Neun Monate nach der jahrelang von vielen Frauen- und Gesundheitsorganisationen, NGOs und im Gesundheitsausschuss auch von mir geforderten Entlassung der „Pille danach“ aus der Verschreibungspflicht hatte der Pro familia Bundesverband für den 2. Dezember 2015 Expertinnen und Experten zu einem Austausch über die ersten Erfahrungen mit der rezeptfreien Abgabe eingeladen. Neben ÄrztInnen und ApothekerInnen waren auch Vertreterinnen des Bundesgesundheitsministeriums, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) und ein Vertreter des Vereins Demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP), Vertreterinnen von Pro familia und Mitglieder des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt (bff) sowie ich der Einladung gerne gefolgt.
Vor der Diskussion gab es Inputs von der BZgA zur Inanspruchnahme der „Pille danach“ bei 14-25 Jährigen und zum Informationsstand von erwachsenen Frauen. Die repräsentativen Befragungen erfolgten noch vor der Entlassung aus der Verschreibungspflicht, daher wird eine Fortschreibung für die Beurteilung von eventuellen Nachfrageerhöhungen interessant werden.
Erste Ergebnisse der repräsentativen Erhebung
Die repräsentative Befragung zur Jugendsexualität, die erstmals auch differenzierte nach mit und ohne Migrationsbiographie, umfasste 5750 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 25 Jahren.
Das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr hat sich auch bei der Befragung im Jahr 2014 nicht von vorhergehenden Befragungen unterschieden. Jedoch haben Mädchen bzw. junge Frauen mit Migrationshintergrund den ersten Geschlechtsverkehr in einem höheren Alter. So hatten beispielsweise 82% der deutschstämmigen 18 Jährigen bereits Geschlechtsverkehr, aber nur 42% der 18 Jährigen mit Migrationshintergrund. Bei den Jungen und Männern liegen die Prozentwerte hingegen näher beieinander.
Bei der Frage nach den Gründen der sexuellen Zurückhaltung gaben 67% der Mädchen und Frauen ohne Migrationshintergrund an, dass der richtige Partner oder die richtige Partnerin fehlen würde, bei den Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund waren es 59%. Die Antwortmöglichkeit „Bin noch zu jung“ wählten beide Gruppen mit 29% gleichermaßen; große Gruppenunterschiede gab es bei der Antwortmöglichkeit „vor der Ehe nicht richtig“. Dies wurde nur von 4% der Befragten ohne Migrationshintergrund, aber von 28% mit Migrationshintergrund als Grund angegeben. Die Antwortmöglichkeit „Angst vor Schwangerschaft“ wählten 11% der Befragten ohne Migrationshintergrund und 16% mit Migrationshintergrund.
Gefragt wurde auch, ob beim ersten Geschlechtsverkehr verhütet wurde. 8% der Befragten Mädchen und Frauen deutschstämmiger Herkunft haben nicht verhütet, bei den Mädchen und Frauen mit Migrationsbiographie waren es nur 2%. Bei den männlichen Befragten waren es 6% der deutschstämmigen und 10% der Befragten mit Migrationsbiographie.
Mehr als 70% der befragten Mädchen und jungen Frauen hatten den ersten Geschlechtsverkehr mit ihrem festen Partner. 61% der deutschstämmigen Jungen und jungen Männer gaben an, der erste Geschlechtsverkehr habe mit ihrer festen Partnerin stattgefunden. Bei den Jungen und jungen Männern mit Migrationserfahrung waren es 42%.
Zudem wurde nach dem Verhütungsmittel gefragt. Spitzenreiter war hier bei allen das Kondom mit rund 70%, gefolgt von der Pille mit 50 % bei den deutschstämmigen Befragten und rund 35 % bei den Befragten mit Migrationshintergrund.
Es wurde zudem nach den Erfahrungen mit der „Pille danach“ gefragt. 17% gaben an, dass sie die „Pille danach“ einmal verwendet haben, 7 % haben sie mehrfach genutzt.
Befragung von 16-49Jährigen zur „Pille danach“
89% wissen von der Existenz der „Pille danach“. Ihr Wissen stammt zum überwiegenden Teil aus den Medien oder von Freunden. Ein Drittel der Befragten gaben an von der Frauenärztin/dem Frauenarzt informiert worden zu sein. Aber nur 5% hatten ihre Information von der HausärztIn oder einer ApothekerIn, 4% der Befragten von einer Beratungsstelle.
Die Frage, ob die „Pille danach“ rezeptfrei sei, beantworteten 44% mit ja, 46% mit nein und 10% mit „weiß nicht“
Das Resümee der Vorstellung der Ergebnisse der Befragungen war eindeutig: Es muss mehr informiert werden!
Abgabepraxis in den Apotheken
Im September dieses Jahres - also ein halbes Jahr nach der Entlassung aus der Verschreibungspflicht der „Pille danach“ - wurden in einer weiteren StudieTelefoninterviews mit ApothekerInnen im Auftrag von Pro familia zur Abgabepraxis in den Apotheken durchgeführt. Bei der Stichprobe wurden 32 Apotheken angefragt. Es kamen 25 Interviews zustande. Davon 13 in Großstädten und 12 im ländlichen Raum.
Erfreulich war, dass 96% angaben, sich auf die neuen Beratungsaufgaben zur „Pille danach“ hinsichtlich der Entlassung aus der Verschreibungspflicht vorbereitet zu haben. 88% hatten dazu eine Kammerfortbildung besucht.
ApothekerInnen müssen bei der Abgabe der „Pille danach“ eine Beratung erbringen, so sieht es das Gesetz vor. Die Bundesapothekenkammer hat dazu eine Checkliste erstellt. Diese wird von 52% der Befragten genutzt, 28%haben eigene Checklisten erstellt bzw. die Dritter genutzt.
Gefragt wurde zudem, welche Präferenzen den Ausschlag für den einen oder den anderen Wirkstoff ausschlaggebend sind. 80% machten es von der zeitlichen Wirkungsweise, 44% am Preis, 12% am Body-Mass-Index und 8% von der Frage, ob gestillt wird, abhängig.
9 der 25 Interviewten gaben an, dass sie immer das Präparat mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat abgeben würden. Die Gründe waren das größere Zeitfenster der Wirksamkeit, aber auch die „erzieherische Komponente des höheren Preises“.
3 Interviewte gaben grundsätzlich nur das lang erprobte und von der WHO empfohlene Präparat mit dem Wirkstoff Levonorgestrel ab.
In den Telefoninterviews wurde auch gefragt, an wen abgegeben beziehungsweise nicht abgegeben werden würde. 14 gaben an, nur an Frauen abzugeben. Hier waren die Großstadtapotheken häufiger bereit, das Präparat auch einem Mann zu verkaufen. 4 ApothekerInnen gaben an, den Einzelfall zu prüfen.
Die Gründe würde für die Verweigerung der Abgabe lagen bei Zyklusunklarheiten, reguläre Verhütung hat stattgefunden, Geschlechtsverkehr zu lange her, „Pille danach“ wurde bereits mehrfach abgegeben, medizinische Gründe, bestehende Schwangerschaft, zu hoher Body-Mass-Index und Stillen.
Aber auch beim Verdacht auf Vergewaltigung sind nicht alle befragten Apotheken zur Abgabe bereit. Alle Befragten würden die Betroffene zu einer Beratungsstelle schicken. 32% würden ihr zuvor die „Pille danach“ verkaufen, während 36% dies nicht tun wollen würden.
Wird die „Pille danach“ mit oder ohne Rezept verlangt? Diese Frage wurde unterschiedlich in den Großstädten und ländlichen Gebieten beantwortet. Erklärend mit langen Wegen zu den Facharztpraxen ist die Abgabe in ländlichen Gebieten ohne Rezept höher als in den Städten.
Die Befragten wurden zudem nach einer Einschätzung gefragt betreffend der Verantwortungsabnahme. Nur 25% schätzen ein, dass nach der Entlassung aus der Rezeptpflicht der „Pille danach“ ein sorgloserer Umgang mit der Verhütung stattfinden würde; 56% verneinten dies.
Die Interviewten haben auch noch Klärungsbedarf: bei dem Umgang mit Minderjährigen, der Abgabe an Männer und der Kostenerstattung für unter 20Jährige.
Diskussion über die Abgabepraxis
Die ExpertInnen diskutierten nach der Präsentation der Studien heftig über die Abgabepraxis. Insbesondere stieß die Frage der Nichtabgabegründe auf Kritik und Unverständnis. Die Verantwortung der Einnahme der „Pille danach“ liegt bei den Frauen. Sie liegt nicht bei den ApothekerInnen, diese haben eine Beratungspflicht.
Die Nichtabgabe an Männer wurde häufig mit „Idee im Hinterkopf von möglicher sexueller Gewalt an der betroffenen Frau“ begründet. Hinsichtlich eines solchen Verdachtes und auch hinsichtlich der Nichtabgabe an Minderjährige ist meiner Meinung nach ein breiter Austausch unter ApothekerInnen notwendig.
Auf völliges Unverständnis stieß die Verweigerung der Abgabe an Opfer von Vergewaltigungen. Positiv ist, dass alle auf Beratungsstellen hinweisen. Dennoch hat das eine nichts mit dem anderen zu tun. Vergewaltigte Frauen sind oftmals nicht in der Lage sofort über ihre Vergewaltigung zu sprechen und sich aktive Hilfe zu organisieren. Diesen Frauen, die sich dann als Vergewaltigungsopfer in der Apotheke offenbaren, die „Pille danach“ zu verweigern ist mir nicht nachvollziehbar. Hier muss es unbedingt Informationen für die Apotheken im Umgang mit Vergewaltigungsopfern geben.
Diskutiert wurde auch die Frage des Umgangs mit dem Erstattungsanspruch für die „Pille danach“ für unter 20 Jährige. Unter 20 Jährige haben einen Anspruch auf Kostenübernahme durch die Gesetzliche Krankenkasse. Allerdings benötigen sie dafür ein Rezept. Kassenrezepte dürfen ÄrztInnen jedoch nicht im Nachhinein ausstellen. Die „Pille danach“ ist ein Notfallmedikament, das nur in einer kurzen Zeitspanne nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr bzw. einer Verhütungspanne wirkt. Junge Frauen kommen deshalb häufig ohne Rezept und können ihren Kostenübernahmeanspruch nachträglich nicht geltend machen.
Bemängelt wurde die unzureichende Studienlage. Hinsichtlich des Zusammenwirkens von Ulipristalacetat mit der „normalen“ Pille, gibt es nach aktueller Studienlage gesundheitliche Unsicherheiten für die Frauen. Gespannt erwartet wird von den ExpertInnen die Folgestudie zur Jugendsexualität der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die dann erstmals Zahlen für den Zeitraum der Rezeptfreigabe enthalten wird.