedarf deutlich.

Im Koalitionsvertrag ist vereinbart worden, die besondere Situation von trans- und intersexuellen Menschen in den Fokus zu nehmen. Daraufhin wurde im September 2014 eine interministerielle Arbeitsgruppe „Intersexualität/Transsexualität“ (IMAG) gebildet. Die Arbeit der Arbeitsgruppe hat zunächst den Fokus auf konkrete Bedarfe und Möglichkeiten zur Entwicklung und Etablierung bedarfsgerechter Beratungs-, Aufklärungs- und Präventionsstrukturen für Menschen mit angeborenen Variationen der Geschlechtsmerkmale und ihrer Familien gelegt.

Eine wichtige Rolle spielt dabei das neu eingerichtete Referat „Gleichgeschlechtliche Lebensweisen, sexuelle Identitäten“ unter der Leitung von Dr. Ina-Marie Blomeyer. So wurden im Herbst diesen Jahres eine Fachtagung "Die rechtliche Situation von Trans* und intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland und Europa" und ein Fachaustausch „Beratung und Unterstützung für intersexuelle Menschen und ihre Familien“ organisiert.

Die rechtliche Situation von Trans* und intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland und Europa

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes lud am 7. Oktober 2015 zur Fachtagung "Die rechtliche Situation von Trans* und intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland und Europa" ein. Hier gab Silvan Agius in seiner Key Note einen aktuellen Überblick über die Entwicklungen in der EU. Silvan Agius ist internationaler anerkannter Experte für die Rechte von LGBTIQ. Vor allem hob er die großen Fortschritte in der Gesetzgebung in Malta hervor. Malta hat am 2. April 2015 ein sehr fortschrittliches Gesetz zur Anerkennung und Schutz der Geschlechtsidentität (Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics Act 2015) beschlossen. Das Gesetz erlaubt es Transgender und intergeschlechtlichen Menschen die Anerkennung ihres Geschlechts ohne Zwangsoperationen. Operative Eingriffe an intersexuellen Babys und Minderjährigen sind jetzt verboten. Geschlechtsangleichende Operationen werden nur erlaubt, wenn die Betroffenen ihr Einverständnis erklärt haben. Auch die Rechte von trans- und intersexuellen Flüchtlingen werden gestärkt.

Des Weiteren führte er aus, dass das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 9. Juni 2015 die Kommission aufgefordert hat, Maßnahmen zu erarbeiten, welche die Diskriminierung von Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgenderpersonen und Intersexuelle im Rahmen einer breitangelegten Strategie beseitigen. Das Europäische Parlament bekräftigte die Forderung, Störungen der Geschlechtsidentität von der Liste der psychischen Störungen und Verhaltensstörungen zu streichen und in den Verhandlungen über die 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) eine nicht pathologisierende Neueinstufung sicherzustellen. Geschlechtsvarianz darf nicht pathologisiert werden. Diese Forderungen des Europäischen Parlaments richten sich an die Kommission und die Weltgesundheitsorganisation.

Agius verwies auch auf die Aktivitäten des UN-Menschenrechtsrats. Im September 2015 veröffentlichte der UN-Menschenrechtsrat ein Factsheet, indem die Mitgliedsstaaten aufgefordert werden, medizinisch nicht notwendige Operationen an intergeschlechtlichen Kindern zu verbieten, ihre körperliche Integrität zu schützen und zu respektieren. Als positive Länderbeispiele werden in dem Papier die Gesetzgebungen in Australien und Malta ausdrücklich benannt.

Auch der Europarat hat sich mit dem Thema beschäftigt: In dem Positionspapier „Human rights and intersex people“ vom 12. Mai 2015 bezieht der Menschenrechtskommissar Nils Muižnieks klar Stellung. Die EuropäerInnen haben lange Zeit die Menschenrechtsrechtsverletzungen, die intersexuelle Menschen erlitten haben, ignoriert. Stereotype Normvorstellungen von einer binären Gesellschaft, in der ausschließlich Männer und Frauen gäbe, haben zu unnötigen medizinischen und operative Eingriffen bei intersexuellen Kindern und zu einem gesellschaftlichen Klima der Verständnislosigkeit geführt. Diese Situation ist zu akzeptieren, betont der Menschenrechtskommissar Nils Muižnieks

In seinem Statement forderte Agius Deutschland auf, dem Vorbild Maltas zu folgen. Lobend erwähnte er die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates „Intersexualität“ von 2012, die das Thema endlich auf die politische Agenda gesetzt hatte.

Änderungen im Personenstandsrecht

Das Personenstandsrecht kennt bislang nur die Kategorien männlich und weiblich. Damit werden intergeschlechtliche Menschen systematisch ausgegrenzt. In der Diskussion zum Personenstandsrecht wurde darauf verwiesen, dass es bereits im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 anerkannt gewesen war, dass bei Nichteindeutigkeit des Geschlechts die Eltern ein Wahlrecht hatten – der sogenannte Zwitterparagraf. Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Regelung aufgehoben. Seitdem sind intersexuelle Menschen aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht und gesellschaftlich nicht anerkannt. Der Deutsche Ethikrat hatte daher in seiner Stellungnahme im Februar 2012 vorgeschlagen, dass intersexuelle Menschen den Eintrag „andere“ wählen könnten. Der Bundestag hatte daraufhin in der letzten Legislaturperiode das Personenstandsgesetz wie folgt geändert: „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen“. Von vielen Akteur*innen wurde das als erster Schritt in die richtige Richtung gewertet, der allerdings noch nicht weit genug gehe.

Die Parlamentarische Staatssekretärin Caren Marks erklärte, dass sich unter der Federführung von Bundesjustizminister Heiko Maas die Arbeitsgruppe Abstammungsrecht sich um eine notwendige Änderung des Familienrechts kümmert. Ziel der Arbeitsgruppe ist es, dass die soziale Elternschaft stärker anerkannt wird.

Als weitere Fragestellungen auf der Fachtagung im Tagungswerk Jerusalemkirche in der Lindenstraße 85 in Kreuzberg wurden behandelt: Welche rechtlichen Änderungen braucht es, damit Trans* und intergeschlechtliche Menschen ein diskriminierungsfreies und selbstbestimmtes Leben führen können? Wie können wir die körperliche Unversehrtheit aller Menschen sicherstellen? Wie können wir Diskriminierung in Bildung und Arbeitswelt abbauen?

In vier Panels diskutierten die Teilnehmenden die Themen: „Diskriminierungsfreier Umgang mit Geschlechtervielfalt in Unternehmen und Verwaltung“, „Geschlechtervielfalt in Unterrichtsmaterialien“, „Sensibilisierung von Mediziner_innen für Intergeschlechtlichkeit“, „Sensibilisierung von Mediziner_innen für Trans*“.

Sensibilisierung von Mediziner_innen für Inter-geschlechtlichkeit

Im Panel „Sensibilisierung von Mediziner_innen für Inter-geschlechtlichkeit“ deutlich, dass es den zeitgleichen Druck durch gesetzliche Regelungen und durch zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit bedarf, damit sich etwas bewegt. Es herrsche eine paradoxe Situation mahnte eine Teilnehmende an: „Während Trans*Menschen sich ihre notwendigen Operationen hart erkämpfen müssen, wird bei intergeschlechtlichen Menschen sofort ohne deren Einwilligung operiert“. So wurde ein sofortiges Operationsverbot an intergeschlechtlich geborenen Kindern gefordert. Intergeschlechtliche Menschen benötigen mehr psychosoziale Beratung. Dafür müssten transdisziplinäre Beratungsstrukturen aufgebaut werden, die mehr als nur medizinisch ausgerichtet sind. Intergeschlechtliche Menschen haben oft großes Misstrauen gegenüber der Medizin. Das liegt an der Traumatisierung und an den Spätfolgen durch die frühkindlichen Operationen.

Eine große Fragestellung, die sich durch das Panel zog, war, wie können Ärzt_innen und medizinische Fachkräfte sensibilisiert werden? So sollte das Thema Intersexualität in die Curricula des Medizinstudiums oder der Krankenpflegeausbildung aufgenommen und entsprechende Fortbildungen angeboten werden. Leider waren die Mediziner_innen bei dem Panel noch sehr stark unterrepräsentiert. Das zeigt den herrschenden Aufklärungs- und Sensibilisierungsbedarf im Gesundheitswesen auf, erklärte ein Teilnehmer.

 Fachaustausch „Beratung und Unterstützung für intersexuelle Menschen und ihre Familien

Der Fachaustausch am 4. November 2015 im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurde genutzt, um die Ergebnisse der Kurzzeitbefragung zu Strukturen und Angeboten zur Beratung und Unterstützung von Menschen mit angeborenen Variationen der Geschlechtsmerkmale vorzustellen. Im Auftrag des Bundesfamilienministeriums hatte das Institut für Sexualforschung & Forensische Psychiatrie am Zentrum für psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf (UKE) die Kurzzeitbefragung durchgeführt. Befragt wurden auch Eltern und Interessenverbände sowie spezielle, psychosoziale und Familienberatungsstellen und Fachexpert_innen verschiedener Professionen zu eigenen Beratungserfahrungen, Beratungs- bzw. Fortbildungsbedarfen sowie Möglichkeiten und Bedingungen der Entwicklung bedarfsgerechter Beratungsstrukturen.

Die Ergebnisse der Kurzzeitbefragung zu Strukturen und Angeboten zur Beratung und Unterstützung von Menschen mit Geschlechtsvarianz stellte Dr. Katinka Schweizer vom Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf vor.

Der Fachaustausch wurde per Livestream übertragen und kann jetzt als Video auf Youtube angeschaut werden.

Ergebnisse der Kurzzeitbefragung zu Strukturen und Angeboten zur Beratung und Unterstützung von Menschen mit Geschlechtsvarianz

Im Zeitraum von Juni bis September 2015 wurden Erfahrungsexpert_innen mit verschiedenen Formen der Intergeschlechtlichkeit / DSD, Eltern von Kindern mit Inter / DSD, Mitarbeiter_innen und Leiter_innen von Psychosoziale Beratungsstellen, Fachexpert_innen und Angehörige involvierter Berufsgruppen und Fachbereiche wie Medizin, Pädagogik, Psychologie, Recht befragt. Es nahmen insgesamt 630 Menschen teil, darunter 40 Erfahrungsexpert_innen und 27 Eltern.

Sprache

Am Häufigsten wird der Begriff intergeschlechtlich verwandt, wobei viele Erfahrungsexpert_innen Varianten der körpergeschlechtlichen Entwicklung bevorzugen.

Bekanntheitsgrad von Beratungsangeboten

Aus der Befragung wurde deutlich, dass nur vier Prozent die jetzt vorhandenen Beratungsangebote für ausreichend halten. 62 % der Erfahrungsexpert_innen kennen Beratungsangebote, während nur 37 % der Eltern wissen, wo sich Beratungsangebote finden lassen.

Am bekanntesten für Erfahrungsexpert_innen und Eltern gleichermaßen sind die Selbsthilfegruppen (88%) und entsprechende Foren im Internet (58%). Bei den Eltern spielt neben den Selbsthilfegruppen die Beratung durch die behandelnden Ärzt_innen (67%) eine sehr wichtige Rolle. Einen hohen Stellenwert für Erfahrungsexpert_innen stellt die Peer-Beratung (48%) da.

  • 96 % halten umfassende Beratungsangebote für wichtig, um vorschnelle Entscheidungen zu vermeiden.
  • 76 % wünschen sich Unterstützungsangebote in der näheren Umgebung (bis 50 km).
  • 59 % wünschen sich mehrere Anlauf- und Beratungsstellen pro Bundesland
  • 34 % wünschen sich Beratungsangebote gebündelt und zentral in größeren Städten

Als beste Beratungsform wird das persönliche Gespräch geschätzt. Aber auch telefonische Beratung, per Internet oder Mail sowie auf Tagungen oder Infoveranstaltungen werden als wichtig erachtet.

Als besonders geeignet werden professionelle Berater_innen (78%) eingeschätzt. Während die Erfahrungsexpert_innen insbesondere Peer-Berater_innen schätzen, haben bei den Eltern die Ärzt_innen und auch Hebammen einen hohen Stellenwert.

Als besonders dringende Themen wurden identifiziert:

  • Umgang mit Intergeschlechtlichkeit im sozialen Umfeld (83%)
  • Anerkennung der körpergeschlechtlichen Entwicklung (80 %)
  • Aufklärung über Risiken und Grenzen medizinischer Maßnahmen (73%)
  • Sprechen über Intergeschlechtlichkeit in der Familie (72%)

Hier sind sich deutliche Unterschiede Bedarfe zwischen Erfahrungsexpert_innen und Eltern erkennbar. Für 92 % der Erfahrungsexpert_innen ist die Anerkennung der körpergeschlechtlichen Entwicklung besonders wichtig. Einen gleich hohen Stellenwert mit 82 % stellen die gesundheitlichen und sozialrechtlichen Belange als auch die biologische Information und Aufklärung über die Geschlechtsentwicklung dar.

Für 94 % der Eltern sind die Wege eines offenen Umgangs und der Umgang mit Intergeschlechtlichkeit im sozialen Umfeld am Wichtigsten. Danach kommen die gesundheitliche und sozialrechtliche Belange als auch die Information über die spezifische Diagnose / Form, die jeweils von 85 % als besonders dringend identifiziert werden.

Verbesserungsbedarfe

I. Psychosozial ausgerichtete Informations-, Beratungs- und Forschungsstellen (65%)

II. Interdisziplinäre Teams, deren Mitglieder nicht an einen Ort gebunden sind (62%)

III. Medizinisch geleitete Expert_innenzentren mit psychosozialer Begleitung (34%)

Weitere Nennungen sind Selbsthilfe und Peer-to-peer Beratung, Forschung, Interdisziplinäre Strukturen (inkl. juristischer und soziologischer Kompetenz) u.a. (13%)

Handlungsbedarfe

1. Qualifizierung von  Mitarbeiter_innen von Familien-Beratungsstellen  (65%)

2. Unabhängige Beratungsstrukturen außerhalb von Kliniken (60%)

3. Fachkompetenz von Psycholog_innen und Berater_innen (57%)

4. Mehr Beratungsangebote (57%)

5. Beratungskompetenz von Ärzt_innen (51%)

6. Qualifizierung von Peer-Berater_innen (46%)

7. Finanzielle Förderung der Selbsthilfe (43%)

Auch bei den Handlungsbedarfen lassen sich Unterschiede zwischen Erfahrungsexpert_innen und Eltern erkennen. So sprechen sich 77 % der Erfahrungsexpert_innen für unabhängige Beratungsstrukturen außerhalb von Kliniken und 69 % für eine finanzielle Förderung der Selbsthilfe aus. Eine höhere Beratungskompetenz von Ärzt_innen wird von 71 % der Eltern gewünscht.

  • Aufklärung / Information von Erzieher_innen und Lehrer_innen (76%)
  • Weiterbildung  von Psycholog_innen und Mediziner_innen (75%)
  • Aufklärungskampagnen und –broschüren für die Allgemeinbevölkerung (73%)
  • Förderung von Peer-Beratung und Selbsthilfe (65%)
  • Behandlungsunabhängige Beratungsstrukturen (61%)
  • Erweiterung des deutschen Rechts (58%)

Politische Forderungen

Aus der Befragung werden eine Reihe von politische Forderungen abgeleitet. Insbesondere die vorhandenen Beratungsstrukturen sind unzureichend. Um diese zu verbessern werden folgende Vorschläge unterbreitet:

  • Unabhängige, wohnortnahe, bundesweite Beratungsstrukturen
  • Spezifische Angebote für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Eltern
  • Psychosoziale Informations-, Beratungs- und Forschungsstellen schaffen
  • Qualifizierung und Weiterbildung in Familienberatungsstellen, Psychologie, Medizin
  • Aufklärung in Allgemeinbevölkerung, Kindergärten, Schulen

Empfehlungen:

  • Koordination und Erweiterung bestehender Beratungsangebote und Modellprojekte
  • strukturelle und finanzielle Stärkung von Selbsthilfe und Peer-to-Peer Beratung
  • Weiterbildung und Qualifizierung von Mediziner_innen
  • Erstellung und Verbreitung von Informationsmaterialen