Ein Bericht von Frederic Fraund, Freiwilliges Soziales Jahr in der Politik
SchülerInnen der SchülerInnengenossenschaft Nanofokus besuchten den Deutschen Bundestag und diskutierten mit ihrer Bundestagsabgeordneten Mechthild Rawert. Die SchülerInnengenossenschaft Nanofokus wurde 2011 von SchülerInnen des Letteverein e.V. am Viktoria-Luise-Park gegründet.
Im Gespräch mit Mechthild Rawert am 17. Juni 2016 interessierten sie sich für einen bunten Strauß an Themen wie Gesundheitspolitik, die Situation der Geflüchteten in Deutschland, die Reform des Sexualstrafrechts bis hin zum Blutspenden.
Sexualisierte Gewalt an Frauen - leider immer noch ein sehr akutes Problem in Deutschland
Besonders bewegt hat die SchülerInnen die Ereignisse der Silvesternacht in Köln und noch mehr erschütterte es sie als Mechthild Rawert ihnen mitteilte, dass diese Vorfälle sich nicht nur auf die rheinische Metropole beschränkten, sondern weltweit beobachtet worden sind. Sie informierte die Jugendlichen, dass häusliche Gewalt ebenso wie sexuelle Gewalt in Deutschland schon lange existierte. „Häusliche und sexuelle Gewalt sind kein importiertes Problem.“
Jede dritte Frau in der Europäischen Union ist einer Studie zu Gewalt gegen Frauen zufolge seit ihrer Jugend Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt geworden. Das berichtet die EU-Grundrechte-Agentur (FRA). Betroffen sind demnach etwa 62 Millionen Frauen. Fünf Prozent von ihnen seien vergewaltigt worden. 22 Prozent aller Befragten gaben an, körperliche oder sexuelle Gewalt durch den eigenen Partner erfahren zu haben. Zu körperlicher Gewalt zählt die Studie etwa, wenn Frauen geschlagen, an den Haaren gezogen, geschubst oder mit harten Objekten angegriffen werden. Die meisten gewalttätigen Aktionen geschehen in Beziehungen. Vergewaltigungen durch Fremde, wobei dabei oftmals mehrere Männer beteiligt sind, werden laut der Studie schneller angezeigt. Jede 20. Frau gab an, Opfer einer Vergewaltigung geworden zu sein - das entspricht einem Anteil von fünf Prozent oder hochgerechnet einer absoluten Zahl von etwa neun Millionen Opfern.
Die Reform des Sexualstrafrechts in Deutschland ist daher ein aktuell herausragend wichtiges Gesetzesvorhaben. In der Vergangenheit haben gerade diese Reformen sehr lange gedauert. Bestes Beispiel sei die Strafbarkeit der Vergewaltigung innerhalb der Ehe. Die SPD hat einen ersten Gesetzentwurf 1972 eingebracht - die erfolgreiche Abstimmung im Parlament geschah erst im Jahr 1997, 25 Jahre später. Das dürfe sich nicht wiederholen.
Mechthild Rawert berichtete über ihr Engagement im Parlamentarischen Netzwerk „Frauen frei von Gewalt“ in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Sie ergänzte stolz, dass sie am 12. Mai 2016 eine Veranstaltung des Ausschusses für Nichtdiskriminierung und Gleichstellung des Europarates nach Berlin in den Bundestag geholt hatte. Hier wurde über die Umsetzung der Istanbul-Konvention (gegen Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt) diskutiert. Das Signal dieser Veranstaltung: ein klares „Nein heißt Nein“. Der aktuelle ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung ist ein guter erster Schritt - aber er reicht nicht aus, um „Nein heißt Nein“ durchzusetzen. Nun sei sie aber zuversichtlich, weil die CDU/CSU ihren Widerstand aufgegeben hat, alle stehe für einen Wandel Richtung „Nein heißt Nein“.
Großes Interesse an der Situation der Geflüchteten
Wie lange wolle die Bundesrepublik weiterhin Geflüchtete aufnehmen, wollte eine Schülerin wissen. „Weiterhin dauerhaft“, sagte Mechthild Rawert. Im Grundgesetz ist das Recht Asyl - vgl. u.a. Artikel 16a - verbindlich geregelt. Über ein Integrationsgesetz wird zurzeit im Bundestag debattiert. Wichtig sind gezielte Investitionen in (Aus-)Bildung. Aktuell seien bundesweit mindestens 220.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche in das Bildungssystem zu integrieren. Dies verursache zwar kurzfristig große Investitionen, jedoch seien diese langfristig sinnvoll für den künftigen Wohlstand in Deutschland. Diese Investitionen sind nicht „nur“ Investitionen in die Menschlichkeit.
Mechthild Rawert sprach für ein Einwanderungsgesetz aus, damit eine gesteuerte Einwanderung möglich sei. Einwanderung ist hinsichtlich der demographischen Entwicklung unausweichlich. Gerade aus ihrer pflegepolitischen Tätigkeit wisse sie, dass wir zukünftig in der Pflege auch noch mehr qualifizierte Pflegefachkräfte brauchen werden. Mit einem Einwanderungsgesetz soll die Attraktivität Deutschlands für qualifizierte EinwandererInnen gesteigert und unsere zersplitterten und unübersichtlichen Einwanderungsvorschriften übersichtlicher gestaltet werden. Wir sollten viel stärker und häufiger fragen: Was kann jemand und nicht woher kommt jemand.
Wie könnten die Qualifikationen der Geflüchteten besser anerkannt und deren Expertise besser genutzt werden, wurde die Politikerin gefragt. In Deutschland gäbe es bereits ein Anerkennungsgesetz des Bundes, mit dem Verfahren zur Bewertung ausländischer Berufsqualifikationen im Zuständigkeitsbereich des Bundes zur Anwendung kommen. Auch Berlin hat sein Anerkennungsgesetz. Jeweils wird geklärt, ob ggf. noch in Teilbereichen nachqualifiziert werden muss oder ob eine berufliche Gleichstellung bereits existiert. Zur Illustration wieder das Beispiel Pflege: Die Ausbildung in Deutschland ist in der Regel eine dreijährige, im EU-Ausland aber ein Studium. Geflüchtete Menschen sehen zumeist ihre gelingende Integration dann gegeben, wenn sie arbeiten gehen können.
Eine Schülerin aus Brandenburg zeigte sich besorgt über die Qualität der Geflüchteteneinrichtungen. Rawert riet ihr, sich mit der jeweiligen Stadtverwaltung bzw. den PolitikerInnen vor Ort in Verbindung zu setzen. Sie könne leider nur über die Qualität der Berliner Einrichtungen sprechen, weil sie sich jeweils vor Ort vielfach informiert habe. Ohne die zahlreichen „...Hilft“-Initiativen aus der Zivilgesellschaft würde vieles schlechter laufen. Den freiwillig Engagierten gebührt ein großer Dank.
Jede Form des Engagements stellt einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft dar
Mechthild Rawert hielt ein Plädoyer für hauptamtliches und ehrenamtliches bürgerschaftliches Engagement. Aus ihrer Arbeit als Erste Zentrale Frauenbeauftragte der Charité - Universitätsmedizin Berlin sowie als zweimalige Betriebsratsvorsitzende wisse sie, dass Mitbestimmung von ArbeitnehmerInnen und GewerkschafterInnen unbedingt notwendig und für einen erfolgreichen Kurs eines Unternehmens bzw. einer Organisation auch entscheidend ist.
Fragen über das Gesundheitssystem in Deutschland
Natürlich wollten die SchülerInnen auch meht über Gesundheitsthemen erfahren, so z.B. zur Qualität unseres Gesundheitssystem Es gibt immer wieder viele Änderungen, um die Qualität laufend für alle zu verbessern. Zum Beispiel durch das vor einigen Monaten verabschiedete Krankenhausstrukturgesetz. Debattiert wird auch eine Reform der MedizinerInnenausbildung, Studierende sollen schon früher als bisher ein Kontakt zu PatientInnen bekommen. Aktuell sei es auch so, dass tendenziell eher Frauen ein medizinisches Studium absolvieren und es seien auch die Frauen, die tatsächlich in der PatientInnenversorgung aktiv bleiben. Männer dagegen wandern tendenziell eher in andere, z.B. den journalistischen oder lehrenden Bereich ab. Sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich brauchen wir viel mehr Menschen, die in einem Gesundheitsberuf tätig sind - gerade angesichts der demographischen Entwicklung.
Auf die Frage, ob die Zweiklassenkrankenversicherung - die gesetzliche und die private Krankenversicherung ist gemeint - immer noch sinnvoll sei, erklärte Rawert, dass sie voll und ganz für die soziale Bürgerversicherung (also eine Einklassenversicherung!) eintrete. Die BürgerInnenversicherung werde wesentlicher Kern des kommenden Bundestagswahlkampfes werden.
Sollten Kinder und Jugendliche Blut spenden dürfen?
Warum können Kinder und Jugendliche kein Blut spenden? Vorgesehen ist, dass mensch mindestens 18 Jahre alt sein und höchstens 72 Jahre sein darf. Kinder und Jugendliche befinden sich noch im Wachstum, eine Blutabnahme sei daher nicht sinnvoll, erklärte die Gesundheitspolitikerin auf die Frage. Für einen wirklichen Skandal halte sie es, dass Homosexuelle in Deutschland ganz pauschal noch immer kein Blut spenden dürften.
Mechthild Rawert zeigte war sichtlich erfreut über das rege Interesse der Jugendlichen an aktuellen politischen Themen und wünschte ihnen für ihre Zukunft auf ihrem weiteren Lebensweg alles erdenklich Gute.